von Mike Kauschke

Wenn ich durch die frühsommerlichen Wiesen und Wälder gehe, spüre ich die aufbrechende Lebenskraft. Das Grün durchbricht das bergende Dunkel der Erde, der Bäume, und wagt sich hinaus ins Licht, in diesem vertrauensvollen Schwung ins werdende, knospende, blühende Leben.

Aus der Erde meines Wesens

Diese Leben-schaffende Energie, die mich aus dem Lebendigen anspricht, pulsiert auch in mir. Zum Beispiel, wenn ich ein Gedicht schreibe. Oder diese Zeilen. Ich lausche in mich hinein auf dieses werdende auftauchende Ziehen und Sehnen dessen, was in mir noch undeutlich schlummert, doch Gestalt werden will. Etwas, das in der »Erde« meines Wesens vielleicht lange Zeit gekeimt hat, bricht auf und erhebt den zarten Trieb aus dem Dunkel meines Innersten. Ein Wort. Und ein Wort, das darauf antworten will. Ein Satz und ein Gedankengang, der sich in Resonanz daraus bildet. Ein Fließen, das sich einstellt, in dem manchmal ein kleines Bächlein, manchmal ein reißender Fluss von Inspiration seinen Weg sucht. Dann auch Momente des Innehaltens, in denen ich das Geschriebene betrachte und auf mich wirken lasse. Und in mir höre. Lausche auf die nächste Spur, die es in mir auslösen mag. Im Schreiben erfahre ich einen wunden Drang, eine stürmende Freude, ein verbundenes Wissen: Ich kann sprechen mit der Welt – schöpferisch sprechen. Auch wenn ich bei den Recherchen für dieses Buch etwas lese, ist es ein kreatives Gespräch, das mein Denken von innen bewegt, indem ich den Gedanken anderer nachforsche, sie in mir vergegenwärtige. Noch intensiver, wenn ich Gedichte lese. Darin fühle ich oft, wie die gestaltende Energie, die sich in diesen Zeilen ausdrückt, meine eigenen kreativen Funken zu entfachen vermag.

Auch in meiner Arbeit als Redakteur des EVOLVE-Magazins erlebe ich diesen kreativen Funkenflug. Wenn wir uns für eine neue Ausgabe in der Redaktionsbesprechung treffen, spüre ich immer eine besondere Aufregung. Natürlich habe ich Ideen, was ein nächstes Thema sein könnte, so wie jeder von uns seine Anregungen mitbringt. Aber in unserem Gespräch sind wir schnell in einem Flow, in dem sich nach und nach das Thema zeigt, das angesprochen werden möchte. Jeder von uns bringt seine Erfahrungen, Überlegungen, Intuitionen und Fragen ein und in Resonanz darauf werden diese von jemand anderem weitergeführt. So entsteht nach und nach die Gestalt eines Themas, das wir vertiefen. Es fühlt sich an wie eine gemeinsame Improvisation, in der sich ein neues Verstehen zeigt, das vor allem auch dadurch gekennzeichnet ist, dass es weitere Fragen aufwirft und uns damit weiterträgt in ein gemeinsames Forschen.

Wenn ich dann Interviews mit Menschen führe, die für unser Thema relevant sind, ist es mir ein Anliegen, auch im Gespräch zu diesem schöpferischen Funken vorzudringen. Ein wirklich gutes Interview lässt im Fluss der Begegnung etwas zum Vorschein kommen, das meine Gesprächspartnerin so noch nicht wusste oder gesagt hat. Ein neuer Gedankengang findet seinen Weg. Eine überraschende Einsicht. Eine beglückende Resonanz des Verstehens wird erlebbar für uns beide. Diesen »Geschmack« einer unerwarteten Gestalt liebe ich auch in jedem Dialog, den ich als gemeinsam schöpferisch Sprechen bezeichnen würde. Wenn aus der Mitte eines Fließens von Wahrnehmungen und Einsichten sich neu entstehende Gedanken, Empfindungen und Einblicke in das Wesentliche, uns Verbindende eröffnen.

Kreativität im Alltag

Aber auch ganz alltägliche Tätigkeiten bieten mir Raum, meine schöpferische Energie zum Ausdruck zu bringen. Ich koche sehr gern und schätze die kreativen Einfälle, wenn ich mich vor den Kühlschrank stelle und angesichts der vorhandenen Zutaten überlege, welche überraschenden Kombinationen eine neue Geschmacksnuance ergeben könnten. Diese Kreativität in der Küche lernte ich im Zen-Kloster zu schätzen, wo ich einige Zeit auch die Aufgaben des Kochs übernahm. Da war der Kühlschrank dann gleich eine große Speisekammer und dem Erfindungsreichtum kaum Grenzen gesetzt.

Das Schöpferische ist eine Ur-Qualität des Seins, und es ist auch der innere Kern des Poetischen. In der Dichtung ist die MUSE eine Quelle des Schöpferischen – ein Wesen oder eine Seinsebene, aus der die inspirative Kraft hervorquillt. Bei dem Bewusstseinsforscher Jean Gebser fand ich eine ausdrucksstarke Beschreibung dieses kreativen Quellortes: »Die Muse ist das latente Gedächtnis der Welt; sie ist die Erinnerung an das Schöpferische, an alles durch das Schöpferische je bewirkte und je noch Bewirkbare. Dass sie mit diesem Schöpferischen in engster Beziehung steht und deshalb im Menschen das Dichterische auszulösen vermag, geht aus den aufgeführten Qualitäten der Muse hervor, denn – dem Schöpferischen verwandt – ist sie Quelle, immerwährende Fülle, Nährerin der Seele, ist Mutter des Sängers, also selber Empfangende, nämlich Empfängerin und Erinnernde des Schöpferischen, die im Dichter diese Erinnerung weckt, ist Gedächtnis, Dank und Denken-Müssen.«

Quelle und Kraft des Schöpferischen

Die Muse erinnert die Kraft des Schöpferischen, wie sie den Kosmos erschaffend durchdringt und im Menschen zu sich findet. Alles, was je bewirkt wurde und noch bewirkt werden wird, liegt darin beschlossen und offenbar. So ist die Muse eine Quelle, aus der uns die Schöpferkraft zufließt. Aus einer immerwährenden Fülle inmitten des strömenden Lebens, die uns nährt. Sie ist die Mutter der Dichtenden, sie empfängt sie und gebiert sie liebend in ihre eigene Stimme. Im Dichter, der Dichterin lebt die Muse fort als das Gedächtnis des Schöpferischen, als Dank für diese wandelnde Kraft und ein Denken, das sich immer wieder in Neuland vorwagt.

Wenn ich also schöpferisch etwas wahrnehme oder gestalte, tauche ich ein in dieses Gedächtnis, in dem alles, was sich je kreativ entfaltet hat, weiterschwingt. Ich empfange die gestaltende Kraft aus der immerwährenden Fülle und führe sie fort – füge meinen Vers hinzu. In einer POETISCHEN LEBENSKUNST kann ich die kreativen Energien im Kosmos, in der Natur, Geschichte, Kultur und im Menschen sensibler wahrnehmen, nachvollziehen und sie in mir wachrufen. Mich dem »Kuss der Muse« hinhalten, in welcher Form sich dieser mir zeigen mag. So kann das ganze Leben, jeder Tag, zum Möglichkeitsraum werden, in dem wir der Gestaltungskraft des Lebendigen Ausdruck geben. Wie ich im Folgenden aufzeige, ist dies nicht nur deshalb so wichtig, weil es uns erfüllt und unser Leben von innen her mit der Aufbruchskraft des Frühlings durchzieht. Sondern auch, weil wir Menschen in unserem Zusammenleben und als Gesellschaft diese kreative Kraft brauchen, um über das Bestehende hinauszudenken und noch-mögliche Antworten auf die dringenden Fragen unserer Zeit zu finden.

Aus: „Auf der Suche nach der verlorenen Welt – Eine Reise zur poetischen Dimension unseres Lebens“ von Mike Kauschke

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