Wir haben sie durchlebt und durchlitten – und das nicht nur einmal in unseren vielen Lebensjahren: unsere ganz individuelle Reise durch das Leben, unsere ganz persönliche „Heldenreise“ so, wie sie von Paul Rebillot und Joseph Campbell im vergangenen Jahrhundert beschrieben wurden. Als Blaupause für den Übergang von einer Lebensstufe zur nächsten.

Die Heldenreise unseres Lebens

Der eine von uns weniger intensiv und unbewusst, der andere emotional extrem mitgerissen und geistig völlig wach. Immer wieder veränderten sich unsere Lebensumstände und wir mussten uns den Herausforderungen des Lebens stellen. Jetzt, wo wir die allermeisten Transformationen unserer Biografie hinter uns gelassen, alle wichtigen Entscheidungen des Lebens getroffen und unseren Erfahrungskoffer prall gefüllt haben, steht eine der letzten großen Heldenreisen an: die Fahrt vom Berufsleben in den Ruhestand. Sie wird uns auf vielfältige Wege führen. Zum einen auf die eingetretenen Trampelpfade unserer Vorgänger. Zum anderen in unbetretenes Niemandsland. Aber immer öfter über die Erhebungen der Lebenserfahrung und durch die persönlichen Mühen der Ebene. Über die Bergkuppen der Erkenntnis. Hin zu den Ufern der Einsamkeit. Entlang der Erinnerungen über bereits verstrichene Lebenszeit. Vorbei an den Weiten der späten Lebensträume. Und schließlich ankommend in der Stille des eigenen Selbst mit einem unendlichen Verständnis für die Welt und unser Dasein …

In der klassischen Heldenreise durchlebt der Bewerber zwölf Stationen. Anfangs lernen wir den Aspiranten in seiner gewohnten Welt kennen, bis ihn der Ruf des Abenteuers ereilt, gegen den er sich mit vielen Mitteln zu wehren versucht. Nachdem er sich endlich aufgerafft hat, trifft er auf seinen Mentor, der ihn motiviert. Langsam überschreitet der angehende Held die erste schwierige Hürde und muss danach noch so manche heikle Bewährungsprobe bestehen. Als schwerste erweist sich die Auseinandersetzung mit seinen ureigensten Ängsten. Die kann er nur selbst bestehen und er wird dafür entsprechend belohnt. Fast schon auf dem Rückweg vollzieht sich seine Verwandlung und er wird – geprägt von den Veränderungen – wiedergeboren. Reich beschenkt mit den Erfahrungen seiner Reise kehrt er im wahrsten Sinne des Wortes zu sich nach Hause zurück … aus diesen szenischen Bausteinen ist übrigens jeder gute Hollywoodstreifen gestrickt. Erfolgreiche Regisseure wissen darum.

Ent-Wicklung statt Ruhe-Stand

Wir sind alle Kandidaten auf dem Weg in die „Späte Freiheit“, hin zum „Helden im Ruhestand“, zum „HiRu“. Wir wissen schon jetzt intuitiv, dass dieser Weg nur dann sinnvoll und erfüllend sein wird, wenn wir ihn nicht hinein in den „Stand der Ruhe“ verfolgen. Sondern in eine Zeit aktiver Selbstentwicklung und konstruktiver Lebensgestaltung. Wenn Sie so wollen: hinein in die Verwandlung zum späten Veränderer und (Per)Former unseres dritten Lebensabschnittes.

Wie leben in einer Zeit, die geprägt ist von beruflicher Beanspruchung und fachlichen Netzwerken. Seit vielen Jahren haben wir uns als erwachsene und reife Menschen – nach anfänglichen Schwierigkeiten und manchmal auch mehreren Anläufen – eingerichtet in unserer Welt der Arbeit. Wir erleben unser „Da-Sein“ durch eine fest vorgegebene zeitliche Struktur, in einem streng reglementierten, sozial vorgezeichneten Rahmen und haben ein umfangreiches Netz von sozialen Kontakten aufgebaut, das uns neben dem familiären Umfeld Halt und Orientierung gibt.

Unsere bisherige (Arbeits)Welt ist weitgehend stabil und sicher, überschaubar und kontrollierbar. Wir haben uns fest in vermeintlich sinnvoller Tätigkeit etabliert und trotz aller Störgrößen empfinden wir diese Welt als eine Art Komfortzone, die uns vertraut ist und den Tagesgang vorgibt. Wir erhalten Rückmeldungen über unsere Fähigkeiten und Grenzen, über Fehler und Erfolge. Wir sind ein akzeptiertes Zahnrad im Getriebe der gesellschaftlichen Bestrebungen, eingebunden in einen weitgehend sinnvollen und notwendigen Kreislauf von Betriebsmitteln, Kapital und menschlichen Ressourcen. Und noch ein Stück weit entfernt vom Tag der Lostrennung von beruflich tief eingebrannten Gewohnheiten und unwidersprochenen Selbstverständlichkeiten.

Kurz: Wir haben uns eingerichtet, fühlen uns gebraucht und gewertschätzt, sind zugleich Absender und Empfänger sozialer Teilhabe. Und obwohl wir die kommende Transformation vom Beruf in das Rentnerdasein emotional bereits erkannt haben, sind wir verstandesgemäß noch außerordentlich eng verbunden mit dem Arbeitsmodus. Zwar erscheinen uns die ersten auftauchenden Bilder des kommenden Ruhestandes attraktiv und verlockend, aber sie sind bisher nur vage Konstrukte einer unbekannten, aber offenbar selbsterklärenden Zukunft …

Aufblühen im aktiven Ruhestand

(Die nächsten Abschnitte sind ein Auszug aus  untenstehendem Buch.)

Sie allein entscheiden darüber, welche Art von Leben Sie noch ausgestalten möchten: ein leeres, ein saures, ein süßes oder ein erfüllendes Leben. Es wird ein eher leeres sein, wenn Sie nur passiv am weiteren Leben teilnehmen und den genussreichen Seiten des Lebens entsagen. Sie werden es zwar gefahrlos durchschreiten, aber vielleicht vor sich her dümpeln und unerfüllt bleiben. Wenn Sie sich von anderen Menschen vereinnahmen, ausnutzen oder vorschreiben lassen, was Sie tun oder lassen sollen, werden Sie wenig Befriedigung empfinden. Ihr Leben in seiner dritten Phase wird dann weitgehend mühevoll und fremdbestimmt sein und es erscheint Ihnen sauer und trist. Entscheiden Sie sich für ein vergnügliches und genussreiches, aber gleichzeitig passives Leben, dann mag es süß sein, das Leben. Sie leben jedoch für den Moment und laufen dem wirklichen Glück womöglich ewig hinterher.

Wenden Sie sich dagegen konstruktiv und aktiv dem Guten, Schönen und Wahren in all seinen Facetten zu, dann sind Sie auf einem erfolgreichen Weg hin zu einem prallen, erfüllenden Leben und Sie blühen auf. Die Vertreter der Positiven Psychologie nennen den Zustand „Flourishing“. Darunter fällt alles, was Sie psychisch gesund, leistungs-, liebes-, arbeits- und genussfähig macht und erhält. Und wer möchte im Ruhestand nicht gern noch aufblühen von Ihnen? Alle diese Eigenschaften erhöhen Ihre Lebenszufriedenheit und befähigen Sie, mit belastenden Lebensereignissen resistenter umzugehen. Als aufblühender Best Ager können Sie den Alltagsanforderungen des Alterns gelassen gegenübertreten und selbstbewusst Ihre Ziele verfolgen.

Nehmen Sie wertschätzend und versöhnlich Abschied vom bisherigen beruflichen Karriereweg. Vergegenwärtigen Sie sich die enorme Zeitspanne, die Sie im Ruhestand noch verbringen werden. Schauen Sie in die Schatztruhe ihrer Kindheitsträume und erfüllen Sie sich spät, aber noch rechtzeitig, das lang Verdrängte und Verschobene. Vertrauen Sie auf Ihre großartigen Lebenserfahrungen und werden Sie sich Ihrer vielfältigen Kompetenzen bewusst. Greifen Sie sich aus der Welt der geistigen und körperlichen Fitmacher diejenigen heraus, von denen Sie sich einen positiven Einfluss auf Ihre Gesundheit und Vitalität versprechen. Strukturieren Sie Ihre verbleibende Lebenszeit sowohl nach Jahren und als auch im Alltag. Planen Sie in großen Zeiträumen und setzen Sie sich noch anspruchsvolle Ziele. Gleichen Sie sie ab mit Ihrer aktuellen Wertewelt im Alter und bringen Sie sie in Übereinstimmung mit Ihren tiefsten persönlichen Überzeugungen. Akzeptieren Sie das Altern und gehen Sie souverän und selbstbestimmt damit um. Vollziehen Sie den konsequenten Rollenwechsel vom Beruf in den Ruhestand und erschaffen Sie sich Ihre neue Identität.

Sie sind – vielleicht zum ersten Mal in Ihrem Leben – so unabhängig in der Gestaltung Ihres Daseins, wie nie zuvor. Die Anzahl der neu verfügbaren Freiheitsgrade war noch nie so groß, wie jetzt. Entschleunigen Sie Ihr bisheriges Leben oder drehen Sie noch einmal so richtig an dessen Rad. Zelebrieren Sie aber in jedem Fall aktives Altern. Es wirkt wie eine Verjüngungskur. Und werden Sie nicht müde, immer wieder zu überprüfen: „Altere ich noch – oder gestalte ich schon?“

Jetzt den Samen säen

Säen Sie jetzt den Samen, um dem Pflänzchen Ruhestand baldmöglichst die Chance zum Erblühen zu geben. Wählen Sie aus der schier unendlichen Vielzahl von Optionen: Planen Sie eine Nord-Süd-Alpenquerung zu Fuß mit Wanderkameraden aus verschiedenen Altersgruppen. Starten Sie Ihr erstes Training für den kommenden Triathlon-Wettbewerb in Ihrer Altersklasse. Unterstützen Sie andere Menschen bei der Beschaffung und beim Transport von Hilfsgütern in Krisengebiete. Eröffnen Sie in den sozialen Medien ein Erinnerungscafé für Demenzkranke. Entdecken Sie Ihre Leidenschaft für Line Dance und erleben Sie harmonische Tanzbewegung in und mit einer Gruppe Menschen. Lassen sie sich faszinieren von der Schönheit des Kunsthandwerks und bringen Sie sich autodidaktisch die Goldschmiedekunst bei. Besuchen Sie eine Fortbildung zum Mediator, nutzen Sie Ihre umfangreichen Lebenserfahrungen und schlichten Sie außergerichtlich Streit. Betreuen Sie Nistkästen im naheliegenden Stadtpark und nehmen Sie teil an den alljährlichen ornithologischen Zählungen.

Bieten Sie Ihre empathischen Fähigkeiten als ehrenamtlicher Helfer in der Palliativ- und Sterbebegleitung an. Besorgen Sie sich ein Fernrohr und suchen Sie den Sternenhimmel nach den Weiten der Unendlichkeit ab. Bewerben Sie sich für eine Au-pair-Stelle in einer Gastfamilie in Australien. Besorgen Sie sich geeignetes Holz, kaufen oder leihen Sie sich eine Kettensäge und gestalten Sie damit ein Kunstwerk. Rezensieren Sie Bücher oder schreiben Sie Ihre Autobiografie. Die Liste möglicher Vorhaben können Sie selbst beliebig lange fortsetzen. Für all die Altersprojekte kenne ich persönliche Beispiele, über die mir die Teilnehmer meiner Workshops mehr oder weniger ausführlich berichtet haben. Allen Ideen und Projekten, auch wenn sie noch so unterschiedlich erscheinen, ist eines gleich: Sie selbst müssen aktiv werden, den ersten kleinen Schritt wagen.

Über den Autor

Avatar of Wolfgang Schiele

Wolfgang Schiele, Jahrgang 1954, (Vor)Ruhestandscoach und Experte für Menschen im Veränderungsprozess zwischen Beruf und Ruhestand.   

Rastlos im Beruf, ratlos im Ruhestand?
Wegweisende Impulse zur aktiven Gestaltung der dritten Lebensphase
Wolfgang Schiele
Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2018
eBook ISBN978-3-662-56567-4
288 Seiten

Ich bin freiberuflich tätig als Team- und Individualcoach sowie Seminarleiter, wobei mein inhaltlicher Arbeitsschwerpunkt bei den „soft skills“, den mentalen Aspekten dieses vielfach unterschätzten persönlichen Changemanagementes auf dem Weg in die dritte Lebensphase liegt.

Während der Auslaufphase meines Erstberufes habe ich erfolgreich Ausbildungen zum zertifizierten NLP-Mastercoach (nach DCV-Vorgaben) und Heilpraktiker Psychotherapie absolviert, bin zertifizierter EMDR-Therapeut und Motivationsprofiler (LAB-Profile).

Kontakt
Wolfgang Schiele
Coaching 50plus
Meckerndorfer Ring 7
15526 Bad Saarow
0174-9639900
Blog: www.spätefreiheitruhestand.de


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