Wie die WAKE-UP-Dimension hilft, Herausforderungen gelassen zu begegnen…

von Padma Wolff und Torsten Brügge

Das Leben ist kein Zuckerschlecken! Und das ist auch gut so, sagen Gesundheitsbewusste. Und tatsächlich: Krisen gehören dazu. Individuelle Lebenskrisen kennen wir alle: Beziehungsverlust, Krankheit, Trauma, Konfrontation mit Alter und Tod. Sie erschüttern unsere persönliche Welt. Jetzt kommen kollektive Herausforderungen dazu: Klimawandel, Finanzkrisen, Epidemien, Krieg. Die Phase gesicherten Wohlstands, die wir für selbstverständlich hielten, gerät ins Wanken. Wir fühlen uns bedroht. Können wir trotzdem gelassen bleiben? Dürfen wir uns inneres Glück erlauben? Können wir solche Krisen als Entwicklungschance nutzen – für uns und das Leben auf unserem Planeten? Ja. das können wir.

Die Voraussetzung dafür ist die Stärkung der Resilienz. Einleuchtende Impulse dazu liefert das Integrale Modell von Ken Wilber. Wissenschaftliche Erkenntnis und Spiritualität verbindend, nennt es vier Grunddimensionen: WAKE UP, GROW UP, CLEAN UP, SHOW UP. (In einer sechsteiligen Serie zum Integralen Modell widmen wir uns dem Thema auf www.sein.de in den nächsten Monaten im Detail.)

Hier skizzieren wir die Dimension WAKE UP. Wilber überträgt mystische Erkenntniswege in eine moderne Form. Bei WAKE UP geht es um das Erwachen zum Zeugenbewusstsein. Also zu jenem Sein jenseits der Dualität, das unser persönliches Ich transzendiert – und zugleich integriert. Eine einfache Frage führt dorthin. Es ist die Frage, die ebenso in der griechischen Philosophie des Sokrates wie in der indischen Weisheitslehre des Advaita empfohlen wird: „Wer (oder was) bin ich?“ Die Frage lädt ein, dem reinen Bewusstsein nachzuspüren, das unsere persönlichen Erfahrungen wahrnimmt. Dieses Beobachter-Bewusstsein ist sich der wechselnden persönlichen Selbstbilder, Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen stets bewusst. Gleichzeitig bleibt es als formloser Hintergrund unbeeinträchtigt (Ein Bewusstseinsexperiment dazu findest du im Kasten auf der nächsten Seite).

Die Frage und das Nachspüren offenbaren ein Einssein des reinen Bewusstseins mit den im Vordergrund auftauchenden Erscheinungsformen. Weltzugewandtheit aus friedvoller Liebe wird damit möglich.

Unterstützendes Bewusstseinsfeld

Das kann jeder und jede für sich selbst entdecken. Es gibt aber auch einen unterstützenden Effekt: den Effekt der Gemeinsamkeit. Darauf wies der Buddha hin, als er von der hilfreichen Wirkung der Sangha sprach: Kommen viele Gleichgesinnte zusammen, schafft das ein unterstützendes Bewusstseinsfeld. Frieden, Verbundenheit, Grundvertrauen werden leichter zugänglich. Aus Sicht heutiger Trauma-Forschung ist dieser Effekt auch neuronal erklärbar. Eine Gruppe von Nervensystemen, die sich in einem Grundmodus der Entspannung befinden, kann für ein einzelnes Nervensystem im Bedrohungserleben heilsam wirken. Angstreaktionen regulieren sich durch Spiegelung der Anderen herunter. Eingefrorene Ohnmacht löst sich. Gefühle dürfen frei fließen. Überaktivierung legt sich, es stellt sich Ruhe ein. Das zuvor verängstigte Nervensystem findet zurück zu einem Wohlsein in Frieden.

 Erst von da aus stehen Intelligenz und Intuition für kreative Krisenbewältigung zur Verfügung. In der Praxis ist eine genau über die weitreichenden Folgen von Traumata und deren Behandlung informierte Gruppenleitung hilfreich, die dieses Feld eröffnet und wirksam hält. In solchen Heilfeldern können wir uns in unsicheren Zeiten erfrischen. Wir gewinnen die Kraft, den Anforderungen der Krisen gelassen und handlungsfähig zu begegnen. Und vielleicht sind wir sogar dankbar, dass wir herausgefordert werden, gleichzeitig zu wachsen und uns tiefer zu gründen in dem, was immer schon heil war und bleibt.

Bewusstseinsexperiment

Zeugenbewusstsein als Raumerleben erschließen

Wir können der Frage „Wer (oder was) bin ich?“ auf verschiedene Weisen nachgehen. Die folgende Variante nutzt die Fähigkeit, unserem sinnlichem Raumerleben nachzuspüren: Beobachte ein paar Atemzüge lang deinen denkenden Geist. Du kannst auch aktiv einen Gedanken hervorrufen. Es reicht schon der Gedanke: „Ich suche nach einem Gedanken.“ An welchem Ort in deinem Erlebensraum findet dieses Denken statt? Wo würdest du es verorten? In deinem Kopf? Um deinen Kopf herum? Eher links oder rechts, eher oberhalb deiner Stirn oder tiefer? Eher vorne oder hinten? Wie groß fühlt sich der „Denkbereich“ an: Klein wie ein Tischtennisball oder eher groß wie ein Handball oder noch viel größer? Ganz anders geformt? Nun spüre dem „Ich-Bereich“ nach, von dem aus du diesen Denkbereich – oder den erzeugten Gedanken – wahrnimmst. Denn wir sagen ja: „Ich nehme meine Gedanken wahr.“

Also muss das Ich, das die Gedanken wahrnimmt, etwas anderes sein und sich an einem anderen Ort befinden als die Gedanken selbst. Wo wäre der Ort dieses Ichs gerade jetzt für dich? In welcher Höhe? Eher links oder rechts? Eher vorne oder hinten? Wie groß in etwa fühlt er sich an? Lass dir Zeit für dieses recht ungewöhnliche Nachspüren. Du kannst auch durch „Unterschiedsbildung“ ausprobieren: Fühlt es sich stimmig an, wenn du sagen würdest „Mein Ich ist im Fuß und nimmt von dort aus die Gedanken wahr“? Vermutlich nicht. Dann spür noch mal nach, welcher Ort sich als stimmiger für den Ich- Bereich erweisen könnte. Viele Menschen verorten ihr persönliches Beobachter-Ich hinten oben im Schädel – oft auch etwas außerhalb schwebend oder teils teils. Vielleicht fühlt es sich für dich aber auch ganz anders an. Wie zeigt es sich gerade jetzt? Eine vage Ahnung reicht.

Wo denke ich?

Jetzt folgt ein noch ungewöhnlicherer aber auch ungewöhnlich befreiender Schritt: Werde dir noch mal der Orte des Denkbereiches und des Ich-Bereiches bewusst. Nun erlaube dir, neugierig zu werden, in welchem Bewusstseinsraum diese beiden Bereiche auftauchen oder enthalten sind. Das kann sich so anfühlen, als würdest du eine Art Raumfühler sanft in alle Richtungen ausstrecken und die Weite um dich herum erfühlen. Oder du wirst dir – manchmal urplötzlich – bewusst, dass sowohl der Raum des Denkens als auch der Raum des Ichs in einem viel weiteren Raumbewusstsein erscheinen und verschwinden.

Öffnen wir uns diesem ausgedehnten Raumerleben, zeigt sich uns oft ein stilles Staunen als ungreifbare aber bleibende Weite hinter allem. Wir finden keine Worte, denn jedes Wort wäre nur wieder eine Beschreibung innerhalb des Denkraumes, schon zu klein und zu beschränkend. Wortlos dürfen wir zulassen, dass unser zuvor begrenztes Ich-Gefühl sich in die Weiträumigkeit hinein löst und nichts bleibt als eine freie Bewusstseinsweite. Werden wir wach für diese Raumbewusstheit, geht das oft mit Glücksgefühlen einher. Der Raum an sich braucht ja nichts. Er will nichts und will auch nichts weg haben. Er ist einfach nur da, genügt sich selbst. Er bleibt unversehrt, egal, was sich in ihm bewegt, neu entsteht oder wieder vergeht. So offenbart sich uns eine bedingungslose Erfüllung jenseits der Bedürfnisse unseres persönlichen Ichs und seiner Krisensorgen. Dieses transzendente Glück schenkt uns Frieden und macht uns frei.

Es gibt uns auch die Kraft, heftige Herausforderungen mit Gelassenheit und Ruhe zu meistern. Du kannst das oben beschriebene Experiment auch mit Gefühlen und sogar Körperempfindungen ausprobieren und wirst finden: Im Bewusstsein unserer transzendenten (überweltlichen) Weite hat all unser immanentes (weltliches) Erleben – und sogar unsere persönlichen ebenso wie kollektiven Krisen – Raum, voll zur Erfahrung zugelassen zu werden und dadurch heilsam in das größere Ganze eines befreiten Lebens integriert zu werden.

Weitere integrale Dimensionen der Krisenbewältigung

GROW UP – erklärt die Kulturkämpfe der Entwicklungsebenen in uns und der Welt und zeigt, wie Befriedung möglich ist

CLEAN UP – führt Schattenanteile (unbewusste Emotionen, Abwehrmechanismen, Traumata) zur Integration, damit wir heil und authentisch werden

SHOW UP – bringt die Polaritäten innen/außen und individuell/kollektiv zusammen, löst einseitige Sichtweisen und fordert auf, sich bewusst in die Welt einzubringen

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