„Guten Tag“, sagen wir, und reichen uns die Hand. „Auf Wiedersehen“, sagen wir und umarmen uns. Wir heiraten in Weiß, wir trauern in Schwarz, die neugeborenen Mädchen bekommen rosa Kleidung, die Jungen hellblaue. Die Richter ziehen schwarze Roben an, besonders eilige Wahlverfahren führen die Abgeordneten des Deutschen Bundestages mit dem sogenannten Hammelsprung durch. Unser Leben ist geprägt von Riten und Ritualen.

Ein Ritual kommt selten allein

Mit der Geburt eines Kindes beginnen die Rituale. Vielleicht lässt man es taufen oder wählt einen anderen Ritus als Begrüßung in das Leben. Der erste Schultag wird mit Schultüte und Feier in der Aula, die die älteren Schüler für die Erstklässler ausrichten, rituell begangen.
Mit acht oder neun Jahren – also vor der Pubertät – wird man nicht nur, wenn auch sehr bedingt, geschäftsfähig, sondern man geht vielleicht zur ersten Heiligen Kommunion, und nach der Pubertät – mit 14 oder 15 Jahren – wird man konfirmiert oder gefirmt. Auch die Jugendweihe ist ein solcher Initiationsritus, der den heranwachsenden Menschen in die Riege des Erwachsenenlebens aufnimmt. Der Schulabschluss, der Gesellenbrief oder das Diplom, die erste große Liebe, vielleicht eine Heirat, dann das erste Kind, und die Riten wiederholen sich.

Neben diesen Ritualen des Lebenszyklus gibt es aber auch Feierrituale, Rituale der Freude, Rituale in Kulturräumen. Dabei kommt es manchmal gar nicht darauf an, ob ein Ritus im Einzelnen verstanden wird, sondern es kommt vielmehr darauf an, dass man diesen vollzieht. Und so gibt es viele Menschen, die den Sinn von dem Weihnachten, das sie in diesen Tagen feiern, gar nicht kennen. Und trotzdem stellen sich die Menschen einen Weihnachtsbaum in die Wohnung, beschenken sich und bereiten ein aufwändiges Festessen zu. Es werden Geburtstage gefeiert, Muttertage und Vatertage, man feiert Richtfest oder Karneval.

Als eine weitere Form von Ritualen kann man diejenigen bezeichnen, die den Alltag regeln bzw. klären. Ein Kindergartentag beginnt mit dem „Morgenkreis“, ein Arbeitstag beginnt mit einer Teambesprechung, ein Mittagessen beginnt vielleicht mit einem Tischgebet oder dem „Guten Appetit“.
In vielen deutschen Familien wird um sieben oder acht Uhr abends, je nachdem, welches Programm bevorzugt wird, der Fernseher eingeschaltet, weil dann die Nachrichtensendungen beginnen. Schließlich entwickeln Paare ihre eigenen Rituale als Ausdruck der Zusammengehörigkeit, der Zweisamkeit, und sie helfen ihnen dabei, sich in ihrer Beziehung nachhaltig zu stärken.

Der Begriff „Ritual“

Ein Ritus hat also so gesehen mit wichtigen Ereignissen in einem Leben, in einer Beziehung oder in der größeren Gemeinschaft zu tun und ist zunächst einmal ganz allgemein ein feierlicher religiöser Brauch oder einfach ein Zeremoniell oder einfach eine regelmäßige Handlung.
Der Begriff des Ritus geht zurück auf das alte indische Wort „ria“, das so viel bedeutet wie „heiliger Brauch“. Der Begriff ist ethymologisch verwandt mit Reim. Reim heißt ursprünglich Reihe, Zahl, Zählung wie zum Beispiel die Zählung in einem Kalender. In der Poetik, der Lehre von den Reimen und Versen, wird Reim etwa ab dem 17. Jahrhundert als Verszeile, als Verspaar bezeichnet. Da es sich bei Riten um Handlungen von Menschen handelt, sind die Handlungen rituell, die zum Ritus gehören.
Eine ganze Reihe von rituellen Handlungen, die immer wieder quasi wie gezählt durchgeführt werden, nennt man Rituale. Feierliche Formen wie z.B. die Verheiratung oder die Beerdigung sind solche Rituale, wie sie schon der römische Jurist Cicero als vom Zivilrecht vorgeschriebene Form beschreibt. Schon die Tatsache, dass bereits vor Tausenden von Jahren Rituale in diese juristische Form gegossen worden sind, deutet darauf hin, dass ein Ritual als eine kulturell gebundene menschliche Handlung begriffen werden kann, die sowohl unsere Lebensbereiche und -phasen nicht unerheblich prägt, weil sie diesen Strukturen gibt, sondern vor allem auch, weil sie über den Alltag hinausreichende Zusammenhänge herstellt. Aber was ist der eigentliche Sinn von Ritualen?

Ritual und Gemeinschaft

Riten und Rituale stärken unser Leben. Rituale sind ein Ort unserer Selbstfindung, sind ein Ort, an dem wir uns aus unserer naturgegebenen Einsamkeit heraus bewegen können. Sie sind ein Ort für intensive Gefühle, gemeinsame Vorstellungen und Erwartungen. Rituale verknüpfen die Zeit, können den Widersprüchen zwischen Ideal und Wirklichkeit standhalten und den Wandel von Beziehungen überbrücken. Sie bilden ein sicheres Gerüst, das neue Bezugsmöglichkeiten schaffen kann. Sie sind Ausgangspunkt für einen gemeinsamen Austausch, sind Beginn eines sozialen Kreislaufs, in dem wir unsere gemeinsamen Erfahrungen in gleicher Weise verstehbar machen können und verstehen können. Sie ermöglichen so einerseits etwas Gemeinsames, etwas, das wir in den wichtigen Phasen unseres Lebens mit anderen Menschen „rituell“ teilen können, andererseits geben uns Rituale die Möglichkeit, unsere Welt einfacher und handhabbarer zu machen, sie erleichtern Entscheidungen, sie machen das Leben praktisch, sie geben auch Ordnung und Sicherheit. Und dies tun sie auch insofern, als dass sie unsere im Ritus entstandene Gemeinschaft gegen andere abgrenzen. Durch diese Abgrenzung schaffen wir uns Identität und können uns selbst als darin aufgehoben erleben. Rituale können dadurch auch Antworten auf die Grundfragen unserer Existenz geben, indem wir uns im Ritus gegenseitig unseres aufgehobenen Seins miteinander versichern können.
Rituale sind also Ausdruck gemeinsamer Aktivität, sie können Freiräume schaffen z. B. für Zweisamkeit, sie transportieren Botschaften, sie sind Anstoß für Entwicklung und können sogar als Stresspuffer wirken. Rituale kann man so betrachtet als eine Form des Dialogs, sozusagen als Kommunikationsmittel begreifen. Die Widersprüchlichkeiten des Alltags können wir mit Hilfe von Ritualen überwinden, wir können mit Hilfe von Ritualen Kontakt herstellen, wir können uns in ihnen intensiv begegnen.

Ritus und Heilung, Freiheit und Veränderung

Schließlich verfügen Rituale auch über heilende Wirkung. Indem sich der Mensch in seinen Ritualen Gemeinsamkeit schaffen kann und Austausch und gegenseitige Wertschätzung fördert, kann er positive Erfahrungen aufbauen. Dadurch wird es ihm möglich, sich von Krisen zu erholen, und er kann etwas an Kraft und Zusammenhalt gewinnen, Beziehungen neu gestalten und sie neu organisieren.
Rituale sind aber nichts Statisches. Das Leben ist lebendig – Leben heißt Veränderung und Dynamik. Und das heißt auch, dass wir stets mit neuen Umständen, Lebensbedingungen, Rollen und Bedürfnissen rechnen müssen. Und dies bringt auch immer einen neuen Bedarf an Ritualen mit sich. Deswegen ist es wichtig, dass man bei Ritualen darauf achtet, dass sie nicht bedeutungsleer werden oder ihre positiv aufbauenden Botschaften verlieren. Was zunächst Sinn stiftete, Verlässlichkeit und Stabilität hervorrief, wird dann zu zwanghaften Mustern, die vermeintlich gebraucht werden, und verhindert so eine wirkliche gemeinsame Entwicklung. Insofern haben Rituale trotz ihrer Bindungskraft auch ganz viel mit Freiheit zu tun. Denn auf Rituale muss man sich einlassen, ebenso wie auf die Gemeinschaft, die diese Rituale lebt. Man muss sich frei dafür entscheiden können, denn der Zwang zum Ritual verhindert die positive Wirkung des Rituals. Und insofern sind Rituale ein „symbolon“ (griechisch für „zusammen“ – „geworfen werden“) und ein Urphänomen menschlichen Daseins – oder: Rituale sind ein Überlebensfaktor.

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