oder wie man Leid als Teil des inneren Weges annimmt

Die Suche nach Glück ist eine der größten Motivationen in der spirituellen Szene und darüber hinaus. Gleichzeitig ist es so, dass wir das Leid doch nie ganz hinter uns lassen können. Wir können es bloß einsperren in einen mentalen Käfig, etwa durch eine Überzeugung, dass ich in Zukunft, wenn ich dieses oder jenes erreicht habe, wenn ich meine Blockaden gelöst habe oder wenn ich meine finanzielle Situation unter Kontrolle habe oder oder …, dann frei sein werde von Leid. „Leider“ tritt diese Zeitpunkt nie ein. Warum ist das so? Und warum scheint das Leid ein fester Bestandteil des Lebens zu sein?

„Wenn man lernen möchte mit der Unsicherheit umzugehen, dann ist dafür der Bereich der Psychotherapie zuständig. Wenn man lernen möchte, mit der Unsicherheit nicht mehr umzugehen, sondern sie als Grundlage anzunehmen, dann nennt man das Wahrheitssuche.“ (Krishna Candra: Von der Stille zur Liebe S.3)[1]

Suchen und finden

Unsere Suche nach Glück ist die tiefste Motivation des Lebens und spiegelt sich auf allen Ebenen. Unsere Haut wünscht sich Berührung, die Zunge sucht Nahrung, unsere Emotionen wollen Sicherheit und unser Ego möchte erfolgreich sein. All dies sind Ausdrucksformen der universellen Liebe, dem Stoff, aus dem die Welt gemacht ist. Selbst Atome vereinigen sich und etablieren feste Bindungen, indem sie etwas Essenzielles austauschen, nämlich ihre Elektronen.  (A.Weber S.36ff)[2]

In ihrer reinsten Form kann diese Liebe im Herzen erfahren werden und findet ihren Ausdruck in allen Bereichen des Seins. Wenn zwei Menschen zusammenfinden, so geschieht dies immer aus Liebe. Selbst wenn die Beziehung auf der Alltagsebene zutiefst coabhängig ist, so ist in ihrem Kern Liebe, nur in diesem Fall umgeben von Abhängigkeit und Leid.

Niemand sucht absichtlich nach schmerzlichen Erfahrungen und doch entstehen sie immer wieder auf unserer Suche nach Glück. Eine sehr effektive Methode dieses Leid zu vermeiden, ist, die aktive Suche nach Glück und Erfüllung einzustellen. Wer Augen hat zu sehen, der weiß, wie weit diese Methode verbreitet ist und er weiß auch, dass sie in Dumpfheit endet. Unterhaltung, Drogen und zwanghaftes Beschäftigtsein, also Ablenkungen jeder Art, sind das Mittel der Wahl auf der praktischen Ebene. Es ist wie das Kind mit dem Bade auszugießen. Das Leid ist gebannt und damit aber auch das Glück. Dies ist eine Möglichkeit, mit dem Thema Leid umzugehen – indem ich versuche, es zu kontrollieren.

Schmerz und Heilung

Die Alternative besteht im Annehmen des Leides, also in der Hingabe an das, was ist. Leid und Schmerz sind Hinweise, dass etwas nicht stimmt. Jemand geht zum Arzt oder beginnt eine Therapie, weil er leidet. Das Leid ist damit eine ganz wesentliche Motivation um etwas in Bewegung zu bringen. Ganze Industriezweige leben von der Angst vor dem Tod und dies ist nicht dem Kapitalismus geschuldet, sondern einfach ein Spiegel der Natur des Menschen. Seien wir ehrlich mit uns selbst: So richtig ernsthaft kommen wir dann in Bewegung, wenn etwas Einschneidendes geschieht.

Es gibt Menschen, die nach einer Krebsdiagnose beginnen, ihr Leben rückhaltlos und mutig zu leben. Bei mir persönlich war es eine Kündigung, die meine berufliche Neuorientierung ins Rollen brachte. Die Träume und Pläne hatte ich längst. Auf der körperlichen Ebene ist es wiederum der Schmerz, der unsere Aufmerksamkeit auf die Wunde richtet und damit die Heilung unterstützt, indem er uns in eine Schonhaltung, unter die Bettdecke oder wohin auch immer bringt.

In der coabhängigen Beziehung ist es ebenfalls der Schmerz, der eine Selbsterkenntnis und damit ein persönliches Wachstum in Gang bringen kann. Wenn dies geschieht, dann wird die Liebe bleiben und das Schmerzhafte sich transformieren. Allerdings ist die Heilung eine freiwillige Sache. 

Sich freiwillig dem Schmerz aussetzen

Sich dem Schmerz auszusetzen, ist meistens der Schlüssel zur Heilung. Schmerzmittel oder Antidepressiva, also Mittel gegen seelischen Schmerz, verschleppen das Symptom und die Folge ist ein chronischer Verlauf. Die Konfrontation mit dem Schmerz wird auf der bewussten Ebene meist gefürchtet. Unterbewusst hat der Körper längst erkannt, dass darin die Heilung verborgen liegt, womit sich einige Paradoxien des Lebens erklären lassen:

In Partnerschaften entstehen Streitsituationen zwanghaft aus dem Unterbewussten, indem sie alte Muster aktivieren und uns letztlich zu einer Lösung zwingen: Trennung oder Selbsterkenntnis. Es gibt Männer, die aus gesicherten Verhältnissen kommen und freiwillig in den Krieg ziehen.  Weniger tödlich und dafür etwas weiter verbreitet unter Männern ist Extremsport. Für eine Frau kann die Tatsache Mutter zu werden eine ähnlich existenzielle Situation sein. Was suchen diese Menschen dabei eigentlich?

Allen Beispielen ist eines gemeinsam: Die bisherige Sicherheit endet und bringt eine Konfrontation mit Unsicherheit, Angst oder Schmerz mit sich. Damit eröffnet sich immer auch ein Weg der Transformation. Diese Erfahrung endet im besten Falle damit, ein Stück gewachsen zu sein. Die meisten unserer Mitmenschen erschaffen sich solche Situationen unterbewusst.

Wer erkannt hat, dass Angst und Schmerz ein Tor zur Transformation sind, der geht mehr und mehr darauf zu und beginnt, sich der Herausforderung freiwillig zu stellen. Das ist Weisheit. Das Leben braucht uns nun nicht mehr so heftig in die Mangel zu nehmen, um uns zur Transformation zu zwingen, sondern es lädt uns ein und wir können mit entscheiden, ob und wann wir springen.

Eine therapeutische Begleitung in schwierigen Situationen ist eine wunderbare Hilfe, den eigenen Schmerz erst einmal annehmen zu können. Ohne Hilfe ist es anfangs oft nicht möglich Schmerz zuzulassen und ihn schließlich leibhaftig zu fühlen. Dies sind die wunderbar erleichternden Momente der Therapie, in denen auch Tränen fließen können. Die weitere Heilung geschieht dann oft vom Selbst, d.h. sie kann weiterhin therapeutisch begleitet werden, aber kommt nicht von außen sondern von innen, also von dir selbst.

Der Welt vertrauen

Die krisenhafte Erfahrung des hineingezogen Werdens in Tranformationsprozesse, verwandelt sich hin zu einem Springen, einem Loslassen oder sich Fallenlassen. Jemand, der dies einige Male durchlaufen hat, entwickelt ein gewisses Vertrauen. Der Akt des Loslassens ist ein freiwilliger Kontrollverlust und Vertrauen ist hierbei die Gewissheit, dass man irgendwie von der Welt als Ganzes aufgefangen wird, auch wenn die eigene kleine Welt sich gerade auflöst.

Wer sich diesem Abenteuer aussetzt, der darf etwas sehr Wertvolles erfahren. Aus der Perspektive des Ego erscheint diese Welt als ein Ort des Kampfes, in der zufällig entstandene Kreaturen miteinander um begrenzte Ressourcen kämpfen. Mit den Augen der Liebe betrachtet ist die Welt eine andere: Die Dinge haben einen Sinn, auch wenn er uns manchmal verborgen ist und wir erfahren uns als geliebt und getragen von Mutter Natur und unseren Mitmenschen.

Dass die Welt ein liebevoller Ort sei, ist zunächst eine rein philosophische Behauptung. Um diese in eine gelebte Erfahrung zu verwandeln, bedarf es der Hingabe. Ein Weg in die Hingabe ist die freiwillige Konfrontation mit dem Schmerz und dem, was er uns zeigen möchte. Dadurch, dass wir dann mutig das tun, wovon wir wissen oder ahnen, dass es für uns an der Zeit ist, geschieht das Wunder der Hingabe. Die Welt verwandelt sich von einem Ort des Kampfes zu einer Umgebung, der wir mehr und mehr vertrauen dürfen.

Über Vertrauen

Vertrauen ist damit nicht ein Resultat unserer frühkindlichen Prägungen. Dieses Urvertrauen ist lediglich unserer Startkapital im Spiel des Lebens. Das kann anfangs durchaus unterschiedlich sein. Aber es kommt darauf an, was du im Laufe Deines Lebens daraus machst. „Vertrauen kommt von Vertrauen.“ sagt eine indische Weisheit. Es geht um den mutigen Einsatz des eigenen Vertrauens und um den Kontakt mit Menschen, die gleiches tun. Jemanden zu kennen, der der Welt vertraut und seinen Weg geht, kann sehr inspirierend sein und dessen Erfahrungen können Dich selbst von einigen Fehltritten bewahren.

Das Leben ist ein Abenteuer und da kannst Du dir durchaus eine blutige Nase holen. Auch wenn es vielleicht einen Teil in Dir gibt, der nicht älter wird und auch nicht stirbt, also Dein Selbst oder Deine Seele, so ist das Leben durchaus echt und riskant. Wenn Du nicht aufpasst, musst Du deine Lektion wiederholen.

„… Das unbeständige Erscheinen von Glück und Leid und ihr Verschwinden im Laufe der Zeit gleichen dem Kommen und Gehen von Sommer und Winter. Sie entstehen durch Sinneswahrnehmung … und man muss lernen, sie zu dulden, ohne sich verwirren zu lassen.“ (Bhagavad Gita 2.14)[3]

Weisheit ist die richtige Mischung aus Mut und Vorsicht, die dann in die Tat umgesetzt wird. Das verbleibende Restrisiko musst du verantwortungsvoll selbst für dich tragen. Ein möglicher Ausgangspunkt dieser Reise ist die freiwillige Konfrontation mit deinem Leid und deinem Schmerz. Das ist Hingabe. Die ersten Begegnungen mit Deinem Schmerz können dabei therapeutisch unterstützt werden. Das bisher so gefürchtete Leid verliert durch wiederholte Annahme und Übung seinen Schrecken und Glück und Leid werden allmählich zu zwei willkommenen Begleitern Deines inneren Weges. Vertrauen ist der Treibstoff dieses Vorganges – einer Art Yoga des Lebens.

Kränzlin, den 19. September 2016

 

[1]Krishna Candra: Von der Liebe zur Stille; http://www.ananda-dham.com/publikationen/von-der-stille-zur-liebe
[2]Andreas Weber: Lebendigkeit – eine erotische Ökologie; Kösel-Verlag München 2014
[3]Bhagavad Gita: Hrsg. A.C.Baktivedanta; BBT 1987

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