Der Teil-Lockdown, der ab Anfang November von der Politik angeordnet wurde, ist in meinen Augen letztlich nur eine Spiegelung unseres inneren Lockdowns, eines Lockdowns der Gefühle. Darum funktioniert der Austausch der Vertreter verschiedener Ansichten – der die aktuelle Lage auf der Ebene der Argumente erfasst und interpretiert – auch nur sehr begrenzt. Denn in der derzeitigen Situation liegt die Aufgabe, wieder fühlen zu lernen und damit eine viel klarere Sicht auf die Dinge zu haben als der von Angst gesteuerte Verstand, dessen Hauptziel die maximale Kontrolle über das Leben ist. Viele von uns haben ihre Gefühle allerdings weggesperrt und leben nur noch ein Oberflächenleben ohne tiefe Verbindung zum Sein. Doch wirklich leben heißt für mich, fähig zu sein, sich für die Ganzheit des Lebens und damit für das Fühlen von allem zu öffnen, was ist. Das ist Liebe. Bedingungslos. Unbegrenzt. Und die einzige Sicherheit und Freiheit, die es gibt.

von Jörg Engelsing

Was bedeutet eigentlich leben? Echtes Leben? Ist es das, was die meisten Menschen hier leben? Arbeit als Mittel zum Geldverdienen? Ab und zu ein schöner Urlaub? Ein schickes Auto, viel Kohle? Einen tollen Mann oder eine tolle Frau an der Seite? Konsumieren als Selbstzweck, Essen als Trost und nicht aus echtem Hunger? All das steht im Moment auf dem Prüfstand. Und es zeigt sich – auch für Menschen, die sich über solche Grundfragen des Lebens bisher noch nicht viele Gedanken gemacht haben –, dass die bisherige Handhabe des Projekts Leben meist keine wirklich tragfähige Grundlage für eine erfüllte Existenz sein kann. All die Dinge, die uns mit uns selbst und dem Leben auf einer tieferen Ebene verbinden – wie die Fähigkeit, kreativ zu sein, zu vergeben, Arbeit als Freude und Wachstumsraum zu begreifen, erfüllende Beziehungen zu führen und nicht zuletzt die tiefe Erkenntnis, dass es darum geht, sich dem Leben hinzugeben statt es zu bekämpfen – haben mit fühlen zu tun. Es heißt ja auch „sich wohlfühlen“ und nicht „sich wohldenken“. Warum nun hat das Denken für die meisten Menschen gegenüber dem Fühlen eine so überwältigende Priorität?

Ganz einfach: Weil wir unseren verdrängten Schmerz nicht fühlen wollen. Fühlen heißt, im Moment zu sein – mit all dem, was da ist. Gedanken sind die Versuche unseres Verstandes, uns von diesem fühlenden Moment abzulenken, um uns vor allzu schmerzlichen Gefühlen zu schützen. Doch kann das denn wirklich so schlimm sein, alles zu fühlen? Nun ja… Ich habe immer gedacht, dass ich emotionalen Schmerz bereits gut zulassen kann, schließlich habe ich viele Workshops und Therapien gemacht, bei denen sich diese Ebene öffnete und ich mich dem auch ganz gut hingeben konnte. Aber mittlerweile beginne ich zu verstehen, dass sich hinter diesem ganz normalen Schmerz eine tiefere Ebene befindet, vor der ich noch weglaufe. Es ist eine abgrundtiefe Verzweiflung, die Verzweiflung, die bedingungslose Liebe verloren zu haben, von Gott (der „Gutheit“ des Lebens) verlassen zu sein. Diese Verzweiflung ist eine Mischung verschiedener Gefühle, vor allem Schmerz, Angst, Einsamkeit, Haltlosigkeit und vollkommene Verlassenheit.

Verdrängte Verzweiflung

Mit dieser Abwehr gegen die Verzweiflung stehe ich nicht allein. Solange wir nicht wirklich erleuchtet sind, tragen wir sie alle in uns. Sie wird in extremen Situationen in uns aktiviert, manchmal so heftig, dass wir glauben, nicht weiter existieren zu können. Diese verdrängte Verzweiflung wird momentan in vielen Menschen mehr oder weniger stark an die Oberfläche gespült, meist so, dass wir damit noch klarkommen, ohne uns mit diesen Gefühlen direkt auseinandersetzen zu müssen. Doch einige Menschen werden bereits ordentlich in die Mangel genommen und rasten dann auch schon mal aus, wenn sie auf Menschen treffen, die eine andere Meinung – zum Beispiel zum Thema Corona – haben als sie. Solche Situationen nehmen zu, denn die gegenwärtige Zeit ist davon geprägt, dass die Menschen sich immer mehr in verschiedene Lager bewegen: Den einen sagt ihr unbewusster, verängstigter und verzweifelter Teil, dass ihr Leben durch das Virus gefährdet ist, den anderen flüstert dieser Teil ein, dass ihre Freiheit und Gesundheit durch die Maßnahmen der Politik bedroht wird. Hinter beidem steht die unbewusste Verzweiflung, dass das Leben nicht gut ist und hier irgendetwas grundlegend falsch läuft. Und es ist im Grunde auch das Gleiche. Wir sitzen alle im selben Boot und nur die Integration dieser Verzweiflung kann uns einen klaren Blick schenken und aus dieser angst-dominierten Verstandeshölle herausführen. Denn es geht nicht darum, wer die besseren Argumente hat. Das war das Spiel der letzten Jahrhunderte. Wo hat es uns hingeführt?

In immer neue und tiefere Konflikte, initiiert von Riesen-Egos, denen Menschenleben und die Wahrheit völlig egal waren. Die gegenwärtige Situation zeigt uns ganz deutlich: Dieses Spiel hat keine Zukunft, jedenfalls keine, die wir uns wünschen und die es der Menschheit ermöglicht, diesen Planeten weiter zu bewohnen und im Einklang miteinander und dem Leben selbst zu existieren. Die neue Ebene, um dies geht, ist meiner Meinung nach eine Ebene des Mitfühlens – und wir können sie nur erreichen, wenn wir beginnen, uns erst einmal auf unsere eigenen Gefühle einzulassen – und dabei am besten irgendwann auch diese Ebene der abgrundtiefen Verzweiflung zu integrieren.

Wir sind alle gleich

Das einzige, was wir auf der Ebene des Verstandes erkennen müssen, ist, dass alle – Verschwörungstheoretiker, folgsame Bürger, Widerständler, Politiker, Ärzte, Virologen usw. – in der Tiefe von dieser gleichen abgrundtiefen Verzweiflung angetrieben werden, auch wenn sie es nicht merken. Ich bin jetzt 30 Jahre auf diesem Weg der Integration des Verdrängten und erst seit etwa fünf Jahren beginne ich das zu verstehen. Es ist auch nicht leicht zu verstehen, denn unsere Ich-Struktur hat ja im Grunde genau die Aufgabe, uns vor dem Fühlen dieser abgrundtiefen Verzweiflung zu schützen. Sie tut buchstäblich alles, um diesen Job erfolgreich durchzuführen, weil sie glaubt, dass wir mit dieser Verzweiflung nicht umgehen können und durch den Kontakt mit ihr regelrecht zerrissen werden. Wer kennt nicht die Ambivalenz, die sich einstellt, wenn wir zu einem Selbsterfahrungsseminar gehen. Ein Teil freut sich, sich selbst in der Tiefe zu begegnen und Blockaden auf dem Weg in die Freiheit aufzulösen. Doch ein anderer Teil will ja genau das nicht und versucht uns zu blockieren, indem wir beispielsweise den Bus zum Seminarort verpassen, dem Navi auf einmal nicht mehr trauen, kurz vorher krank werden usw. Hinter dieser abgrundtiefen Verzweiflung finden wir wieder die Verbindung zum anderen. Und wir erkennen und fühlen, dass das Leben nicht gegen uns ist und böse, sondern uns nur an die Angst- und Verzweiflungspunkte führt, damit wir uns ihnen hingeben und fühlend durch sie hindurchgehen.

Das Paradies ist bereits da, aber weil wir uns der Gesamtheit unserer Gefühle verschlossen haben, wähnen sich viele momentan am Eingang der Hölle. Der Weg ins Paradies ist nicht lustig und auch ich bin noch mittendrin und weiß manchmal nicht mehr weiter. Aber wenn nichts mehr geht und ich nichts verstehe, kommen auf einmal diese kleinen Blitzlichter der Erkenntnis, die es mir ermöglichen, nicht in meinen Gedankenspiralen hängen zu bleiben, sondern einfach still zu sitzen und zu fühlen, was ist. Das sind in meinen Augen die kleinen Türen, die zum großen Ausgang in diese verloren gegangene bedingungslose Liebe führen.

Das Gefühl von Wertlosigkeit

Bei all dem merke ich auch, dass mein Gefühl, nicht so in Ordnung zu sein, wie ich bin, in der Tiefe nichts mehr mit der Ablehnung durch meine Eltern oder irgendwelche anderen Erfahrungen zu tun hat, sondern seinen Ursprung in diesem Verlust der bedingungslosen Liebe und damit auch meiner eigenen Liebesfähigkeit zu tun hat. Ich erinnere mich an ein Seminar vor vielen Jahren, bei dem alle Teilnehmer am letzten Tag in einer Runde zusammensaßen. Ich meldete mich, weil es in mir drückte und rumorte, und sagte, dass ich mich die ganzen Tage schon total wertlos fühle. Der Seminarleiter sah mich an und fragte: “Weißt du, warum du dich wertlos fühlst?“. Mein Körper und mein Kiefer fingen an zu zittern, Tränen kamen und aus meiner Kehle würgten sich fast die Worte:„Weil ich nicht lieben kann.“ „Ja“, sagte der Seminarleiter, „ohne die Liebe fühlen wir uns wertlos.“

Eine grundlegende Wahrheit: Geben, wirklich aus unserem Kern heraus bedingungslos lieben und geben zu können, bringt automatisch in uns ein Gefühl von wertvoll und richtig hervor. Liebe ist die Antwort auf all unsere Fragen, ist die Lösung für all unsere Probleme – und sie beginnt mit einem Ja zu dem, was ist. Ein anderes Wort dafür ist Hingabe. Und Hingabe fängt mit der Hingabe an das Fühlen des eigenen Körpers im Moment an. Das kann durchaus heißen, Jahre oder Jahrzehnte lang der eigenen Taubheit gegenüber dem Fühlen zu begegnen, dem Zombie in uns (eine Fühllosigkeit, die wir gerne als gegebene, natürliche Normalität ansehen – comfortably numb, wie die Gruppe Pink Floyd es in ihrem gleichnamigen Lied nannte). Diese Taubheit ist einfach nur Indiz dafür, dass wir ständig versuchen, dem Fühlen auszuweichen und unseren Körper zu verlassen. Ein unbewusster Persönlichkeitsanteil zieht uns in den Körper, in die Lebendigkeit, ein anderer Teil wirft uns ständig heraus, weil er diese oft schmerzvolle Lebendigkeit fürchtet. Dieses ständige Hin und Her nennen wir dann unser Körpergefühl, es ist dann unser Da-Sein, aber es ist bei den meisten Menschen – wie auch bei mir – mehr ein Weg- Sein. Was für ein gigantisches Potenzial in uns wartet und was wir für Anstrengungen unternehmen, um dem auszuweichen…

Dem Unangenehmen stellen

Wenn wir wirklich dieses Potenzial in uns befreien und darüber hinaus Frieden auf diesem Planeten herstellen wollen, gibt es in meinen Augen keinen anderen Weg, als sich dem ganzen Unangenehmen in uns zu stellen – der Angst vor dem gefährlichen Virus ebenso wie der Angst vor totaler Kontrolle durch die Regierung oder irgendwelche Gruppen, die die Fäden ziehen und uns nichts Gutes wollen. Vielleicht brauchen wir dann als Projektionsfläche das Unangenehme im Außen – wie die momentane Situation mit Corona – immer weniger. Und der Weg wird dadurch etwas leichter. Was ich sehr begrüßen würde. Immer wieder komme ich an den Punkt, an dem ich nicht mehr will, an dem mir das alles hier zu viel wird und ich eigentlich nur noch sterben möchte. Aber auch das sind Aspekte, die ich irgendwann einmal verdrängt habe (ich bin bei der Geburt gestorben und wiederbelebt worden) und die sich in diesem Prozess der Hingabe an das ganze innere Elend zeigen.

Unser Vereinzelungs- und Trennungsdenken ist eine Illusion. Wir werden unsere Lebensgrundlagen auf dieser Erde nur retten können, wenn wir als Gesamtheit und auf allen Ebenen wieder berührbare Wesen sind. Wenn wir weiter tun, was wir hier veranstalten, sehe ich keine Möglichkeit, wie die Menschheit auf Dauer überleben könnte. Diesen Weg in die unfassbar bunte, große Welt des Fühlens einzuleiten, indem es uns auf unsere verdrängte Wahrheit aufmerksam macht und zu einer inneren und äußeren Kurskorrektur zwingt, könnte das Geschenk eines nur wenige Millionstel Millimeter kleinen Virus sein. Dann trägt es seinen Namen zu recht (Corona = Sieger- und Einweihungskranz in spirituelle Kulte, Heiligenschein)…

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