von Anne Dänner und Dieter Halbach

Die Demokratie ist nicht in Stein gemeißelt. Sie muss ständig weiterentwickelt werden. Im Zentrum sollten dabei die Menschen in ihrer ganzen Vielfalt stehen. Der Verein Mehr Demokratie tritt seit fast 35 Jahren für eine Demokratie ein, mit der sich alle verbunden fühlen und in der sie selbstbewusst und kreativ Einfluss nehmen können. Wie der Verein die Republik verändert hat, wie sich die Arbeit im politischen Feld verändert hat und wie die Demokratie in Zukunft aussehen könnte, erzählen Anne Dänner und Dieter Halbach in diesem Beitrag.

Unsere Geschichte beginnt 1988 in einem Keller-Büro in der ehemaligen Bundeshauptstadt Bonn: Eine Handvoll junger engagierter Menschen fassten damals den Entschluss, die Republik zu verändern. Statt nur alle vier Jahre ihre Stimme in der Wahlurne zu versenken, wollten die Gründerinnen und Gründer der IDEE (Initiative Demokratie Entwickeln) auch zwischendurch mit Volksentscheiden politisch mitgestalten – und trauten das auch allen anderen Menschen zu. In einem Land, dass angesichts des Nationalsozialismus „das Volk“ eher skeptisch beäugte, war dieser Gedanke geradezu revolutionär.

Transformation Nr. 1: Vom Zuschauen zum Mitmachen

Und tatsächlich haben sie die Republik verändert: Die Organisation, die sich später in „Mehr Demokratie“ umbenannte, fand weitere Aktive, sammelte Unterschriften in einzelnen Bundesländern, organisierte Medienberichte und Aktionen, führten Gespräche mit der Politik. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Heute kennen alle Bundesländer Volksbegehren auf Landesebene und Bürgerbegehren auf Gemeindeebene – in den Kommunen haben mittlerweile rund 8.000 Bürgerbegehren stattgefunden. Auf Landesebene gab es inzwischen rund 400 Volksinitiativen und immerhin 25 direktdemokratische Abstimmungen. Die Regelungen sind noch immer sehr unterschiedlich und in einigen Ländern zu bürgerunfreundlich. Aber ein großer Schritt vom Zuschauen zum Mitmachen in der Politik war getan.

Viel bewegt – und doch nicht alles erreicht

Was in den Ländern funktioniert, sollte doch auch bei den großen Fragen auf Bundesebene möglich sein. Immer wieder rückte die Einführung bundesweiter Volksabstimmungen in greifbare Nähe – und wurde dann durch die etablierte Politik verhindert. Jahrzehntelang war die CDU der Bremsklotz, der die im Bundestag notwendige Zweidrittelmehrheit blockierte. Doch auch das „Ja“ anderer Parteien zu mehr direkter Demokratie stand auf wackligen Füßen. Zuletzt so geschehen nach der Bundestagswahl 2017: Nachdem ein breites gesellschaftliches Bündnis gefordert hatte „Jetzt ist die Zeit – Volksentscheid!“, stand die direkte Demokratie bereits im Entwurf des Koalitionsvertrags. Und wurde dann eingedampft auf eine wirkungslose Expertenkommission.

Große Krisen, neue Fragen

Uns wurde klar, dass der Boden, auf dem wir den bundesweiten Volksentscheid zu säen versuchten, alles andere als fruchtbar war. Spätestens seit der Wahl Donald Trumps und dem Wiederaufstieg des Populismus in ganz Europa erleben wir eine Vertrauenskrise: Menschen trauen ihren Mitmenschen nicht mehr, die Politik misstraut „dem Volk“ und das Volk „denen da oben“. Verschärft durch eine ganze Reihe von Krisen und verursacht durch eine grundlegende gesellschaftliche Erosion, ist auch die Demokratie selbst in eine Krise geraten. Bei Mehr Demokratie führte das zu neuen Fragen: Wie schaffen wir es als Gesellschaft, die Krisen gemeinsam zu lösen? Und wie schaffen wir es, auch die Leute mitzunehmen, die sich von der Politik verraten fühlen? Wie stärken wir sozialen Zusammenhalt und Dialog?

Transformation 2: Entscheidungen ergänzen durch gemeinsame Lösungssuche

In dieser Situation stießen wir auf ein Demokratie-Experiment in Irland: 100 zufällig ausgeloste Menschen, ein Querschnitt der Bevölkerung, hatten dort über einen längeren Zeitraum hinweg in „Citizens‘ Assemblies“ brennende politische Fragen beraten. Die Vorschläge, die sie vorlegten, etwa zum Thema Schwangerschaftsabbrüche oder Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, waren so überzeugend, dass sie nicht nur von der Politik übernommen, sondern auch per Volksabstimmung bestätigt wurden. Das wollten wir auch in Deutschland ausprobieren. Die ersten beiden Bürgerräte zu den Themen „Demokratie“ und „Deutschlands Rolle in der Welt“ hat Mehr Demokratie gemeinsam mit Partnern selbst organisiert. Bei beiden Bürgerräten waren die Teilnehmenden ebenso berührt wie die beobachtenden Medien, Wissenschaft und Politik: Menschen, die sonst nie miteinander gesprochen hätten, ganz unterschiedlich nach Alter, Herkunft, Geschlecht, Bildung und Lebensumfeld, saßen in kleinen Runden zusammen und fanden gemeinsam Lösungen zu politischen Fragen.

Der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble übernahm die Schirmherrschaft und der Bundestag begleitete das Ganze interessiert. Drei Jahre, nachdem wir das erste bundesweite Bürgerrats-Experiment gestartet haben, stehen Bürgerräte im Koalitionsvertrag! Derzeit wird der finanzielle und organisatorische Rahmen dafür geschaffen, dass zukünftig offiziell beauftragte Bürgerräte stattfinden können. Zur Idee der Souveränität der einzelnen Menschen, die in Volksinitiativen oder -abstimmungen mündet, war die Idee der Ko-Kreation, der gemeinsamen Debatte und Lösungsfindung hinzugekommen.

Transformation 3: Demokratische Kultur wird zur Kernfrage

Und noch etwas ist in den letzten Jahren immer deutlicher geworden: Demokratie ist keine reine Kopfsache. Sie wird von Faktoren wie Emotionen, Beziehungen, Überzeugungen und Wahrnehmungsmuster ebenso beeinflusst wie durch Gesetze, Verordnungen und Gremien. Solange wir nur an den Strukturen arbeiten, werden wir Probleme wie die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft oder das anhaltende Misstrauen gegen „die anderen“ nicht lösen. Denn Vertrauen und Wertschätzung lassen sich eben nicht regeln oder verordnen. Wir brauchen eine entsprechende politische Kultur und diese muss entwickelt, gelebt und erfahren werden.

Transformation 4: Den ganzen Menschen einbeziehen

„Das Gespräch ist die Seele der Demokratie“ ist eine zentrale Aussage von Mehr Demokratie. Doch was ist eigentlich ein gelungenes demokratisches Gespräch? Klar ist, wir sind dabei immer als ganze Menschen beteiligt, mit unseren Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen. Es ist wissenschaftlich vielfach belegt: Entscheidungen und Meinungen entstehen nicht nur rein rational, sie entstehen emotional und durch das soziale Umfeld. Um zu rationalen Entscheidungen zu kommen, braucht es also auch emotionale Bewusstheit.

Mehr Demokratie erprobt derzeit verschiedene Formate:

Mit Systemaufstellungen zur Demokratie haben wir ein Format entwickelt, das Menschen aus Zivilgesellschaft, Politik und Verwaltung hilft, zu neuen Einsichten und Handlungsmöglichkeiten zu kommen. In diesen Aufstellungen verkörpert eine Person ein Element, z.B. „die Gewählten”, “die Bevölkerung”, “direkte Demokratie”, “die Klima-Bewegung”, “ein politisches Ziel”. Sie spricht und bewegt sich stellvertretend für diese Elemente und die Elemente treten in Beziehung zueinander. So werden Zusammenhänge benennbar und neue Handlungsansätze erkennbar.

Mit dem Forschungsprojekt „Trauma und Demokratie“ haben wir zusammen mit dem Trauma-Experten Thomas Hübl, dem Pocket Project und mehreren hundert Teilnehmenden die meistens unbewussten kollektiven Traumadynamiken in Krisen an Hand unserer eigenen Erfahrungen untersucht. Oft spielen bei gesellschaftlicher Polarisierung – ausgelöst durch aktuelle Ereignisse – auch ungesehene Wunden der Vergangenheit eine Rolle. Negativ-Erfahrungen, wie sie etwa die Weltkriege, Flucht und Vertreibung oder Unterdrückung im eigenen Land hinterlassen haben, beeinflussen uns als Menschen teilweise über Generationen hinweg. Eine traumainformierte Politik und demokratische Kultur muss lernen diese unbewussten kollektiven Dynamiken zu erkennen und für Verständigung zu sorgen.

Das vielleicht prägendste neue Gesprächs- Format der letzten Monate funktioniert ebenso simpel wie es heißt: „Sprechen & Zuhören“. Wir bieten einen geschützten Raum, in dem jede anwesende Person zu Wort kommt, unabhängig von Position und Redegewandtheit. Alle haben gleich viel Redezeit und während die eine Person spricht, hören die anderen nur zu. Es wird nicht gewertet, kommentiert und debattiert. Es geht nicht um den in der Politik üblichen Schlagabtausch, sondern zunächst um gegenseitige Wahrnehmung und Akzeptanz.

Eine gewisse Sprachlosigkeit angesichts von Corona gab die Initialzündung dafür. Im Kreis der Mitarbeitenden, aber auch in unseren persönlichen Umfeldern erlebten wir, dass Positionen gegeneinandergestellt wurden, Aggressionen hochkamen oder teilweise ganz geschwiegen wurde. Die neuen Austauschräume, in denen die Wahrnehmungen und Empfindungen der einzelnen zunächst einfach nur gehört wurden, wirkten hier wie eine Erleichterung. Die Hoffnung ist, dass solche Gesprächsräume helfen, auch in Konflikten und Krisen eine Verbindung zu anderen und andersdenkenden Menschen aufrecht zu erhalten. Auf dieser Ausgangsbasis kann dann eine gute Faktendebatte und auch die gemeinsame Lösungssuche stattfinden.

Für eine vollständige Demokratie

In unserem neu entstehenden Bereich „demokratische Kultur“ möchten wir auch vermehrt künstlerische Formate entwickeln. Denn auch die Kunst vermag es den Menschen ganzheitlich anzusprechen und Inhalte tiefer erfahrbar zu machen. Dafür haben wir z.B. 2021 im Rahmen unserer Debatten- und Informationsplattform “Die Klimadebatte” ein politisches Musik-Experiment gestartet.

Die Kultur geht der Struktur voraus. Unser Wunsch ist, dass die äußeren Strukturen nicht nur anders, sondern besser im Sinne von zukunftsfähiger und menschlicher werden. Wir gehen davon aus und erleben immer wieder, dass mit einem solchen vollständigen Ansatz die Weiterentwicklung der Demokratie erfolgversprechender und nachhaltiger funktioniert. Gerade in Krisen ist es eine Voraussetzung für angemessene Lösungen und ein gutes Zusammenleben, dass gesellschaftliche Fragmentierung überwunden wird. In Zeiten der Individualisierung, wo traditionelle Bindungen und moralische Institutionen wegbrechen, müssen wir als Gesellschaft uns neu orientieren. Eine demokratische Verbundenheit in unserer Vielfalt herzustellen, kann aber nur durch eine grenzüberschreitende Kommunikation gelingen. Eine Kultur, die geprägt ist von gegenseitigem Vertrauen, Dialog, Wertschätzung und Co-Kreativität ist dabei mehr als die Kirsche auf der Torte – sie ist der Ausgangspunkt, die Essenz der Torte, das Wesen der Demokratie.

 

Mehr Infos zum Verein: www.mehr-demokratie.de

Hier ein Vortrag von Anne Dänner und Dieter Halbach zum Thema Politik und Emotion: www.youtube.com/watch?v=bdVkn5gqzOE

 

Autorin-Info:

Anne Dänner
Kulturwissenschaftlerin
Leitung der Öffentlichkeitsarbeit bei Mehr Demokratie
Yogalehrerin

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