– eine tiefe und naturverbundene, lebensnahe Philosophie

Traumreisen zu inneren Heilplätzen und Meditieren im Wald, die Entdeckung anderer Rhythmen in Langsamkeit und ausgeweitetem Bewusstsein – ein Seminar in der Wildnisschule wartet mit ungewöhnlichen Erfahrungen auf. Wir-Redakteur Jens Heisterkamp hat sich auf das Abenteuer eingelassen.

Es sind Menschen unterschiedlichster Herkunft und Motivation, die hier im „Teutocamp“ zusammentreffen. Sie kommen aus pädagogischen Berufen oder sie sind einfach nur auf der Suche nach Antworten auf Lebensfragen. Das passt gut, denn die vor uns liegende Woche steht unter dem Motto „Philosophie“, was hier allerdings nicht die Auseinandersetzung mit großen Texten bedeutet, sondern den Versuch meint, im Buch der Natur zu lesen und den großen Zusammenhang von allem zu finden.

Dazu dienen vor allem die morgendlichen Einführungen, die Gero Wever, Gründer der Wildnisschule am nächsten Morgen im Seminarraum beginnt. Ohne im strengen Sinne systematisch zu sein, versucht er von immer neuen Seiten aus unseren Sinn dafür zu wecken, dass der Geist in allem wirkt. Die indianische Weisheit, auf die sich die Wildnisphilosophie stark bezieht, differenziert diese Einheit in Form von „vier Welten“. Die erste ist die physisch-materielle Welt, die wir mit den äußeren Sinnen wahrnehmen; dahinter aber steht eine elementarische Welt der Kraft, die alles mit Leben und Zusammenhang durchzieht. Dahinter (oder darinnen) wirkt die spirituelle Welt, die Welt der Geister. Die tiefste und umfassendste Sphäre bildet schließlich das, was als „Welt der Leere“ bezeichnet wird. Auch im Buddhismus, dem Hinduismus oder der Anthroposophie wird eine ähnliche „Vierheit“ der Welt gelehrt – einmal mehr staune ich über die tiefe Übereinstimmung der Weisheitstraditionen und fühle mich gleich etwas mehr zuhause.

Der ehemalige Sportlehrer kam durch Seminare des Amerikaners Tom Brown in den USA mit der Wildnis-Philosophie in Berührung und begann selbst 1998 Wildnisthemen in Deutschland zu unterrichten. Tom Brown war seit seinem achten Lebensjahr für viele Jahre von einem Apache-Ältesten unterwiesen worden und gilt als Gründervater der heutigen Wildnisphilosophie. Immer wieder erinnert Gero Wever an Situationen oder Aussprüche seines Mentors, der ihn tief geprägt hat und dessen Methode er schätzt: Lehren durch Beispiel und Tun, nicht durch Reden. Wenn Gero doch einmal redet, dann klingt das nie wie Ausgedachtes oder Angelerntes, sondern man spürt seine Verbindung mit einem größeren Ganzen durch die Worte hindurch. Etwa, wenn er erklärt, was für ihn Wildnis bedeutet: Nichts Spektakuläres und nichts, für das man erst tausend Kilometer in abgelegene Weltgegenden reisen muss. „Wildnis beginnt im Kopf und ist eine Frage der Haltung“, so Gero Wever.

Durch die Vorstellungen vom „Überleben Müssen“ tragen viele Menschen eine Art Kampfstimmung in das Verhältnis von Mensch und Natur – das Gegenteil ist in der Weisheit der Naturvölker der Fall, wo uns die Natur als Ausdruck unseres eigenen Selbstes entgegentritt. Auch das bei vielen Ökologen etablierte Bild des Menschen als schädlichem Störfaktor in der Welt teilt die Wildnisphilosophie nicht: „Wir sind als Menschen nicht allein die Zerstörer, wir können auch die Hüter und Bewahrer sein“, erklärt Gero Wever. „Dazu ist aber die Fähigkeit wichtig, sich hinzugeben und sich einzulassen.“ Ein wichtiger Schritt dazu besteht darin, den Verstand, der sonst den größten Teil unseres Lebens beherrscht, zum schweigen zu bringen und sich für die Sprache des Unterbewussten zu öffnen, wo die „innere Stimme“ weit mehr von den großen Zusammenhängen weiß, als unser Alltagsbewusstsein zulassen kann. Mehr als einmal endet eine längere Ausführung von ihm mit der Bemerkung: „Vielleicht ist alles auch ganz anders. Wir wissen es nicht.“

Der starke Bezug zu indianischen Wurzeln will mir anfangs nicht ganz einleuchten – ist das nicht ein etwas exotischer „Import“ und gibt es nicht auch in Europa Wurzeln von Naturspiritualität? „In Deutschland sind die Wurzeln zu einer spirituellen Vergangenheit durch die Katastrophe der Nazi-Zeit nicht nur abgeschnitten, sondern ganz zerstört“, erklärt Gero Wever. „Was ich an den indianischen Quellen faszinierend finde ist, dass sie nicht nur philosophische und mystische Ansätze bieten, sondern ganz konkrete Übungen.“

Sitzen am Kraftplatz

Eine dieser elementaren Übungen im Freien besteht darin, die Beziehung zu einem persönlichen Kraft-Platz aufzubauen, dem sogenannten „Sit-Spot“. Die Herausforderung, das übliche Verstandesdenken zu unterlaufen, beginnt schon bei der Suche: nicht irgendwelchen ausgedachten Kriterien zu folgen, sondern der Intuition, die mir ohne lange Überlegung einen Platz zeigen wird, der zu mir passt. Auf diesen Platz werden wir uns immer wieder während der ganzen Woche zurückziehen.

Als ich in der zweiten Nacht allein auf meinem Sit-Spot sitze, wird mir ganz unerwartet angenehm wohl und vertraut zumut. Bei Temperaturen um den Gefrierpunkt gut eingepackt sitze ich am Fuß einer hohen Fichte, das trockene Laub unter mir beginnt nach kurzer Zeit die Wärme meine Beine zu reflektieren. Ich schließe die Augen und lasse alles von mir abfallen, spüre nur diesen besonderen Moment. Innerlich geht mein Blick an dem Stamm hoch, ich sehe das Stück Wald, in dem ich sitze, der Blick zoomt wie bei Google Earth in die Höhe, ich sehe die Region, das Land, den Kontinent, die Erde – und fühle mich selbst irgendwo da unten sitzen. Ein winziger Punkt, verschwindend klein, aber gerade so wie er ist eben doch Teil eines Ganzen. Ich spüre, dass ich von diesem Ort aus real mit der ganzen Erde verbunden bin – und auch mit sehr vielen Menschen. Ein tiefes Gefühl von Dankbarkeit überkommt mich, diese Erfahrung machen zu dürfen. Als ich nach der Meditation die Augen öffne, meine ich lauter silberne Gegenstände auf dem Waldboden liegen zu sehen: es ist aber nur das reflektierende Licht des Mondes, der inzwischen hinter dem Waldhang aufgegangen ist. Ich fühle mich wie im Märchen vom Sterntaler.

Im Laufe des dritten Tages habe ich mich – unterstützt durch zusätzliche warme Kleidung – an die Kälte gewöhnt und empfinde es mittlerweile als normal, mehr draußen zu sein als drinnen. In den Pausen zwischen den Übungen arbeiten wir an einem Werkstück, auch das im Freien. Der Alltag fällt von mir ab, das Mühlrad im Kopf ist zum Stillstand gekommen. Ich weiß jetzt, dass ich diese für mich besonderen Umstände nicht nur durchstehen werde, sondern dass sie mir ungemein gut tun. Plötzlich ertappe ich mich dabei, wie ich einfach nur froh darüber bin, am warmen Feuer zu sitzen und in die Flammen zu schauen. Die Gemeinschaft mit den anderen Teilnehmenden ist äußerst angenehm, man muss nicht viel von sich erzählen, sondern lernt sich durch die Übungen und das intensive Beisammensein kennen. Ich muss nicht reden, nichts machen, mich nicht produzieren, nichts planen oder organisieren, alles ist gut so wie es gerade ist. Ich weiß nicht, wann ich mich zuletzt so gegründet und so frei gefühlt habe.

Gemeinsam begibt sich die Gruppe auch regelmäßig auf innere, meditative Reisen. Eine davon führt uns an den persönlichen inneren Heilplatz, den es für jeden Menschen gibt, der bei jedem anders ist und an den man sich, einmal gefunden, immer wieder zurückziehen kann. Als von Natur aus skeptischer Mensch zweifle ich anfangs, ob es einen solchen inneren Ort gibt und ob es sich dabei um mehr handeln kann als um ein Phantasiegebilde. Das wiederholte Gehen an diesen Ort überzeugt mich indessen von seiner Existenz, es bilden sich feste Elemente und eine bestimmte Umgebung entsteht, die bei jedem „Gang“ bleibt – ein schöner Ort, der sich mir da gezeigt hat.

Elementare Übungen

Eine weitere Basis-Übung ist die Bewegung in der 180-Grad-Perspektive. Zur Verdeutlichung strecken wir unsere Arme so weit aus, dass wir es am Rande unseres Wahrnehmungsfeldes gerade noch bemerken, wenn unsere Finger sich probeweise bewegen. Es ist eine vollkommen andere Wahrnehmungsweise als die gewohnte, auf einen wechselnden Punkt konzentrierte, die wir sonst einnehmen. Kein gerichteter Fokus mehr, sondern aufgefächerte, empfängliche Aufmerksamkeit über den gesamten Gesichtskreis. Dabei verändert sich auch das gewohnte kontrahierte Ich-Gefühl, das üblicherweise der zentrierten Wahrnehmung nach außen korrespondiert.

Mit diesem „Weitwinkel-Bewusstsein“ ausgestattet sollen wir dann durch den Wald gehen – und uns zusätzlich vorstellen, dass etwa alle zehn Meter ein Nebelschleier unseren Weg kreuzt, den wir durchschreiten. Das alles bei Einbruch der Dämmerung und im Modus des „Fuchsgangs“, einer besonderen, achtsamen Form der Fortbewegung.

„Ich wusste, so muss es sich anfühlen, wenn alles ein ist“, erzählt eine Teilnehmerin, als wir aus dieser traumartigen Wahrnehmungsübung zurückkommen und uns über unsere Erfahrungen austauschen. Viele berichten darüber, dass sie Tiere in der Nähe wahrgenommen hätten. Auch ich selbst hatte den Eindruck, dass mir ein Tier genau an der Grenze meines 180-Grad-Schirms folgte. „Wer diese Erfahrung gemacht hat, will keine Drogen mehr“, scherzt Gero Wever angesichts dieser Schwellenerfahrung zwischen physischer Welt und der Welt der Kraft.

Der Anfang von etwas

Natürlich ist eine Woche viel zu kurz, um auch nur annähernd in die Wirklichkeit hinter dem Schein einzutreten, geschweige denn, sich in dieser neuen und doch urvertrauten Welt selbständig zu bewegen. Die Möglichkeiten des Empowering, mit der wir die Abschottung von der wahren Wirklichkeit durchbrechen und die Wirklichkeit mit erzeugen, die wir wollen, sind unerschöpflich. Wer die Techniken beherrscht und vorbei an den Grenzen seines Verstandes Zugang zur inneren Stimme findet, der kann sogar Kontakt mit anderen Wesen und entfernten Menschen aufnehmen. Er kann vor allem aber auch – jenseits seines Ego – mit Hilfe der Natur Antworten auf Fragen finden, die ihn gerade brennend bewegen: „Wenn Dir in einem bestimmten Moment ein Blatt aufs Knie fällt – das ist es“, sagt Gero Wever.

In den Kursen der Wildnisschule lernt man, was man elementar zum Leben braucht: Wasser und Nahrung, Schutz und ein Feuer. „Frage nicht, was du willst, sondern was du brauchst. Alles andere ergibt sich“, meint Gero Wever. Am Ende der Woche weiß ich: Das Einlassen auf das Elementare und Ursprüngliche führt uns tatsächlich zum Wesentlichen, zum Ganzen und zu uns selbst. Wenn wir uns das auch in unserer städtischen Alltagsumgebung, im Supermarkt und am Schreibtisch immer wieder klarmachen können, wird das unabsehbare Konsequenzen für unsere gesellschaftliche Zukunft haben.

Dankbar steige ich am Ende in mein Auto, denn um ein Haar wäre alles schon gleich am Anfang vorbei gewesen: So verwies mich nach meiner Ankunft im „Teutocamp“, ein freundlicher Mensch mit Vollbart auf meine leicht unsichere Frage nach den Waschmöglichkeiten darauf, dass es draußen eine Quelle gäbe, die hätte auch im Winter immer sieben Grad. Ansonsten gäbe es hier nichts außer dem kleinen Waschbecken mit Kaltwasser im Klo. Als ich dann noch sah, dass der gute Mann bei Temperaturen knapp über null barfuß war, überkam mich ein Fluchtinstinkt, noch bevor ich meinen Rucksack richtig abgesetzt hatte. Na, eine Nacht werde ich hier schon überleben, dachte ich mir zu Beginn.

Natur- und Wildnisschule
Gero Wever
05201/735270
info@natur-wildnisschule.de
www.natur-wildnisschule.de

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