Jung sein im Alter und reif in der Jugend

Von Sabine Groth

Die alterslose Frau – sie ist geworden, wer sie ist. Jugendwahn und gängige Schönheitsideale hat sie abgestreift wie ein zu enges Kleid. Vorbei die Zeit, in der sie sich anpasste, um zu gefallen. Dem Mann ist sie ein gleichwertiges, aber nicht gleiches Gegenüber. Der anderen Frau begegnet sie auf Augenhöhe, solidarisch, loyal. Ihr Alter: wandelbar und allumfassend. Ihre Schönheit: lebenslang. Die alterslose Frau – sie schlummert in uns. Wir können sie erwecken.

Mein fünfzigster Geburtstag war kein Tag wie jeder andere. Schon Monate vorher erschien mir die Zahl 50 wie ein endgültiger Abschied von der Jugend. Alte Vorstellungen aus meinen jungen Jahren tauchten plötzlich wieder auf: 50 – die Zeit der Wechseljahre. Allein das Wort »Wechseljahre« hatte bei mir früher die Befürchtung ausgelöst, dass nun Verfall und Krankheiten mein Leben bestimmen würden. Wie sehr ich mich irrte, sollte ich schon bald erfahren.

Die Haltung zum Alterungsprozess

Eine Befragung bei Freun­dinnen und Frauen gleichen Alters ergab, dass viele diese Vorstellungen und Ängste teilten. Besonders erschütternd war das Ergebnis meiner Umfrage unter den jungen Frauen: Sie hielten die Wechsel­jahre und den weiblichen Alterungsprozess für eine schleichende Abdankung an das Leben, einen bedau­ernswerten, ja beinahe mitleiderregenden Zustand. Ein gutes Leben mit faltiger Haut konnten sie sich einfach nicht vorstellen. Einige erzählten mir, dass sie den weiblichen Lebenslauf schlichtweg als Fehlkonstruktion empfinden. Während sie bei Männern das graue Haar und die Falten als Zeichen von Lebenserfahrung und Reife betrachteten, fühlten sie selbst sich dazu aufgerufen, dem Diktat »jung um jeden Preis« zu folgen.

Die Werbe- und Kosmetikindustrie suggerieren uns täglich, dass eine Frau nur dann eine echte und begehrenswerte Frau ist, wenn sie jung, schlank und faltenfrei ist. Kein Wunder, dass die meisten Frauen diese abwertende Einstellung ihrer Kultur zum weiblichen Älterwerden übernommen haben und so manch runder Geburtstag Ängste und regelrechte Krisen unter uns Frauen auslöst, anstatt dass er mit Stolz und Selbstbewusstsein gefeiert wird.

Meine Umfrageergebnisse hatten mich erschüttert. Ich wollte etwas ändern und machte mich auf die Suche nach einer hoffnungsvolleren Einstellung zum weiblichen Lebenslauf: Die Wechseljahre als Auftakt in ein neues Stadium zu betrachten, in dem Frauen sich noch kraftvoller, gesün­der, freier, weiser und lebendiger erleben als je zuvor. Jetzt – jetzt erst recht! – sollte das gute Leben beginnen und weitergehen! Doch wie können wir das erreichen? Ich begab mich auf Forschungsreise.

Jugendlich sein mit der Weisheit des Alters

Zunächst war klar, dass es nicht nur der Traum vieler moderner Frauen, sondern auch ein alter Menschheitstraum ist: jugendlich zu sein mit der Weisheit des Alters. Seit jeher versuchen Menschen dem Alter ein Schnippchen zu schlagen und Alterslosigkeit zu erlangen. Einige beziehen die Alterslosigkeit ausschließlich auf ihren Körper. Mit Sport, der richtigen Ernährung, Kosmetik oder chirurgischen Eingriffen versuchen sie die Jugend zu konservieren und den Alterungsprozess hinauszuzögern. Andere hinterfragen dagegen den Jugendwahn mit seinen Schönheitsidealen. Sie entwickeln eigene, neue Vorstellungen von Schönheit und versuchen die Qua­litäten der verschiedenen Lebensphasen in sich zu entwickeln: die Neugier des Kindes, die Unbeschwertheit der Jugend, die Fürsorge der Elternschaft, die Schöpferkraft der reifen Jahre und die Weisheit der Alten.

Reifestadien

All diese Qualitäten stellen sich ja nicht automatisch in einem gewissen Lebensabschnitt ein. Sie fallen nicht in einem bestimm­ten Alter vom Himmel, sondern sie sind der Ausdruck unserer Reifung. Dieser Reifungsprozess setzt bei uns allen schon in Kinder- und Jugend­jahren ein und dauert bis ins hohe Alter an. Die Reifestadien werden dabei nicht unbedingt chronologisch erlangt. Ein Mensch kann ein Stadium schon in jungen Jahren durchleben, eine anderer durchläuft dieses Stadium erst im höheren Alter. So kann eine Zwanzigjährige schon die Narben einer Achtzigjährigen davongetragen haben und ein Achtzigjäh­riger kann sich noch im seelischen Reifestadium eines jungen Mannes befinden. Kein Reifestadium ist dem ande­ren übergeordnet, besser, weiter oder schöner als das Andere, sondern jedes Stadium ist zu seiner Zeit gut und richtig.

Ein starkes Duo: Jugend und Weisheit

In den traditionellen Märchen und Mythen sind die junge Frau und die weise Alte meist ein unzertrennli­ches Duo. Wenn eine junge Frau Kummer hat, erscheint nur selten ein junger, holder Prinz und errettet sie aus ihrer Not. Viel häufiger kommt eine weise, alte Frau wie aus dem Nichts daher. Sie flüstert die wegweisenden Worte, die die junge Heldin bedenken und deuten muss. Junge Prinzen sind demnach gut, manchmal sogar hervorragend, aber es ist die alte Frau, die in den traditionellen Geschichten über die entscheidenden Güter in herausfordernden Situationen verfügt: Weisheit, Seelentiefe und Einfühlungsvermögen. Die junge Frau dagegen besitzt Unbekümmertheit, Neugier und Kraft. Zusammen ist dieses Duo unschlagbar und in der Lage, die Herausforderungen des Lebens zu meistern.

Dieses Jugendliche ist in allen Lebensstadien ebenso in uns wie das weise Alte, denn wir alle stoßen immer wieder auf Bereiche, in denen wir uns jung, unerfahren und unwissend fühlen und der Ein­weihung durch einen erfahrenen Menschen bedürfen. Ebenso sitzt das alterslose, uralte Wissen in einem Winkel unserer Seele bereit, angezapft und befragt zu werden, um dem jüngeren Ich hilfreich, trostspendend und klug zur Seite zu stehen und ihm beim nächsten Schritt zu helfen. 

Schritte zur Alterslosigkeit

Wie können wir Jugend und Weisheit ganz konkret in uns vereinen? Und wie können wir Qualitäten entfalten, die scheinbar jenseits unseres tatsächlichen Lebensalters liegen?

Menschen, die zugleich reif und jugendlich sind, haben nach meiner Beobachtung folgende Fähigkeiten entwickelt:

  1. Sie schulen ihre Achtsamkeit und Wahrnehmung bezüglich ihrer jüngeren und älteren Persönlichkeitsanteile. Sie nehmen das innere Hin- und Herwandern zwischen den verschiedenen Altersstufen bewusst wahr.
  2. Sie finden in der aktuellen Lebensphase Zugang zu den Qualitäten der anderen Lebensphasen. Sie können sich an vergangene Verhaltens­weisen, Gefühle, Fähigkeiten, Einstellungen, Grund­stimmungen zurückzuerinnern oder auf diese vorgreifen. Wenn sie spüren, dass sie nicht erwachsen und angemessen auf eine Situation reagieren, helfen ihnen die folgenden Fragen:
  • Wie alt fühle ich mich gerade?
  • Was habe ich in diesem Lebensalter erlebt und gefühlt? Was hätte ich gebraucht?
  • Wie habe ich ein ähnliches Problem in der Vergangenheit bewältigt? Möchte ich heute eine andere Lösung dafür finden?
  • Welche Qualität meines jüngeren Ich kann mir bei der Lösung dieses Problems helfen? Welche Botschaft hätte mein jüngeres Selbst für mich?
  • Was würde mein älteres, weiseres Ich zu der aktuellen Situation sagen?
  1. Sie entfalten die positiven Qualitäten einer jeden Altersstufe, inte­grieren sie in ihr jetziges Ich und nutzen die Qualitäten ihrer jüngeren und älteren Persönlichkeitsanteile, um ihre aktuellen Herausforderungen zu meistern.

Meine Forschungsreise

Während meiner Forschungsreise begann ich mich und mein Leben zu verändern: Verschiedene, widersprüch­liche Anteile von mir, wie Verletzlichkeit und Stärke, Mut und Vorsicht konnten integriert werden, überholte Gedankenmuster, wie „Dafür bin ich schon zu alt.“ oder „Dafür bin ich noch zu jung.“ konnte ich ziehen lassen, belastende Beziehungen verändern, den Wohnbereich verschönern und den Arbeitsbereich meinen neuen Bedürfnissen und Visionen ent­sprechend gestalten. Nichts ist geblieben wie es war. Diese Reise war kein bequemer, aber ein aufregender, verjüngender und gleichzeitig reifender Prozess. Ich befinde mich in der letzten Phase der Mutterschaft und der Wech­seljahre, doch sind durch den Prozess des Forschens alle Lebensphasen in mir näher zusammengerückt. Ich spüre das kleine Mädchen in mir ebenso wie die alte Weise und auch die junge Frau. Ich erkenne viel schneller, in welchem Alterszustand ich mich gerade befinde. Mit­unter brauche ich nur einen gewissen Tonfall von meinem Liebsten zu hören, und schon spüre ich das verletzte Mädchen in mir. Mal reicht ein vielsagender Blick, und ich werde zum errötenden Teenager. Mal bin ich junge, sinnliche Geliebte, mal fürsorgliche Mutter und mal die weise Alte, die sich darüber wundert, inmitten des banalen Alltagstrubels etwas so Kluges gesagt zu haben. In uns allen lebt das Kleine, das Junge, das Reife und das Alte, und wir bewegen uns leichtfüßig zwischen den Altersstu­fen und Zeiten hin und her, als wandelten wir von einem Raum in den anderen. Wir sind nicht »Entweder jung oder alt« sondern in vielerlei Hinsicht »Sowohl jung als auch alt«. Diese Form der Alterslosigkeit schlummert in jeder von uns. Warum erwecken wir sie nicht?

 

Der Text enthält Auszüge aus dem neuen Buch
„Jede Zeit ist deine Zeit“ von Sabine Groth

 

 

Über den Autor

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ist Körperpsychotherapeutin, Paartherapeutin und Autorin. Das Herzstück ihrer Arbeit ist das Jahrestraining für Frauen. Das Frauentraining läuft über ein ganzes Jahr an einem Abend in der Woche. Darüber hinaus bietet sie Wochenend-Seminare für Frauen zum Thema „Weiblichkeit“, Einzeltherapie, Paartherapie u. -beratung an.

Mehr Infos

Sabine Groth ist Seminarleiterin, Paartherapeutin und Autorin.

Am 03. 11. 2021 startet das neue Jahrestraining für Frauen. Es läuft über ein ganzes Jahr, jeden Mittwoch von 19.00-22.00 Uhr.
Darüber hinaus bietet sie Seminare, Paartrainings, Einzeltherapie, Paartherapie und -beratung an.

Info und Kontakt unter:
Tel.: 0159 01 46 28 15
contact@sabine-groth.com
www.sabine-groth.com

 

 

 



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