Miteinander Fühlen ist der Weg heraus aus der Angst und den Ausweichstrategien vor schweren
Gefühlen – weiß Dr. Anja Engelsing aus eigener Erfahrung.

Schwere Zeiten

Unsere Welt steht Kopf, täglich werden wir von neuen Katastrophenmeldungen überflutet. Die Pandemie bestimmt seit 2020 unser Leben. Dann kam auch noch der Ukraine-Krieg, die drohende Nichtverfügbarkeit notwendiger Rohstoffe, und jetzt das Extremwetter. Schwere Zeiten – und es ist kein Ende in Sicht. Das macht Panik. Seit Beginn der Pandemie leiden immer mehr Menschen unter psychischen Erkrankungen, haben ihre persönliche Null-Linie unterschritten, ihre Lebensfreude verloren und können sich nicht mehr alleine stabilisieren. Gesundheitliche Probleme nehmen rasant zu und auch Verhaltensauffälligkeiten, am häufigsten unsoziales Verhalten, schon bei Kindern.

Das verursacht Hilflosigkeit – bei den Betroffenen ebenso wie bei den Menschen in Heilberufen. Ärzte, Psychotherapeuten, Sozialarbeiter, Lehrer wissen alle nicht mehr, wie dieser zunehmenden Not begegnet werden kann. Zumeist sind sie selbst überfordert und von Angst und Hoffnungslosigkeit betroffen.

Nicht-Fühlen als erlernte Überlebensstrategie

Die meisten von uns haben schon als Kinder gelernt, in schwierigen Augenblicken und Umständen immer mehr „dicht“ zu machen, nichts mehr zu fühlen, um überleben und weiter funktionieren zu können. Und so tun wir das auch jetzt, schalten innerlich ab, machen dicht, suchen Ablenkung, nehmen Psychopharmaka oder Sonstiges, um nicht fühlen zu müssen, weil wir es einfach nicht mehr schaffen. Das ist sehr verständlich, aber so entsteht eben das immer Unsozialere und Ungesunde, und Angst, Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit nehmen immer mehr zu. Das alles ist eine Abwärtsspirale, denn wir sind so immer weniger fähig, der Wirklichkeit, wie sie ist, lösungsorientiert und lebendig zu begegnen. Hier kann Miteinander-Fühlen der Ausweg sein. Der Ausweg aus der „Ich gegen den Rest der Welt“-Mentalität, hin zu einer neuen Kultur von Verbundenheit.

Was heißt das? Vom Zauber, wirklich in Kontakt zu sein Körperpsychotherapeuten und Neurowissenschaftler haben genau untersucht, was passiert, wenn Ko-Regulation stattfindet: Wenn zwei Menschen in wirklichem Kontakt sind und einander wahrnehmen, spürt jeder von ihnen nicht nur intensiver die eigenen Gefühle im Körper, sondern auch die des anderen. In diesem wirklichen Kontakt, der manchmal vielleicht einfach nur ein Innehalten und Einander-in-die-Augen- Schauen ist, passiert ein Zauber. Wenn es dem einen gut geht, das Nervensystem im Wellnessbereich schwingt und er/sie den anderen wahrnimmt, beide in wirklichem Kontakt sind, vermag sich auch das gefährlich hochgefahrene Nervensystem des anderen zu beruhigen und wieder zu stabilisieren. Das ist eine wunderschöne gemeinsame Erfahrung. Das Begegnen in dem, was schwer ist, macht das Schwere nicht etwa unerträglicher, weil es dann beide spüren müssen, sondern leichter, denn es wird ein Quantensprung möglich: Eins und eins ist nicht mehr zwei, im Sinne von doppeltem Leid, sondern wird zu etwas Neuem. Das „Wir“ öffnet eine Tür von Heilung, macht Zuversicht und hilft aus der Angst.

Die Geschichte von Waltraud und dem Föhn

Eine andere schöne Sichtweise, die ausdrückt, worum es hierbei genau geht, ist die des Pluralismus der Narrative. Wir alle sind ja geneigt, uns von der Wirklichkeit, die wir gerade erleben, eine innere Geschichte zu erzählen. Sehr eindringlich habe ich das an mir selbst erlebt, als bei mir im Bad neulich eine Wasserleitung in der Badewanne aufgeplatzt war. Ich kam gerade von der Arbeit, hatte endlich einen Moment Ruhe, den ich auch dringend brauchte, hatte noch einiges zu erledigen – der letzte Augenblick, in dem ich eine Katastrophe hätte brauchen können.

Plötzlich höre ich ein Rauschen im Haus, in dem nur ich alleine mich aufhielt. Zunächst beschloss ich, es zu ignorieren, Ich hatte einfach keine Lust, mich mit irgendetwas zu beschäftigen, das ein Problem sein könnte. Als es weiter rauschte, dachte ich mir „Es ist o.k. Waltraud (das ist die Frau, die mir montags beim Haushalt hilft und die in der Nachbarschaft wohnt) scheint im Bad zu sein und sich die Haare zu föhnen.“ Nun ist Waltraud ein pragmatischer Mensch. Sie macht nicht viel Aufheben um ihre Erscheinung, trägt einen praktischen Kurzhaarschnitt, und es war heißer Sommer. Wahrscheinlich hat Waltraud noch nie im Leben ihre Haare geföhnt. Und es war Mittwoch, nicht Montag. Es dauerte noch einige weitere Augenblicke, in denen ich mich damit beruhigte, dass Waltraud sich sicherlich in meinem Bad die Haare föhnt.

Dann erst wurde mir klar, dass ich mir da einfach Schwachsinn zusammengereimt hatte, um mir das Rauschen irgendwie als normal zu erklären. Und welche Angst mir das Rauschen machte! Als ich dann die Treppe hochrannte, immer dem Geräusch folgend, da merkte ich, wie sehr ich in Panik war. Ich fand mein Bad überflutet vor, denn aus dem, was einmal das Ventil zur Regulation des Wasserflusses in meine Badewanne gewesen war, spritzte wie aus einem dicken Feuerwehrschlauch Wasser unter die Decke. Nix Waltraud…

Nun, ich hatte mir selbst eine Geschichte erzählt. Um zu vermeiden, Gefühle fühlen zu müssen, die ich nicht fühlen wollte, nämlich dass ich aufgeregt war und Angst hatte, dass das Rauschen auf ein Problem hinweist. Auf eine Weise tun wir das aber alle sehr oft. Das sind eben unsere Narrative von der Wirklichkeit. Wenn nun eine(r) eine Situation als hochaufregend und bedrohlich erlebt, und der/die andere bleibt cool, weil die gleiche Situation für ihn/sie nun einmal kein Problem bedeutet, und wenn beide darin in Kontakt sein können, dann geschieht langsam etwas Neues. Es findet Ko-Regulation statt, ein intensives Erleben miteinander, ein Sein in dem, was für eine(n) jede(n)/für jede(n) von beiden eben gerade aktuell ist, und daraus wird etwas Neues, Drittes. Es entsteht etwas, was jenseits beider Narrative ist. Verkörperung ist das Zauberwort Sehr hilfreich dazu ist, wenn wir alle mehr und mehr lernen können, in unserem Fühlen verkörpert zu sein. Wenn wir lernen zu spüren, wo in unserem Körper wir Gefühle wie Angst, Schmerz, Traurigkeit, Scham, Wut usw. wahrnehmen und wie sich das anfühlt. Dr. Raja Selvam, ein in Köln lebender Psychologe aus Kalifornien, hat dies in seiner weltweiten, aus der Traumatherapie entwickelten Arbeit, die er Integrative Somatische Psychologie nennt, wunderbar gezeigt. Je mehr wir fähig werden, unsere Gefühle möglichst ausgedehnt im Körper zu fühlen, umso mehr genesen wir, werden lebendiger und fähiger, dem Leben, wie es nun einmal ist, zu begegnen.

Verkörperung ist das Zauberwort

Aus dieser Verkörperung unserer Gefühle heraus lernen wir immer besser, präsent in dem zu sein, was ist, und uns selbst zu regulieren. Wir lernen, auch in Aufregendem, Schmerzlichem, Empörendem, Traurigem wieder in unseren Wohlfühlbereich zu kommen. Nicht, indem wir diese Gefühle übergehen und nicht fühlen, sondern gerade, indem wir die Kunst lernen, sie besonders intensiv zu fühlen.

Mitgefühl macht Heilung möglich

Und aus diesem Mit-sich-selbst-Fühlen wird Miteinander-Fühlen möglich. Das führt noch einen Schritt weiter: In wirklichem Mitgefühl geschieht Heilung. Ich habe dies sehr konkret selbst erst neulich in einer Supervisions-Sitzung erfahren. Es ging für mich darum, dass ich mich zu einer weiteren Ausbildung im Feld von frühem Trauma, Schwerem rund um Schwangerschaft und Geburt, entschieden hatte, an der mir sehr viel lag. Ich habe dann, als die Ausbildung losging, erfahren, dass die US-amerikanische Ausbildungsleiterin etwas immens Schweres erlebt hatte. Ich hatte das gehört, war sehr betroffen, hatte es aber wohl weitgehend unbemerkt in mir zur Seite geschoben, weil ich glaubte, dass ich es nicht aushalten kann, dieses Tragische in mir zu fühlen. In der Session mit meiner Supervisorin achtete diese exakt darauf, dass ich das, was die Nachricht mit mir gemacht hat, in meinem Körper fühlte. Dass ich nicht, wie es mein Muster ist, meinen Kopf nach oben strecke, um die Übersicht und vermeintlich die Kontrolle zu behalten – mein Lieblingsmuster, mit dem ich immer wieder vermieden habe, einfach präsent im Körper zu sein in dem, was ist. Dabei blieben sie und ich in warmem, lebendigem Kontakt.

Ich hatte sehr bald das Gefühl, dass ich nur durch den Kontakt mit ihr das Schwere auch fühlen konnte. Es war, als hätte mir der Kontakt mit ihr das Fühlen des Tragischen möglich gemacht. Und anders als ich es mir je vorgestellt hätte, wurde es leicht. Ich konnte im Kontakt mir ihr in dem Schweren immer mehr im Herzen sein – und mein Herz wurde immer weiter und liebender. Leben ist nun einmal so. Es geschieht auch ganz viel Schwieriges, Tragisches, Schlimmes. So habe ich ein weiteres Mal gelernt, dass Mitgefühl eben nicht Mitleid ist. Mitleid heißt ja, dass ich mich nicht mehr als klar abgegrenzt von dem/ der anderen empfinde. Mitgefühl hingegen ist das „ich empfinde das Schwere mit Dir, und es ist nicht mein Schweres“. Da bleibt die Grenze klar.

Wirkliches Mitgefühl ermöglicht Heilung, denn mein Einfach-im-Herzen- Sein, mein Liebe-Sein, ist auch immer Heilung für mich, und es entsteht ein heilendes Feld, das vielleicht sogar meiner Ausbildungsleiterin in den USA gutgetan hat. Wichtig ist, dass Mitgefühl nicht Verstrickung bedeutet. Es ist ein „hier ich – da du, und wenn wir für eine Weile bewusst und achtsam miteinander fühlen, wird das Leben viel leichter und lebendiger“.

Verbundenheitskultur – Miteinander Fühlen

Ich glaube, dass die Kunst des Miteinander-Fühlens das ist, worum es jetzt geht. Und diese Kunst des Miteinander-Fühlen können wir alle lernen. Aus dem Miteinander-Fühlen kann eine neue Kultur von Verbundenheit entstehen, die uns vielleicht über unsere jetzige Ausweglosigkeit und Verzweiflung hinausträgt. Die Kultur von Verbundenheit ist der Weg aus der Hoffnungslosigkeit und Angst. Sie öffnet neue Türen, von denen wir jetzt vielleicht noch gar nichts ahnen. Verbundenheit macht das Leben wieder schön, einfach weil wir es miteinander fühlen.

Buch:
Raja Selvam, PhD: The Practice of Embodying Emotions. A Guide for Improving Cognitive,
Emotional and Behavioral Outcomes.
North Atlantic Books 2022, in Deutsch ab 2023
www.integralsomaticpsychology.com

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