von Kolja Güldenberg

Wir leben in herausfordernden Zeiten. Klimawandel, Rechtspopulismus, Flüchtlingsströme – Das kapitalistische Wirtschaftssystem und das dazugehörige Glaubenssystem des Mangels suggerieren uns, dass wir gegeneinander um knappe Ressourcen kämpfen müssen. Ein paar Gewinner, viele Verlierer. Der Verlust gemeinschaftlicher Strukturen, Vereinzelung und Überlebenskampf sind die Symptome einer über 500 jährigen Eroberungsgeschichte durch die patriarchal geprägten europäischen  Nationen.

Es ist genug für alle da

Aber leben wir tatsächlich im Mangel auf diesem wunderschönen blauen und grünen Planeten? Ist nicht vielmehr – wie Gandhi es so klar formuliert hat – genug für Jedermann da, nur nicht für Jedermanns Gier? Können wir dieses falsche Glaubenssystem entlarven und verändern?

Jede Kultur hat ihre Mythen, wie der Aktivist und Autor Charles Eisenstein so treffend analysiert. Der Mythos des Mangels und des notwendigen Kampfes um Ressourcen funktioniert global für viel zu wenige. Was also ist die neue Geschichte, die wir schreiben wollen?

Für mich hat diese neue Geschichte viel damit zu tun, einfach und gut leben zu lernen. Mit weniger materiellen Dingen zufrieden zu sein, wirft uns auf unsere innere Zufriedenheit zurück: Erlebe ich Fülle in mir, auch ohne materielle Reize und Zuwendung von außen? 

Wenn wir uns auf unsere echten Grundbedürfnisse zurück besinnen und uns in uns selber beheimaten, sind wir damit weniger käuflich. So könnte Selbstliebe zu einer politischen Kraft werden, weil Menschen mit innerer Fülle viel weniger manipulierbar sind, klar sagen, was sie denken und selbstverantwortlich handeln.

Ein neues Bewusstsein in der Liebe

Ein weiteres Kernthema ist die Frage unserer eigenen Liebes- und Beziehungsfähigkeit. An ihr entscheidet sich häufig, ob wir an ein erfülltes Leben glauben oder resignieren und unser Herz so stark schützen, dass wir nur noch wenig fühlen.

„In jüngerer Zeit entwickelt sich ein neues Bewusstsein in der Liebe.

  • Wir können Liebe und Sexualität gestalten.
  • Wir können Beziehungsformen gestalten.
  • Liebe fällt uns nicht (nur) zu, wir können Liebe verstehen, annehmen und lernen.
  • Romantische Gefühle müssen ergänzt werden durch Verständigung, Empathie und klare Entscheidungen.
  • Mehr als den „richtigen“ Partner brauchen wir Selbstkenntnis, Kommunikationsfähigkeit und ein gutes Leben / eine sinnvolle Lebensführung.

Da Liebesbeziehungen heute deutlich weniger eingebettet sind in soziale Strukturen, ist der Erfüllungsdruck auf den jeweiligen Partner und die Beziehung sehr hoch. Viele Paare fühlen sich überfordert, da sie nicht nur Beziehung und Familie aufbauen, sondern auch die Frage nach Glück, Sinn, Heimat, Geborgenheit, Freiheit, Abwechslung, spirituelles Wachstum und berufliche Unterstützung über die Partnerschaft gefunden werden will.
Deshalb brauchen wir Lernwege, Liebesschulen, Orte, Gruppen, Gemeinschaften und Freunde, mit denen wir Bedingungen schaffen können für ein Gelingen der Liebe. Eine bewusste, ehrliche, zärtliche, dauerhafte und freiheitliche Möglichkeit, uns als Frauen und Männer und Liebende zu verstehen, zu begleiten, zu begehren, zu pflegen, zu streiten, uns beizustehen, uns zu versöhnen und zu lieben.“   (Dolores Richter)

Echte Gemeinschaft ist möglich

Eine weitere Kernfrage in diesen turbulenten Zeiten des Wandels lautet: Können wir ohne Verlust echter Individualität (die ja auch eine evolutionäre Errungenschaft bedeutet) wieder beziehungs- und gemeinschaftsfähig werden? Und sind wir bereit, uns auf ganz neue und radikale Gemeinschaftsexperimente einzulassen? Denn Gemeinschaft ist ja einer der Grundzustände, die wir im Laufe der patriarchalen Geschichte verloren haben.

Für mich sind Erfolg versprechende Gemeinschaftsprojekte solche, in denen wir als ganzer Mensch hinein passen. Also mit unserer Berufung, mit unserer Liebessehnsucht, unserer politischen, spirituellen und erotischen Natur.

Echte Gemeinschaft unterstützt 
Im Alltag kann es sehr herausfordernd sein, mich in diese neue Beziehungsfähigkeit hinein zu entwickeln. Konflikte müssen ausgetragen und Grenzen kommuniziert werden, Bedürfnisse auf Augenhöhe ausgehandelt und Egos abgeschliffen. Kommen wir drum herum? Ich denke nein.

Individualität unterstützen und Vielfalt integrieren

Das Zegg ist ein lebendiges, gelebtes Gemeinschaftsexperiment mit 110 Erwachsenen und Kindern als BewohnerInnen. Es ist ein Ort des Lernens und der (inneren) Ausbildung. Mit unserer Bildungsarbeit möchten wir zum gesellschaftlichen Kulturwandel beitragen und Impulse dafür setzen, dass Gemeinschaftsprojekte entstehen.

Um uns tief mit unserer inneren Absicht und Motivation zu verbinden, haben wir als Gemeinschaft 2014 unsere hellen, konstruktiven Prinzipien gemeinsam extrahiert: Transformation, Eros, anarchische Kooperation, Verbundenheit, Liebe, Eros und lebendiges Experiment sind kraftvolle Prinzipien, für die wir stehen.

Wir haben uns unter anderem das Ziel gesetzt, mit unserer Bildungsarbeit zu diesem tiefgreifenden Wandel beizutragen, indem wir Räume für lebendiges Lernen, Bewusstseinsentwicklung und persönliche Transformation kreieren. Damit wir Menschen von innen heraus fähig werden, eine nachhaltige Kultur zu gestalten.

Gemeinschaft ist das Abenteuer unserer Zeit. Und die größte Gemeinschaft ist unsere menschliche Familie. Schaffen wir es, miteinander und mit unserer Umwelt in Frieden zu leben oder fahren wir den Karren vor die Wand?

Wir freuen uns auf essentiellen Austausch und gemeinsames Forschen in einer turbulenten Zeit.

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