Kein Mensch möchte sich ändern. Wir ändern uns im Erwachsenenalter meist nur noch durch Leiden – wenn der Druck nicht mehr auszuhalten ist und wir uns eingeengt oder gefangen fühlen. Heraklit – ein griechischer Philosoph der Antike – sagte einst: „Der Konflikt ist der Vater aller Dinge.“ Er ist tatsächlich Erzeuger jeglichen Wandels, denn ohne ihn ändert sich überhaupt nichts. Mushin J. Schilling erklärt, wie wir den Krieg in unserem Inneren für unsere spirituelle Entwicklung nutzen können. Um jenen Frieden zu entdecken, der wir in unserer Essenz sind.
All unsere Energie ist normalerweise darauf ausgerichtet, den Status Quo aufrecht zu erhalten. Es ist der Selbsterhaltungstrieb, die Art und Weise, wie alle Lebewesen ihre Integrität beibehalten. Den Status Quo aufrecht zu erhalten, ist also buchstäblich ganz natürlich – kein Grund zu sagen: „Was bin ich doch für ein Blödmann, ich könnte mich doch ändern. Ich versuch’s immer wieder, aber irgendwie krieg ich es einfach nicht hin; ich bin ein Idiot!“ Wenn du also nach dem Grund für das viele Leiden in dieser Welt suchst, dann bedenke, dass dieses Universum auf Evolution und somit Wandel aufbaut und dass sich zugleich jedes Wesen dagegen sträubt. Erst, wenn wir nicht mehr bekommen, was wir brauchen und wollen: Nahrung, Sex, ein Dach über dem Kopf… wenn unser Leben bedroht ist, ändern wir uns. Oder sterben. Das ist in der gesamten Natur der Fall, ob uns das nun gefällt oder nicht.

Wir brauchen Druck

Es ist also immer Druck nötig, Katastrophen, Kriege, Konflikte, wenn Wandel geschehen soll. Und genau an diesem Punkt haben wir ein fantastisches Werkzeug zur Verfügung. Die Vernunft, die uns Einsicht verschafft in unser Schicksal und unsere Entwicklung. Und die Einsicht lautet: Wer sich ändern will (oder soll), bekommt es mit Widerstand zu tun, und bei essenziellem Wandel – und um den geht es hier – mit zähem Widerstand.
Ich mache mir vielleicht keine Freunde damit, aber ich sage es hier trotzdem: Wenn du dein höchstes Potenzial entwickeln willst, wenn du in diesem Leben den inneren Frieden finden willst, dann befindest du dich im Krieg. Dem musst du ins Auge blicken. Da hilft kein Jammern und Wehklagen. Kein Wandel, keine Entwicklung, keine Entfaltung, keine Vertiefung der Seele ohne Konflikte und Widerstände – Krieg also. Und die Widerstände, mit denen du es zu tun hast, sind nicht wie die Armee von Saddam Hussein, die sich erst angeberisch auf die Brust trommelt und plötzlich wie vom Erdboden verschluckt ist. Der Widerstand gegen essenziellen Wandel ist eher wie der Vietcong. Wenn du gerade an einer Front Fortschritte machst, taucht er plötzlich im Hinterland auf, in den Gebieten, von denen du dachtest: „Die hatte ich doch schon gesichert.“
Aber der Widerstand sagt dir auch noch etwas anders – wenn du Widerstand spürst, weißt du, dass du dich in einer veränderungstypischen Dynamik befindest. Wer es sich bequem gemacht hat, spürt keine Widerstände. Es gibt nur Widerstand, wenn du dich in Bewegung setzt. Das kann Mut machen und den brauchst du, wenn du dich ändern willst, Mut, dich dem Widerstand zu stellen. Und eine Art, dich ihm zu stellen, ist dich daran zu erinnern: „Ich muss auf dem richtigen Weg sein, denn ich spüre Widerstand.“

Wichtigste Ressource: Durchhaltevermögen

Eine weitere Ressource, eine sehr seltene dazu, die du bei essenziellem Wandel brauchst, ist Durchhaltevermögen. Viele Menschen legen mutig los – aber dann wird der Widerstand zu groß und sie geben auf. Wer mal versucht hat, mit dem Rauchen aufzuhören, weiß das. Und häufig hat man dann nicht nur diesen einen Kampf verloren, sondern den gesamten Krieg. Denn man nimmt das verlorene Scharmützel nur allzu leicht als Anlass, sich total geschlagen zu geben.
Ein anderes Beispiel. Du sagst vielleicht: „Ich will jeden Morgen eine Stunde früher aufstehen – um 7 Uhr“, und dann stehst du doch um 8 oder 9 auf. Durchzuhalten heißt dann, sich dennoch erneut zu sagen: „Morgen stehe ich um 7 Uhr auf.“ Und auch wenn du zehn Tage hintereinander um 8, 9 oder 10 aufstehst, sagst du dir immer wieder: „Morgen stehe ich um 7 auf.“ Das ist Durchhaltevermögen. Du sagst: „Auch wenn ich ein paar Kämpfe verliere, werde ich diesen Krieg gewinnen.“ Das heißt, du bist bereit all deine Energien, die in tausend und eine Richtung tendieren, zu sammeln für die Schlacht, die geschlagen werden muss. Sich wirklich zu ändern, ist ein kriegerisches Unterfangen.

Unterstützung von Mitstreitern

Was die Buddhisten Sangha nennen, spielt beim essenziellen Wandel eine wesentliche Rolle: die Gemeinschaft der Praktizierenden. All diejenigen, die den Weg leben, stärken die rare Ressource „Durchhaltevermögen.“ Allein ist dieser Krieg, an dessen Ende unzerstörbarer innerer Frieden steht, nicht zu gewinnen. Du brauchst Mitstreiter, Menschen, die dich unterstützen, wenn du schon wieder einen Kampf verloren hast, wenn du dich in allerlei Scharmützeln verzettelt hast. Zum Beispiel die unnötigen und Kraft raubenden Gefechte mit dir selbst. Niemand hat etwas davon, wenn du dir deine inneren Konflikte übel nimmst. Das ist einfach nur ein weiterer „Kriegsschauplatz“. Du hast nichts davon, Konflikte zu verneinen und zu sagen: „Ich will keine Konflikte haben.“ Da könntest du genauso gut sagen: „Universum, Evolution, pack ein! Ich weiß es besser. Es geht ohne Konflikte.“

Die drei Wege

Ich kenne im Großen und Ganzen drei Möglichkeiten, diesen Weg zu gehen und den Krieg zu gewinnen. Am besten kenne ich die Möglichkeit, die ich selber radikal und unentwegt genutzt habe – kontinuierlich meine Energie auf das zu richten, was ich als meine tiefste Wahrheit erkannt hatte. Immer zu forschen: „Was ist meine tiefste Wahrheit jetzt?“ und entsprechend zu handeln – egal, wie sie aussieht.
Eine andere Möglichkeit ist Hingabe; sich jemandem – und in diesem, Gott, dem Tao, der allumfassenden Liebe oder wie du das auch immer nennen möchtest – hinzugeben. „Nicht mein Wille geschehe, sondern Dein Wille geschehe,“ wie Jesus sagte. Diese Möglichkeit wird allerdings in unserer westlichen Welt nur selten genutzt, denn nur wenige trauen sich das. Das ist auch nicht verwunderlich in einer Welt, die den Individualismus, die Beherrschung, die Selbstbehauptung und das Geltungsbedürfnis so positiv bewertet.
Die dritte Möglichkeit ist: der Dienst; etwas Größerem oder einem Menschen von ganzem Herzen zu dienen, ohne dafür etwas zurückhaben zu wollen, ohne irgendetwas dafür zu verlangen. Diese Möglichkeit wird jedoch aufgrund der historischen Erfahrungen, die wir vor allem in Deutschland damit gemacht haben, nur außerordentlich selten wahrgenommen. Aber natürlich kommen immer mehrere Aspekte zusammen und niemand nutzt ausschließlich eine der drei Möglichkeiten.

Der Wahrheit verpflichtet

Wenn du mit Konflikten konfrontiert bist, mit Widerständen, frage dich: „Was ist wahr? Was stimmt?“ Und dann hör zu, die tiefste innere Wahrheit entdeckt man durch Lauschen. Dies muss dir zur Praxis, zur zweiten Gewohnheit werden. Egal, was passiert, du hast dauernd ein Auge auf den inneren Seismograf, der dir kontinuierlich zeigt, wo es langgeht. Du folgst der tiefstmöglichen Wahrheit. Immer. Der, die dir derzeit zugänglich ist. Du kannst nicht von der Oberfläche in die tiefsten Tiefen steigen, ohne mutig und durchhaltend eine größere Strecke hinter dich zu bringen. Aber du hast immer nur Zugriff auf die nächst tiefere Wahrheit und erst, wenn du diese verwirklicht hast, wenn sie sozusagen „Fleisch und Blut“ geworden ist, eröffnet sich die die nächst tiefere usw.
Der spirituelle Weg ist ein natürlicher Prozess, den du in der Essenz nicht steuern kannst. Aber du kannst ihm folgen, Schritt für Schritt. Mehr wird von dir nicht verlangt – deshalb ist die Konfliktstrategie der natürlichen Entwicklung so fantastisch, denn sie hat zu dieser enorm mannigfaltigen, komplexen, vielschichtigen Welt geführt, in der wir uns immer weiter entfalten können und immer größere Tiefe gewinnen. Diese Strategie der Natur ist extrem erfolgreich. Also, wenn du auf die Schnauze fällst, verfluche dich nicht dafür, sondern steh auf und geh weiter.
Denn wenn du deinen tiefsten Energien folgst, wirst du immer wieder abdriften… und die Gedanken blubbern. Wenn du das als Anlass nimmst aufzugeben, kannst du nicht tiefer gehen und bleibst wo du bist – oder wirst zurückgeworfen. Aber statt dessen lässt du den letzten Moment fallen, richtest dich anhand deines inneren Seismografen neu aus und folgst weiter der tiefsten Energie. Du lässt die Gedanken und Bilder fallen und gehst weiter. Eine Ebene tiefer.

Kampf mit den Gedanken

Oder ein Konflikt in einer Beziehung: Dein Partner macht dir gerade die Hölle heiß und weil du es dir zur kontinuierlichen Praxis gemacht hast, bist du wach genug, das zu sehen, und gehst eine Ebene tiefer. Das ist wie bei der Meditation. Du sitzt und nach einer Weile wird alles in dir still, wunderbar still und plötzlich kommt „Trara!“ so ein blöder Gedanke daher und macht dir die ganze Stille zunichte. Und dann fängst du an, mit dem Gedanken zu boxen und ehe du dich versiehst, bist du wieder in ein riesiges inneres Scharmützel verwickelt. Aber du schaust eine Ebene tiefer. Und so macht dieser Konflikt dich weiter, größer und du entdeckst, dass du der Raum bist, die offene Weite, die unendliche Tiefe. Und irgendwann ist dieser Raum so groß, dass 27 Paraden gleichzeitig darin rumbollern können und der Krieg ist vorbei: Da sind Gedanken, na und? Da sind Konflikte, na und? Dein Frieden ist groß genug, um das alles zu enthalten.
Aber du kommst nicht dorthin, indem du Kriege vermeidest, indem du Konflikten aus dem Weg gehst, indem du den inneren Kampf aufgibst, bevor er sein Werk getan und du dich über dich hinaus entwickelt hast.
Also jedes Mal, wenn du in einen inneren Konflikt gerätst, sag: „Hurra!“ und nutze ihn. Nutze ihn, um das zu tun, was dir deine tiefste innere Wahrheit eingibt. Dann macht dieser Krieg dich achtsamer, bewusster, offener, weiter und klarer. Kriege hören nicht dadurch auf, dass man will, dass sie aufhören. Kriege fressen sich selbst und nichts als offene Weite bleibt übrig: Dann tritt ein Frieden ein, der alle Vernunft übersteigt.

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