Der Umgang mit Zeiten des Verlusts wie Krankheit, Alter und Tod…

von Dorothée Jansen (ehemals Brüne)

Dem Schmerz begegnen in einer Trauergruppe

Eine Hand streift über den Solarplexus einer Mittdreißigerin, zarte feingliedrige Finger fahren hin und her, beugen sich, fassen tief ins Fleisch hinein, greifen den Schmerz, der sich dort eingegraben hat. Sie packen zu, halten ihn, ziehen ihn heraus und in die Handfläche hinein, wo die Pein schwer in der Handkuhle liegt. Schmerz über den Verlust des Bruders, der sich viel zu jung das Leben nahm, weil es ihm nicht lebenswert erschien, er keine Freude darin entdecken konnte. Bei einer anderen Teilnehmerin sitzt der Schmerz mehr in den Eingeweiden, im Darm. In großen Kreisen fahren beide Hände über den angespannten Bauch, zittrig, ein wenig unsicher. Sie befühlen ihn, halten ihn, spüren beim Halten das Stechen und Brennen, einen feurigen Schmerz. Darmkrebs lautet ihre Diagnose. Die Leidende gräbt sich mit ihren Fingerspitzen Millimeter für Millimeter in die Bauchfalten hinein, als könnte sie die Tumore greifen, die sich dort eingenistet haben. An diesen haften versengende Fragen: Wie lange werde ich noch leben? Ist dies mein Todesurteil? Gibt es noch eine Chance?

Neben ihr sitzt ein Mann, der den Schmerz über den Verlust seiner Frau im Herzen zu greifen versucht. Nach ihrem Tod haben sich bei ihm Herzrhythmusstörungen eingestellt. Der Schmerz über die ungewollte Trennung hat das Herz aus dem Takt kommen lassen. Imaginär umgreift er den Herzmuskel, hält ihn, hüllt ihn ein. Eine Mittfünfzigerin mit grauem kurzem Haar schält die Trauer über den Verlust der Jugend aus ihren faltigen Augenhöhlen. Die Hand streift über den Unterleib, der nicht mehr blutet. Hormonschwankungen bescheren ihr schlaflose Nächte. Dann schwitzt die Haut und lässt sie auf dem Laken schwimmen. Die Handflächen gleiten über die Häute, ziehen die Trauer über den Verlust der Blüte ihrer Jahre aus den Poren.

Alter, Krankheit und Tod brauchen Rituale

Schließlich halten sie alle inne, auf ihren Handflächen unsichtbar und doch fühlbar die heftigen, beißenden, bohrenden Schmerzen, die Krankheit, Alter und Tod ihrem Leben gebracht haben. Sie halten sie, spüren deren Gewicht. In der Mitte zwischen ihnen eine große Schüssel, angefüllt mit Wasser. Sie knien vor ihr nieder, dürfen ihre Hände hineintauchen und damit den eigenen Schmerz dem kühlen Nass übergeben. Worte begleiten ihre Taten. Das Wasser nimmt das Leiden auf, bereitwillig, gerne. Wasser – reinigende, kühlende, aufnehmende Kraft. Gerade Alter, Krankheit und Tod brauchen Rituale. Diese Verluste greifen den Körper an. Sie drohen die Verbindung zum Leib zu lösen. Rituale verbinden erneut, indem sie leiblich vollzogene Handlungen sind. Ich bin Bewusstsein, rufen sie dem Universum zu. Aber ich bin auch dieser Leib mit all seinen Fähigkeiten und Wonnen. Sei er auch noch so verletzt, entstellt, verstümmelt. Ich bin in ihm und will seine Möglichkeiten bis zum letzten Atemzug auskosten. Leib, wunderbar köstlicher, wonnevoller LiebeLustLeib.

Weisheit angesichts des Todes

Schopenhauer war es, der meinte, dass uns der Tod nichts anginge. Denn wenn er da ist, sind wir nicht mehr da. Sind wir da, ist er nicht da. Das stimmt rein logisch, übersieht jedoch die Tatsache, dass wir Menschen zu Bewusstsein fähige, imaginierende Wesen sind. Das Wissen um unsere Sterblichkeit können wir leugnen, verdrängen, auf andere projizieren oder in Substanzen zu ertränken versuchen – es bleibt und gärt möglicherweise unterschwellig in uns, wo es zur stinkenden Brühe werden kann. Wir Menschen sind Wissende. Wir wissen um unsere Sterblichkeit, und so gilt es, Wege zu finden, gut mit diesem Wissen umzugehen, damit es uns nicht nur erzittern, verzagen, verzweifeln lässt. Das Wissen um unsere eigene Sterblichkeit kann uns stark machen. Gerade im Bewusstsein um unsere Sterblichkeit können wir das erlangen, was Erleuchtung genannt wird. Ich erinnere eine Frau, die nach Kenntnisstand ihrer Ärzte längst hätte tot sein müssen, so sehr war ihr Leib von Metastasen durchsetzt. Sie wusste um ihren baldigen Tod, aber sie hatte sich fest vorgenommen, ihren Enkel am Tag seiner Einschulung zu begleiten. Ihn mit seiner Schultüte ins Reich des Wissens einzuführen, war als Bild tief in ihrem Bewusstsein eingegraben. Sie hielt durch, sammelte alle ihre Energien. So schaffte sie weitere drei Monate, begleitete das Kind und starb mit einem seligen Lächeln auf den Lippen am nächsten Tag. Entspannt wirkte ihr Körper, heiter, gelöst. Als wäre alles getan, was es zu erledigen galt. Frieden.

Sind da noch Wünsche offen?

Nicht selten ist der Tod das Hinweisschild, das uns fragt: Hast du schon alles erlebt, wovon du je geträumt hast? Sind da noch Wünsche offen? Der Tod ruft uns zu: Trau dich! Lebe! Und sei es der letzte Tag deines Lebens. Koste ihn aus mit vollen Zügen! Es ist wie die Geschichte des ZENMönches, der von einem Tiger getrieben in eine Schlucht stürzt. Er hält sich an einem Ast fest und entdeckt in dem Moment eine wilde Erdbeere, die er pflückt und sich zum Munde führt. Er genießt sie mit allen Sinnen. Allein für die Köstlichkeit dieser Erdbeere hat es sich gelohnt zu leben, ist das letzte, was er denkt. So die Geschichte. Selbst im größten Augenblick des Verlustes das sehen, was noch da ist. Jetzt. Hier. In existenzialistischen Kreisen war es üblich, sich täglich zu fragen: Wenn dies der letzte Tag deines Lebens wäre, was würdest du tun? Was, wenn heute der Tag wäre, an dem du den Mut aufbringst, genau das zu tun, wonach dich verlangt?

Dankbarkeit in Momenten des Verlustes

Ich bin dankbar, dass ich den Mut hatte, hierher zu kommen, sagt eine ältere Witwe. Ich bin dankbar dafür, dass du das mitgeteilt hast, erwidert der Mann neben ihr. Und ich freue mich, dass ich Ohren und ein Herz habe, euch beiden zuzuhören, stimmt sich eine Dritte in den Fluss der Dankbarkeit ein. Mit dem ersten Satz ist ein Anfang gemacht. Immer mehr taucht auf, wofür die Teilnehmer dankbar sind: Für den Raum, in dem wir uns treffen dürfen. Für die Beine, die sie tragen, das Becken, das sie auf dem Stuhl Platz nehmen lässt. Für die Menschen, die die Kleidung gewebt haben, so dass sie nicht frieren müssen. Für die, die die Fliesen auf dem Boden gelegt haben. Für die, die Blumen mitgebracht haben. Für die Kerze, die brennt. Auch für die Eltern, die ihnen das Leben geschenkt. Dankbarkeit auch für all die wunderbaren Momente mit einem Toten, die die Ehe mit diesem bereitet hat. Dankbarkeit für die Schwester, den Freund. In Momenten der Dankbarkeit zeigt sich, wie sehr wir Menschen miteinander verflochten sind.

Nichts von all dem, was uns täglich umgibt, ist alleine durch uns entstanden. Es braucht unsagbar viele, um diese Welt zu erschaffen, in der wir leben. Manchmal scheint es unmöglich, in Zeiten des Verlustes auch nur eine einzige zaghafte Spur von Dankbarkeit in sich zu finden. Krankheit, Alter und Tod lösen allzu oft ein Erleben des Getrenntseins, der Isolation aus. Ich bin ganz alleine. Sich in Dankbarkeit zu üben, kann eine wunderbare Übung sein, sich an die Allverbundenheit zu erinnern.

Die Kraft der Gemeinschaft

Gerade die Abschiede unseres Lebens rufen nach Zusammenhalt. Da braucht es offene Ohren, die sich Leidenswege mit anhören. Da braucht es Herzen, die Schmerz, Trauer und Wut mittragen. Menschen, die uns gemahnen, dass es auch die Liebe gibt, die bleibt, wenn alles andere geht. Die unter all den Schichten begraben liegt, die sich lediglich durch Krankheit, Alter und Tod über diese gelegt haben. Wie Schlamm auf einen Diamanten. Es braucht andere Menschen, die fühlen, sehen, erinnern lassen: Ja, da gibt es Liebe, wunderbare, grenzenlose, den Tod überdauernde Liebe. Liebe ist ewig, Liebe ist jetzt. Liebe ist unzerstörbar!!!! Ja, es braucht Hände, die Trost schenken, die Halt geben, die sanft über den Schmerz streichen, die Verbindung fühlen lassen. So viel Zärtlichkeit, die wir einander mit unseren Händen schenken können. So viel Liebe, die schlummernd in den Fingerspitzen ruht. Singend können wir sie wecken. Mit einem Hauch unseres Atems erwacht deren Kraft. Gemeinsam können wir in einen Raum der Präsenz eintauchen. Auch wenn vieles geht und sich wandelt. Hier und Jetzt. Dieser Moment. Wir. Geteilter Raum. Raum der Stille, wenn Worte das nicht zu fassen in der Lage sind, was gerade geschieht.

„Die edlen Weisheiten von Krankheit, Alter und Tod“, Trauergruppe (richtet sich an Menschen, die in einer Situation des Verlustes stecken, Unterstützung und Anregung suchen, wie sie mit dem Schmerz umgehen können), Sonntag, den 30.10. und/oder 27.11. von 10-18 Uhr mit Dorothée Jansen!

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