Kreativität = Leben. Stimmt diese Gleichung auch 2020 und in den Jahren nach Corona?

Von Corinna Wittke

Seit vielen Jahren arbeite ich intensiv mit den unterschiedlichsten Menschen jeden Alters an deren individueller Kreativitätsentfaltung. Nie mangelte es mir an Ideen und Worten zu diesem Thema, nie an verrückten Möglichkeiten zu gebärendem Ausdruck: von Malerei bis Tanz, von Stimme, Ton, intuitiver Musik bis hin zum Koan, zur Poesie. Heute stolpere ich. Meine Worte wollen nicht recht fließen, als schämten sie sich der Banalität oder gar Pietätlosigkeit im Angesicht der Dramaturgie dieser umwälzenden Zeiten. Als wäre der Ackerbau auf dem kreativen Feld ein netter kleiner Luxus, den man doch lieber auf später verschieben sollte, wenn eines Tages wieder alles in ruhigeren Bahnen verläuft… Doch es gibt nichts zu verschieben, wir können auf nichts warten. Von allein wird sich nichts ändern, es braucht uns, es braucht genau dich und mich. Darauf kommt es an, dass wir aufhören auf irgendetwas zu warten, auf bessere Zeiten, auf die anderen, auf die Impfung, auf besseres Wetter, auf die Klimalösung, auf eine bessere Welt. Wir brauchen sie mehr denn je, diese kreative Kraft, die Unmögliches möglich machen kann, die uns durch lösende Prozesse in unseren Mut führt, die uns hilft, persönliche Wahrheit IN UNS zu finden, unabhängig von vorgekautem Main- oder Nebenmainstream, auch unabhängig von alternativen Nachrichten, von unseren Beratern und Beziehungen. Wir brauchen den Mut zur individuellen Ehrlichkeit und den Mut, Fragen zu stellen, auf die es vielleicht keine direkten Antworten gibt.

Gibt es Leben ohne Kreativität?

Ist es überhaupt möglich, „un“-kreativ zu leben? In dieser Frage geht es nicht darum, ob uns dieses „un“-kreative Leben gefallen würde, sondern ganz schlicht, ob es das überhaupt geben kann: Leben ohne Kreativität. Liegt nicht im Leben selbst der sich ewig wandelnde Keim von Schöpfung, die Existenz von Kreativität, ohne die Leben nie hätte entstehen können? Ich versuche, mir ein Leben ohne Kreativität vorzustellen und halte – vielleicht symptomatisch für die augenblickliche Welt-Situation – den Atem an, empfinde selbstauferlegten Stillstand, doch keine Stille. Bedeutet ein Leben ohne Kreativität die pure und sture Erfüllung eines übergeordneten, fremdbestimmten Funktionsplans, den ich lückenlos perfekt herunterrattere, ohne mich in irgendeiner Form selber einzubringen? Emotional unbeteiligt, wie ein Zombie oder eine Marionette, unreflektiert, fremdbestimmt, rein funktional – eine lebenslange Wiederholung von Abläufen, die mich nichts angehen? Es wäre die Entwicklung zu einer Art menschlicher Maschine, die funktioniert und konsumiert.

Doch wer hätte diesen Plan erstellt? Gott? Unser Arbeitgeber? Die Eltern? Der Partner? Das Wetter? Die Regierung? Vorausgesetzt, man würde die Definition von Kreativität völlig wertungsfrei auf jedwede Schöpfung, jedwedes Programm, jede Planung anwenden: Warum wäre es dann nur diesem planenden Willen außerhalb von mir vorbehalten, „kreativ“ zu sein? Und ist es dauerhaft möglich, das bewusste innere Wahrnehmen und Empfinden, das bereits ein schöpferischer Akt in sich ist, einfach abzustellen, um nur noch zu funktionieren? Oder gibt es zwei verschiedene Arten von Kreativität, eine freudige Kreativität, die aus dem Herzen kommt, aus unserem Seelenspiegel, und eine andere funktionale, die dem Willen, dem Planspiel, dem Überleben gehorcht? Fragen über Fragen – ich lasse sie einsinken auf den kreativen Acker und warte, ob Antworten sprießen werden, ob es eine Ernte geben kann.

Darf ich in diesen Zeiten überhaupt glücklich sein?

Geistesblitze können beschwingen, das Funkenfeuer ungeahnter Ideen uns beflügeln. Kreativ zu sein, hebt uns aus der Ohnmacht, gibt uns wieder frische Lebenskraft und erleichtert den Umgang mit schwierigen, herausfordernden Lebensumständen, ohne diese zu verdrängen oder zu übertünchen. Dies kann sogar inmitten eines bedrohlichen Umfeldes als Glück und Erleichterung empfunden werden. Darf ich aber in diesen Zeiten meine Glücksbotschaft über Kreativität in die Welt trompeten? Jetzt, wo die Angst umgeht, die Angst zu sterben, die Angst zu ersticken, die Angst, daran Schuld zu sein, dass andere sterben und ersticken. Die Angst vor der Hilflosigkeit. Die Hilflosigkeit selbst. Die Angst vor der Ohnmacht. Die Angst vor einer Gesundheitsdiktatur, vor Zwangsimpfung und Gesundheitspässen. Die Angst vor dem Verlust unserer demokratischen Grundrechte. Die Angst vorm Tod, vorm Leben, vor dem Verlust der Existenzgrundlage. Die Angst vor zunehmender Distanz und Abgetrenntsein, vor Nähe und Ansteckung. Die Angst, die eigene Familie nicht sehen zu dürfen oder, Aspekte der aktuellen Situation hinterfragend, von der eigenen Familie abgelehnt zu werden. Die Angst vor der Gegenwart. Vor der Zukunft. Vor der eigenen Mutlosigkeit. Im Angesicht dieses weltweit frischangefeuerten, doch uralten Themas Angst – taugt sie da noch, die kreative Botschaft? Ist sie überhaupt noch wahr? Kann ich sie noch fühlen in mir, die kreativen Funken, die das Leben so liebenswert und lebendig, so gesund und freudig machen können?

Verdursten in kreativitätloser Dürre

In den ersten Monaten der „Coronazeit“ spürte ich eine bedrückende innere Dürre. Als wäre der Hahn abgedreht worden, der sonst so zuverlässig in mir sprudelnde Ideen hervorbringt, meist mehr, als ich je umsetzen könnte. Es war, als hielte die Welt den Atem an und ich mit ihr. Als können Kunst und Kreativität erst dann wieder auftauchen, wenn die Welt viel schichtig genesen sein würde. Ich spürte das kollektive Feld der Angst, die weltübergreifende Traumatisierung, das Zerfallen in gegnerische Ansichten, die Verwirrung und Kommunikationsunfähigkeit und fühlte mich selbst gleichsam sprachlos und ohnmächtig. Vielen KünstlerkollegInnen erging es ähnlich. Als habe eine Lähmung das kreative Feld ergriffen und mitsamt den Protagonisten und Kreateuren auf Eis gelegt. Nicht nur, weil der Markt und die Erlaubnis, die eigenen künstlerischen Tätigkeiten öffentlich auszuüben, sich von jetzt auf gleich gegen Null verschoben hatte. Nein, auch im eigenen Atelier, wo ich zwar einkunftslos, doch ansonsten frei meiner eigenen künstlerischen Arbeit nachgehen konnte, hatte es mir bleischwer die Sprache verschlagen.

Hilfreiche Stillezeit und das Entdecken des Kostbaren

Das Einzige, was half, war, mir immer wieder Zeit zu nehmen für die Stille, für das Lauschen nach innen, für das Abhorchen der eigenen Ängste. Zu entdecken, was für alte Traumata reanimiert wurden, was für Stränge des eigenen Lebens sich plötzlich auf den Plan gerufen fühlten. Sie anzuschauen, ihnen zuzuhören, tat gut. Und genau an dieser Stelle keimte irgendwann wieder der Wunsch nach Ausdruck. Die ersten Drei-Minüter-Tusche-Postkarten waren wieder ein Anfang. „Drei-Minüter“ sind Bilder im Postkartenformat, die innerhalb von drei Minuten gemalt oder gezeichnet werden. Im Wissen, nur diesen kleinen Moment zur Verfügung zu haben, gehst du direkt an allen Fragezeichen, Zweifeln oder verkrampften Schönheits-OPs vorbei aufs Wesentliche zu, nämlich dem Ersten, was sich zeigt. Du suchst nicht nach Bedeutung, nicht nach einem Thema, du gehst mit deinem momentanen Gefühl und staunst, was da kommt…

Kaum saß ich also und kritzelte auf der leeren Postkarte herum, da reichte der Platz nicht aus und es wurden gleich mehrere pro Tag. Als hätte sich in mir ein Stau gebildet, dessen Bestandteile nach Außen ins sichtbare Feld gelangen wollten, wenn sie denn dürfen. Als ich nach der Frühjahrs-Corona- Zwangspause meine Arbeit wieder aufnahm und endlich wieder in demselben Raum körperlich anwesend Menschen begleiten durfte, im direkten Gespräch vor der Malwand des Ateliers, hüpfte mein Herz dankbar und aufgeregt. Technische Alternativen können hilfreich sein, sind es doch auch kreative Möglichkeiten, wenn sonst gar nichts geht. Doch nie werden Zoom, Skype oder Jitsi diesen echten kostbaren Lebensraum ersetzen können. Niemals. Im natürlichen, direkten Kontakt von Mensch zu Mensch fließt die Frequenz lebendiger Stille fernab von technischer Erreichbarkeit so spürbar und klar.

Depression und Resignation ersticken den kreativen Lebensatem

Der Sommer fühlte sich durstig an, durstig nach Leben, nach Eintauchen und Abtauchen, danach, all das tun zu können, was wichtig und richtig schien. Zum Beispiel die Farben des Sees einzuatmen, als könnten sie mir später genommen und verboten werden. Mir war, als müsse ich einen großen Vorrat an sinnlich gefühltem Leben einsammeln, damit dieser mich dann durch die nächste bereits angekündigte Dürre führen und nähren könne. Dennoch überfielen mich die ersten Erklärungen roter Zonen – Berlin, Hamburg, Schweiz, Italien – dann wie eine Axt, die meine anberaumten Seminarreisen und Arbeitsfelder wieder radikal abhackte und eine perspektivische Sinnlosigkeit auf den Plan rief. Ich erkannte, wie bewegungsunfähig und bleischwer sich ein depressiver Zustand anfühlt, wie ausweglos und wie fern von erlösenden Tränen und Ausdruck. Ich entdeckte, dass Depression und Resignation keinen Platz lassen für ausdrucksvolle Kreativität. Dass sie wie ein Gift jeden herzkreativen Funken einfangen und zum Erlöschen bringen, weil es keine Freude mehr daran gibt. Und ich erkannte, dass wir uns gerade dann erst recht und sofort auf die kreative Suche machen müssen, um nicht in uns selbst zu ersticken und an ungeweinten Tränen zu verdursten.

Kreative Gesundung

Der kreative Freude-Puls war kaum mehr ertastbar. Und doch hatte er in Wirklichkeit nie aufgehört zu schlagen. Er wartet auf uns, denn er ist direkter Ausdruck von etwas in uns, das ungebunden und ewig ist. Im Prozess traumatischen Erlebens haben wir ihn unterbewusst meist ruhig gestellt, ihn uns selbst verboten, ihm nicht mehr geglaubt, die Türe abgeschlossen, resigniert, verbittert, abgetrennt. Zuallererst galt es also aufmerksam einen Schritt zurückzugehen, an den Moment, an dem es innerlich dunkel geworden war, und hier angekommen, das kompassgenaue Fühlen zu wagen und alle Aspekte exakt zu orten. Ohne diesen geduldigen Mut geht es nicht. Denn wenn Kreativität kein Luxus-Spiel für friedvolle „Sahnetörtchenzeiten“ ist, sondern der grundlegende Anschub für Lebendigkeit, echtes Leben, für Übereinstimmung des äußeren Lebensausdrucks mit dem inneren Seelenboden, dann liegt es allein in unserer Verantwortung, diesen Schritt des mutigen Wahrnehmens und Durchfühlens jetzt und immer wieder zu tun. Bereits darin liegt der erste kreative Akt, der uns aus der Ohnmacht in die selbstverantwortliche Gesundung und damit wieder auf den Pfad des kraftvollen kreativen Ausdrucks führt. Ein Pfad, der gleichzeitig still und intuitiv ist, doch durchaus auch aktiv, und der aus durchwirkter, vernünftiger Klarheit zum Handeln ermutigt.

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