Von Elocina

Offenbar gibt es in einigen Regionen ein gesellschaftlich vertretenes Ideal von einem „guten“ Leben. Dennoch leiden bedenklich viele Menschen, obwohl sie mit aller Kraft diesem Ideal zu entsprechen versuchen. Entscheidend ist, aus welcher Motivation heraus das Lebensmodell gewählt wird.

Ich bin noch keine 30 Jahre alt. Ich strebe weder die Ehe, ein eigenes Haus, noch eine blühende Karriere an. Ich fühle mich nicht in meinem Selbstwert herabgesetzt, weil ich nicht Vollzeit arbeiten möchte. Mein Leben ist nicht auf Aufbau und Erhalt ausgerichtet, sondern auf Lebendigkeit, Neugierde und Selbstverwirklichung.

Mit dieser Einstellung bin ich sicher nicht allein. Viele Menschen begeben sich auf die Reise zu ihrer wahren Natur, verzichten teilweise auf äußere Sicherheit und gewinnen an Lebensfreude und Vertrauen. Viele jüngere und ältere Menschen haben bereits erkennen können, was ihnen im Leben wichtig ist. Der springende Punkt ist dabei, ob es sich um eine verstandesmäßige Erkenntnis, oder vielmehr um eine gefühlte Erfahrung handelt.

Die Wahl des Lebensmodells…

Dort wo ich herkomme, nämlich einer dörflichen Gegend in Sachsen, gibt es eigentlich nur ein akzeptiertes Lebensmodell: gleich nach der Schule eine Ausbildung machen bzw. ein Studium beginnen, gleichzeitig den Partner fürs Leben finden, heiraten, ein Haus kaufen oder bauen und Kinder bekommen. Danach zeitnah die berufliche Laufbahn weiterverfolgen, um sowohl Kredit als auch Status bedienen zu können. Für den einen Menschen bedeutet dieser Lebensweg womöglich die  pure Erfüllung und er ist mit ganzem Herzen bei der Sache. Dieser Mensch wird sich wohl fühlen, denn er hat sich bewusst für diesen Lebensweg entschieden.

Und dann gibt es doch ziemlich häufig die Menschen, die dieses Lebensmodell gewählt haben, „weil es alle anderen eben auch so machen“. Sie beklagen sich oft über die finanzielle Situation, den beruflichen Stress, den Ärger mit dem Haus, körperliches und psychisches Unwohlsein und die Angst vor der Rente (bevor sie überhaupt 40 sind). Sie sind beruhigt, wenn andere sich den Kummer anhören und mitteilen, dass es ihnen ähnlich geht. Jeder gut gemeinte Rat hinsichtlich einer situationsverbessernden Veränderung wird gleich abgetan mit „ja, wenn ich so viel Zeit hätte wie du, würde ich mich auch um neue berufliche Perspektiven bemühen können“ oder „ja, aber hier auf dem Dorf ist das alles nicht so einfach“. Die Palette an Ausreden ist schier endlos. Das  entstandene Leid ist es ebenso. Und es wird oft auf die nachfolgende Generation übertragen in Form seltsam anmutender Glaubenssätze, Ansichten und Erziehungsprämissen.

… ist eine Herzensangelegenheit

Bei nahezu jeder Festlichkeit, zu der ich in meinem ehemaligen Heimatort erscheine, werde ich gefragt, ob mein Freund und ich jetzt heiraten wollen, ob ich schon schwanger bin und wann wir gedenken, ein Haus zu bauen (einige hätten gute Kontakte zu Immobilienmaklern). Ich bin dann manchmal ganz baff, weil viele genau dieses, auch von ihnen gelebte Lebensmodell für das einzig existierende halten, trotz dem sie sich in regelmäßigen Abständen darüber beschweren. Ich sage dann, dass ich erst einmal herausfinden möchte, was ich wirklich von Herzen möchte. Bei Wenigen stoße ich dabei auf Akzeptanz. Diese Wenigen sind oft genau die, die ihr Lebensmodell aus einem Herzenswunsch heraus gewählt haben und voll hinter ihren Entscheidungen stehen. Die Meisten suggerieren mir, dass ich mir dafür offensichtlich schon genug Zeit genommen habe und jetzt endlich mal etwas durchziehen muss. Diese Leute zählen eher zu denjenigen, die ihr Lebensmodell aus dem Grund „alle anderen machen es doch auch so“ wählten. Manchmal bezweifle ich, ob tatsächlich noch ein Gespür für die eigenen Bedürfnisse und Wünsche vorhanden ist.

Krisen als Chance

Oft ist es dann eine Krankheit, eine Scheidung oder ein Zusammenbruch, der die Menschen zwingt, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Und diese Krisen werden überaus gefürchtet, zumal sie den bisherigen Lebensweg massiv infrage stellen. Einige erwach(s)en aus diesen Zuständen und nutzen die Chance auf eine neue Lebenseinstellung. Viele halten an ihren Mustern mit aller Macht fest und sind sehr erfinderisch, um ihren alten Gewohnheiten weiterhin fröhnen zu können.

Auch ich habe eine saftige Krise benötigt, um mein Lebensmodell und alle dazu gehörenden Einstellungen zu hinterfragen und mich für meine wahren Herzenswünsche zu öffnen. Und immer noch sind es kleine Krisen, die anzeigen, wenn ich nicht mehr mit ihnen übereinstimme, sondern rein verstandesmäßig erledige, „was gemacht werden muss“. Es ist ein holpriger Weg vom Kopf ins Herz, aber lohnend ist er allemal. Überhaupt gilt es, eine Balance zu finden zwischen diesen beiden Polen, die doch untrennbar miteinander verbunden sind. Und sicher gibt es immer wieder Situationen im Leben, wo dieses Gleichgewicht empfindlich ins Wanken gerät. Es lohnt sich dennoch darauf zu vertrauen, dass jede Lebensphase ihre Geschenke enthält, auch wenn sie auf den ersten Blick nicht erkennbar sind. Und so wird sich die Einstellung zum eigenen Lebensmodell oft verändern und zu neuem Handeln auffordern. Denn Leben ist ein Prozess, der niemals abgeschlossen ist, sondern ständig fließt.

 

Über den Autor

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Elocina ist studierte Soziologin und Gesundheitswissenschaftlerin. Sie ist hochsensibel und beschäftigt sich mit verschiedenen Ansätzen zur Erhaltung ganzheitlicher Gesundheit. Es ist ihr eine Herzensangelegenheit, dass sich Menschen mit Trauma und Hochsensibilität liebevoll annehmen können und in ihrer Einzigartigkeit gesellschaftlich akzeptiert fühlen. Gern gibt sie ihr Wissen weiter.



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