von Joachim Hildebrandt

 

Der Fremde ist Gast

Der Fremde ist der Zugereiste, nicht zu einer Gemeinschaft Zugehörige, trotzdem ist er Teil einer größeren Gemeinschaft, der Großstadt, der Nation. Interessant ist das polnische Wort für „fremd“ – „obcy“. Das verweist zugleich auf einen Umgang miteinander („obcować“ – Umgang pflegen). Im Tschechischen ist „obec“ – Dorf, Gemeinde, im Russischen bedeutet „obschtsche“ – das Gemeinsame.

Auch im Griechischen wird der Fremde als Gast gesehen: „xenos“. Er hat nicht die Rechte der Einheimischen, doch meist wird ihm eine entsprechende Achtung entgegengebracht.

Gerade in Polen hat Gemeinschaft und Gastfreundschaft in ländlichen Regionen noch einen auffallend hohen Wert. Besonders in Südpolen in den Bergen kann ich das beobachten.

Wenn ich der Meinung bin, ich sei „fremd“, könnte ich auch sagen, ich lebe „neben“ dem Anderen, zum Beispiel als Nachbar. Gibt es aber nicht eine gewisse Ähnlichkeit zwischen mir und meinem Nachbarn? Könnten wir spüren, dass wir irgendwie miteinander verbunden sind, würden wir nicht mehr grußlos aneinander vorbeigehen. Ich bin „anders“, heißt noch nicht, ich bin „verschieden“ von jemandem. Der Baum und ich, wir sind „verschieden“. Der Stein unterscheidet sich vom Baum und von einem anderen Stein. Diese Dinge sind jedoch nicht „anders“. Nur etwas anderes nur für sich Seiendes ist anders. Im Französischen hat „l´autre“, der andere, die Bedeutung von der Nachbar. Wenn man das Wort ein wenig verändert, zu „l´autrui“, bekommt es die Bedeutung von der Nächste.

 

Findlinge

Wenn wir Agnetendorf im polnischen Riesengebirge aufsuchen, wo Gerhart Hauptmann viele seiner bedeutenden Werke geschrieben hat, fallen uns die riesigen Steine in seinem Anwesen auf. Wir können uns fragen, wie sie dahin gekommen sind. Sie liegen nebeneinander in keiner erkennbaren Ordnung. 

Die Felsbrocken sind vielleicht während der letzten Eiszeit aus den Bergen in die Ebene transportiert worden, wo sie geheimnisvoll liegen blieben. Die Menschen haben nachgeholfen, um sie als Zeugen der Geschichte nachbarschaftlich stets vor Augen zu haben. Die Steine sind jetzt „l´autre“, Nachbar, und „l´autrui“, Nächster.

Gibt es etwa eine Verbindung zwischen Steinen und Menschen? Die Steine sind Findlinge und es kann uns passieren, dass wir mitten in der Landschaft unvermittelt innehalten. Wir spüren auf einmal, dass wir „da“ sind. Wir finden uns selbst in solch einem Moment.

Der Findling erfährt sich nicht als Ding, er weiß, er ist kein Stein, keine Pflanze, kein Tier und auch keine Maschine, die immer funktionieren muss, wie ein anderer es ihm sagt. 

 

Die Erkenntnis „da“ zu sein

Wie bewegen wir uns mit der Erkenntnis „da“ zu sein, vorwärts oder weiter? Wir können unser Unglück vor uns hertragen und auf diese Weise alt werden. Shakespeare sagt, der Mensch sei kraft seiner Feigheit das Wesen, „bei dem das Unglück zu hohen Jahren kommt“, und „dass wir die Übel, die wir haben, lieber halten, als zu unbekannten fliehn“. Wir können im Unglück ausharren und sogar stolz darauf sein, dass uns das gelingt. Wir können auch das Glück wagen, nicht mehr nebeneinander zu leben, sondern miteinander.

Unser Weg führt durch Leichtsinn und Schwermut, durch Täler und über hohe Berge. Manche Menschen ziehen sich zurück, wenn die Höhen zu hoch werden, sie gehen in ihr Inneres und siedeln sich dort als Einsiedler an. Manchmal reisen sie von Insel zu Insel, um die Welt zu finden, die Heimat für sie werden kann. Da gibt es Verklärungen, falsche Hoffnungen und Loslösungen. Weltflucht.

Den überlasteten Menschen, der Erholung braucht, der sich Ablenkungen und Illusionen hingibt. kennen wir aus unserer Zeit. Ilya Kabakov, ein bedeutender und vielseitiger russischer Künstler, sagt über sich selbst:
„Bei mir ist einfach die Bereitschaft sehr entwickelt, mich nicht an meinem Platz zu fühlen. Es war mir immer … ein angenehmes Erlebnis, irgendwo nicht zu sein. Das ist offensichtlich ein infantiles Trauma durch den mangelnden Wunsch, auf die Welt zu kommen. Ich habe kein Zuhause, ich fühle mich immer im Zustand des Transits …“

 

Die Welt tut weh

In der Welt gibt es Dissonanzen, die uns irritieren, verunsichern, vom Weg abbringen. Wie können wir damit zurechtkommen? Wir hören die Missklänge und nehmen sie als befremdlich wahr.

Individuum und Welt passen offenbar nicht richtig zueinander. Das behagt uns durchaus nicht immer. Ich möchte mich als Findling mit anderen Findlingen verbinden, ohne mich in der Welt zu verlieren. Wo ist das möglich? In der Musik? In der Kunst? In der Metaphysik? Manchmal brauchen wir einen Rückzug aus der Welt, wenn wir in tiefe Erfahrungen vordringen wollen. Das kapitalistische Identitätsmodell von allgemein- und selbstgefällig, von Anpassung um jeden Preis, hat etwas von einem Trugschluss.

Die Philosophen meinen, wir seien Fremde in dieser Welt und würden uns nach einer anderen Welt sehnen, die uns nicht mehr fremd ist. Sie sprechen von einer Verstrickung in die Welt. Um von dieser Verstrickung loszukommen, streben die Buddhisten nach moksha, Befreiung.

Das „Nicht-Wissen“, auf Sanskrit avijja, sei der Grund allen Leidens, aller Fremdheit, die zu unserer Persönlichkeit gehört, aber nicht für immer daran anhaften muss. Bei den Gnostikern heißt es theosis, Heimkehr.

Die Buddhisten sagen, zuerst käme das „Nicht-Wissen“ oder die Fremdheit in der Welt. Die Fremdheit führe zu Krankheit und Leiden. Aus „Nicht-Wissen“ könne aber auch Erkenntnis entstehen oder der Wille zum Wissen. Aus diesem Willen entstehe unsere Persönlichkeit. Meditationen, Tiefenversenkungen, sagen Buddhisten, helfen uns, Erkenntnisse zu gewinnen, die uns von der Fremdheit wegbringen. Die Nähe zu uns selbst bringt uns dazu, uns nicht mehr verschieden von uns und den anderen zu verstehen. In diesem Zustand können wir den Anderen gelassen sehen, schon als den Nächsten, den Nachbarn, als einen, der zu mir gehört, weil ich zu ihm gehöre. Das Fremdsein ist auf einmal verschwunden.

 

Ich bin da mal weg

Peter Handke schreibt manchmal an sein Haus: „Ich bin da mal weg. Ich bin mal in der Natur.“ Auch wir haben immer wieder das Bedürfnis, einmal „weg“ zu sein, nicht ansprechbar für jeden zu jeder Zeit. Einen Platz für uns zu finden, bei uns einzukehren, um ein altmodisches Wort zu benutzen. Wir brauchen diese Stadien der Entspannung, der Entlastung, des Vergessens, des Schlafs. Des Tagtraums und Nachttraums. Manchmal auch des Rauschs und Drogenkonsums. Abwesenheit des Geistes und des Körpers. Das Träumen bietet uns einen Weg, einmal abzuschalten, von dem, was wir täglich tun sollen.  Wenn es uns gelingt, sich dem Träumen zu überlassen, im Liegen oder im Sitzen, spüren wir erneut diese Übergänge, die es in unserem Leben gibt. Auch wenn sie uns in Tagträumen erschrecken können oder unverständlich bleiben, gibt es in einigen dieser Träume, sagen zumindest Traumprotokollanten, einen verborgenen Sinn, den erst einmal aufzuschreiben sich lohnt. Wir erfahren viele verschiedene Arten des Träumens. Wenn wir nur zwei wichtige Kategorien nennen wollen, dann sind es die: nach manchen Träumen fühlen wir uns erleichtert und froh, nach anderen wie „gerädert“ und erschöpft. In beiden Fällen sind wir einmal hinab- oder hinaufgestiegen in eine Wahrnehmungswelt, die uns im Alltag verschlossen bleibt.

Für den Menschen als ein Wesen im Übergang und voll zwielichtiger Entscheidungen ist es möglich, Mut zu seinem Dasein zu finden, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, wo es um Fremdheit und Vertrautheit geht.

 

Ich sage erst mal Ja zu mir

Von Martin Heidegger gibt es den Satz: Ich sage erst mal Ja zu mir. Das könnten wir so verstehen, der Mensch ist in die Welt gefallen, aus dem Bauch, aus dem wärmenden Wasser, aus dem Meer, das ihn rauschend umgab. Vom Meer oder vom vertrauten Schweben als Fötus hat er sich verabschiedet. Er kann im Gelöstsein eine Gelassenheit finden. Wenn das Gelöstsein gelingt. Gelöstsein ist ein gelungenes Loslassen. In unserem Fall von Fremdheit, von Angst vor dem Anderen, vom Kampf gegen den Anderen, vom Anhaften an den Anderen, von der Erwartung an den Anderen, sich so zu verhalten, wie wir es uns selber wünschen.

Philosophen und auch spirituelle Lehrer sagen, Aufmerksamkeit sei die Voraussetzung dafür, sich aus der Fremdheit herauszulösen und auf diese Weise Mensch zu werden.  In Kriegsgebieten ist die Aufmerksamkeit das Achtgeben auf den Mörder, der ganz in der Nähe lauert. Und der Heilige, wenn er sich zur Meditation zurückzieht,  will etwas hören, was die anderen nicht hören können oder wollen. Aufmerksamkeit auf den Nachbarn, den Fremden gehört dazu, und sei dieser noch so in sich verschlossen oder vielleicht schon längst bereit zu einem Miteinander, zu einer Zugehörigkeit, zu einer Gemeinschaft.

Fremdheit oder Andersheit lösen sich auf, wo Gemeinsinn, Gemeinschaft beginnt. Indem einer dem anderen hilft, ihm entgegenkommt, sich mit ihm solidarisiert. Ein altes Wort, das an Bedeutung nicht verloren hat. Das Prinzip Solidarität. Genau da erwacht Verbindung oder Verbundenheit mit der Welt und mit allem.

Wie können wir Fremdsein überwinden? Ein wichtiger Punkt  dabei wird sein, dass wir uns die Welt, in der wir gerade leben, zur Heimat machen können. Wir brauchen gar nicht mehr an den Heimatbegriff zu glauben. Wir können das schon längst vergessen haben. Und auch die Erinnerung, dass wir womöglich schon einmal oder mehrere Male so etwas wie Heimat gefunden haben. Ob wir an Heimat glauben oder nicht, ist nicht entscheidend. Sondern die Bereitschaft, dort, wohin es uns verschlagen hat, einen Gemeinschaftsgeist in uns wachsen und reifen zu lassen, bereit zu sein für ein Zuhause, mag es auch irgendwann künftig erst kommen.

Über den Autor

Avatar of Joachim Hildebrandt
Mehr Infos

Potsdam, Sprachlehrer und Publizist, auch spirituell unterwegs und befasse mich mit ayurvedischer Medizin. Schriftsteller, Hörfunkautor und Literaturkritiker. Für den Hörfunk entstanden Reportagen, Rezensionen, Essays und Feature-Sendungen.

Bisher veröffentlicht
Prosa: „Der Viertelsekundenblick“, Trafo Verlag Berlin und „Der Löwenbändiger“, Anthea Verlag 2022
Lyrik: „Offene Verabredung“, dahlemer verlagsanstalt, „Mitlesebuch“, Aphaia Verlag und „Schwalben am Ionischen Meer“, Anthea Verlag, 2019



Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar

Deine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.

*