Warum wir Beziehungen für unsere seelische Heilung und unser Wachstum brauchen,,,

von Ines Koßmagk

Der Beginn – Ich bin

Beziehungen bestimmen ganz grundlegend unser Leben – es entstand ja eben daraus, dass zwei Menschen einst sehr stark aufeinander bezogen waren. Und es war über Jahre davon abhängig, dass wir in enger Bindung versorgt, geliebt und berührt wurden, wie auch immer die genauen Umstände waren. Wir entstanden quasi aus dem Nichts und fanden Identität durch Abgrenzung gegen die Umwelt und in der Begegnung mit ihr. Mit den Worten Martin Bubers: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“ So ist der Beginn der Individuation, der Ichwerdung, die Erfahrung, dass ICH als eigenständiges Wesen aus der Verschmelzung mit (meist) der Mutter heraustrete und mir meiner selbst bewusst werde. Sobald ich mich als getrenntes Ich erfahre, gibt es erst den Anderen, dann die Anderen und schließlich erlebe ich mich in Beziehung mit allem um mich herum. Und die Welt wird größer und größer, während ich aufwachse…

Wer bin ich?

Nach der Realisation der eigenen Existenz kommt die Frage auf, wer oder wie ich bin. Was ich über mich selbst annehme, wird zunächst massiv davon bestimmt, was die engsten Bezugspersonen mir über mich vermitteln. Besonders als Kind übernehme ich fast ungefiltert Du-Botschaften meiner Eltern oder Versorger. Wenn mir die Botschaft begegnet, dass ich wertvoll sei und eine Bereicherung für die Welt, dann werde ich das als Überzeugung übernehmen.

Dagegen werde ich meinen eigenen Wert in Frage stellen oder geringschätzen, wenn mir vermittelt wird, ich sei störend, eine Belastung und kaum auszuhalten. Darüber hinaus nehme ich auch auf, was unausgesprochen im Familiensystem schwingt. Ich glaube zu sein, was andere (über mich) sagen und identifiziere mich unbewusst auch mit Erfahrungen meiner Eltern, Großeltern und auch Generationen zuvor. In meiner weiblichen Linie zum Beispiel wiederholte sich die Erfahrung von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein. Aggression wurde unterdrückt beziehungsweise „eingefroren“ und auch ich habe große Angst vor meiner eigenen Aggression, obwohl sie mich doch beschützen kann. Was im Familiensystem noch nicht gelöst oder integriert wurde, trage ich so als Konflikt in mir weiter. Eine Abgrenzung und Erweiterung des übernommenen Selbstbildes geschieht erst später. Nach C.G. Jung ist der Prozess der Individualisierung (Selbstverwirklichung) dann lebenslang und unvollendbar: Wir sind nie fertig, Entwicklung und Bewusstwerdung enden nicht in einem bestimmten Lebensalter. Generell aber gilt: Ich brauche Bezug und Relation, um mich zu erfahren. Aus der Perspektive von Bewusstsein beschreibt N. D. Walsh: „Ich kann nur in Beziehung zu etwas anderem die Erfahrung machen, dass ich bin“… und wie ich bin! Beziehung kann nur betrachtet werden, wenn erst einmal Getrenntsein impliziert wird: zwischen mir und den anderen, zwischen mir und Gott, zwischen Individuum und Umwelt.

Grenzen

Dabei ist es tatsächlich eine Definitionsfrage und auch in der Biologie viel diskutiert, wo die Grenzen des Einzelnen sind. Es gibt riesige Espenwälder, deren einzelne Bäume sich bei näherer Betrachtung als genetisch identisch erwiesen und tatsächlich, da rein aus vegetativer Vermehrung über das Wurzelsystem entstanden, ein Organismus sind. Einige Symbiosen, wie sie zwischen Bäumen und Pilzen auftreten, sind von so starker gegenseitiger Abhängigkeit, dass eine Art ohne die andere nicht existieren könnte. Es ließen sich viele weitere Beispiele finden, die die Idee von klarer Abgrenzung im Leben ad absurdum führen. Dennoch müssen wir mit Grenzen umgehen. In der Humanpsychologie spielen die Ich-Grenzen eine zentrale Rolle bei der Kategorisierung von Störungsbildern… grob vereinfacht wird als neurotisch beschrieben, wo das Ich enger und kleiner wird (zum Beispiel depressive und zwanghafte Störungen) und als psychotisch, wo die Grenzen zur Umwelt zu durchlässig, im Vergleich zur gesunden Norm erweitert oder verloren scheinen (Ich-Störungen). Einheitserfahrungen fallen nach dieser Definition, die eine spirituelle Betrachtungsweise nicht einbezieht, in den psychotischen Bereich. Dagegen bezeichnet der Schweizer Psychiater Samuel Widmer den Durchschnittsmenschen, der innerhalb der Gesellschaft gut funktioniert, augenzwinkernd als Normalneurotiker.

Ich mit mir

Wenn ich noch weiter aufspalte und unterscheide, bin ich sogar mit mir selbst in Beziehung! Anschließend an obiges Beispiel kann ich mich selbst wertschätzen, meine Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse achten und gut für mich sorgen. Oder ich werte all das ab oder stelle es zwanghaft in Frage. Ich kann unerfüllbare Ansprüche an mich selbst haben, regelrecht hart gegen mich sein. Oder aber ich vertraue meinen inneren Bewegungen und Impulsen. Ich kann meinen Körper abwerten und seine Empfindungen, Spannungen und Schmerzen ignorieren, bis es so nicht mehr weitergeht und eine Krankheit mich zum Innehalten und zur Veränderung zwingt. Ich bin manchmal regelrecht erstaunt, wenn ich höre, wie Klienten mit sich selbst umgehen. Dann liegen mir schon mal Sätze auf den Lippen wie: „Wie redest du eigentlich die ganze Zeit mit dir?“ oder „Jetzt lass dich doch mal in Ruhe!“ (Ich behalte die Handlungsanweisungen aber bei mir, weil sie in einem ganz ähnlichen Ton herauskämen!)

Ich höre beispielsweise seitens der Klienten Selbstbewertungen bis hin zu heftigen Verurteilungen des eigenen Nichtgenügens, höre Selbstablehnung und Selbsthass, ganz selbstverständlich mitgeteilt. Und das einfach anzuhören, ohne es wegmachen zu wollen, ist für mich oft eine Herausforderung. Weil ich es doch kenne. Weil ich es erkenne, mich erkenne, im Früher – und manchmal auch noch im Jetzt. Wenn ich in diesen Situationen nicht meinen ersten Impulsen folge – die ja wieder nur „draufhauen“ würden, weil ich mich auf die Energie des Gesagten einlasse –, erlebe ich mich schmerzlich berührt. Und hierdurch verändere ich etwas. Ich bringe Annahme und Verletzlichkeit in den Raum, und das wiederum erzeugt Nähe und Weichheit, Mitgefühl. Wohl kann ich darauf hinweisen, was ich höre, aber erst, nachdem ich meine eigene Berührung zugelassen und angenommen habe. Annahme ist ein zentrales Merkmal heilsamer Beziehungen, und eine Vielzahl von Studien belegen, dass die Wirksamkeit von Psychotherapie entscheidend von der Qualität der Beziehung zwischen Therapeut und Klient bestimmt wird – recht unabhängig von der Form oder den Methoden der Therapie.

In einer respektvollen (therapeutischen) Beziehung kann erprobt, geübt und Neues erlebt werden – auch ein neuer Umgang mit sich selbst. Da die eigene Persönlichkeit immer komplex und oft in sich widersprüchlich ist, kann es Sinn machen, verschiedene innere Tendenzen einzeln zu untersuchen und in ihrem ursprünglichen Sinn anzunehmen, um am Ende sich selbst in aller Komplexität entspannter aushalten, ja lieben zu können. So könnte man den inneren Antreiber oder Abwerter genauer kennenlernen, ihm mit Neugierde statt stumpfem Gehorsam oder Ablehnung begegnen. In der näheren Betrachtung findet man mehr über seine Motive, Fähigkeiten und Ängste heraus. Jeder unserer Anteile versucht, uns zu unterstützen oder zu beschützen. Am Ende kann eine ursprünglich als dysfunktional beurteilte Eigenschaft oder Gewohnheit neu bewertet, verändert oder sogar bewusst genutzt werden.

Ich im Anderen

Der Begriff der Spiegelung ist sehr beliebt im psychologischen Kontext. Im Buddhismus heißt es, das Auge könne sich selbst nicht sehen – eben nur im Spiegel. Der Spiegel sind die vermeintlich anderen und was ich in ihnen „sehe“. Vieles von dem, was ich meine zu sehen, sind allerdings pure Annahmen, Unterstellungen, Interpretationen, voreilige Schlüsse und beschreiben doch eher, was in mir ist, als dass es einen Wahrheitsanspruch über das Wesen der anderen erheben könnte. Ich liege natürlich nicht immer falsch mit meinen Annahmen, doch wie ich sie auch drehe und wende, als Projektion oder Wahrnehmung betrachte: In meinem Erleben habe ich sowieso die ganze Zeit mit mir selbst zu tun, da ich grundsätzlich alles durch die Brille meiner eigenen Erfahrungen und Prägungen betrachte. Im Anderen wird mir also als schwierig begegnen, womit ich in mir selbst noch nicht im Frieden bin. Ich kann zwar versuchen, dem entsprechenden Thema auszuweichen, doch werde ich ihm und damit mir wieder begegnen, an einem anderen Ort, in einem anderen Gegenüber. Ich glaube in diesem Zusammenhang an eine seelische Kraft, die nach Ganzheit strebt, eine Art seelischer Druck zur Integration oder Erweiterung des Selbstes oder Selbstbildes. Auch der Schatten, das, was ich an mir ablehne und nicht auszuhalten glaube, möchte gesehen und erfahren, die Schätze daraus gehoben, Verurteilungen in Mitgefühl gewandelt werden. Ich bin nicht schlechter oder besser als irgendein anderes Wesen auf der Welt, so oft ich mir das auch vormachen mag.

Beziehung sichert Leben

Nicht nur als Kleinkind ist der Mensch von seinen Bezugspersonen abhängig. Auch als Erwachsener ist die Überlebenschance in einer Gruppe sehr viel höher als im Einzelgängertum. Zum einen begünstigt das Leben im Stamm (oder in gesellschaftlicher Akzeptanz) mit den Vorzügen der Arbeitsteilung die essentielle Versorgung mit Nahrung und Schutz. Zum anderen spielt der psychische Aspekt von Beziehungen eine bedeutende Rolle im Zusammenhang mit dem Erleben von Glück, Erfüllung und Gesundheit. Psychische Gesundheit bekommt in der heutigen Zeit mehr und mehr Aufmerksamkeit – wie auch die Tatsache, dass sie von der körperlichen Ebene nicht zu trennen ist. Studien zufolge aktiviert Einsamkeit dieselben Gehirnregionen wie physischer Schmerz, erzeugt Stress. Zugleich steigen die Entzündungswerte, und die Immunabwehr sinkt. Umgekehrt kann Berührung oder psychische Nähe schmerzlindernd wirken.

Wie der Herzmuskel die vollständige Entspannung braucht, um von den anliegenden Blutgefäßen versorgt zu werden, so braucht unser Nervensystem Phasen der Entspannung, um leistungsfähig und gesund zu bleiben. In Notsituationen, wie zum Beispiel nach Unfällen, kann auch die Hand eines Menschen, den ich überhaupt nicht kenne, Schmerz lindern und Trost spenden. Doch sind es gerade langjährige, stabile und tiefe Bindungen, die uns zufrieden machen. Wer sich eingebunden fühlt, erlebt sein Leben als sinnvoller und erfüllter und lebt im Schnitt länger. Dass wir uns überhaupt mit der psychischen Komponente von Beziehung beschäftigen können – zum Beispiel mit Traumatherapie, um die beschädigte Basis für das Erleben von glücklichen Beziehungen zu „reparieren“ –, zeigt doch an, dass wir zumindest satt und warm untergebracht sind. Denn erst, wenn unsere Existenz, also das Überleben des Körpers, gesichert ist, können wir uns um Lebensqualität, um Beziehungen kümmern.

Beziehungen im Wandel der Zeit

Ob und welche Werte in einer Beziehung gepflegt oder gefordert werden, variiert geschichtlich und ist kulturell beeinflusst. Die Ehe beispielsweise war früher, wenn es nicht rein um Machtinteressen ging, sehr stark an den Zweck der Zusammenarbeit und Wirtschaftlichkeit gebunden. Heute gibt es viel mehr Raum für und Anspruch an Gefühle, die Ehe ist verbunden mit zum Teil romantisierten oder spiritualisierten Vorstellungen von Liebe. Schaut man sich verschiedene Beziehungen an, sieht man, dass sehr verschiedene Werte gelebt und mehr oder weniger gepflegt werden. Diverse Idealvorstellungen sind mit im Boot und alle möglichen Beziehungsformen können von Mutigen durchforscht werden: Fernbeziehungen, Patchworkfamilie, Polyamorie/freie Liebe oder Sexualität, klassische Kleinfamilie, Gemeinschaftsprojekte, Single mit Affären… all das vielfältig kombinierbar.

Neben der Individualisierung des Einzelnen scheint es auch eine Individualisierung des Paares oder der Familie zu geben. Letztlich darf jeder Einzelne herausfinden, was er sich in Beziehungen wünscht oder dort braucht und bereit ist zu investieren. Es stellen sich Fragen wie: Was verbindet die Menschen im Konkreten, was braucht jeder Einzelne für sich, und was braucht die Verbindung, um zu bestehen? Entsteht durch eine Beziehung Raum für Neues? Können beide gemeinsam zur Ruhe kommen und wirken für die Gemeinschaft – oder spielen Dramen die Hauptrolle und fressen Zeit, Energie und Aufmerksamkeit nicht nur bei beiden, sondern auch bei denen drumherum? Habe ich Sehnsüchte und Projektionen, die sich an meinem Gegenüber festhaken und die wir dann gemeinsam durcharbeiten müssen, damit ein wirklicher Liebesfluss entsteht? Welchen Zweck hat die Beziehung überhaupt? Erlebt jeder im Endeffekt mehr oder weniger Kraft, Schönheit und Liebe? Beziehung stärkt, weil sie Halt geben kann. Und Beziehung fordert heraus, weil sie konfrontieren kann. Es braucht eine Ausgewogenheit, denn auch Beziehungsarbeit kann einen ausbrennen. Da wären wir dann wieder bei „Wie gehe ich mit mir um, was verlange ich mir ab? Wie gut kenne ich meine Grenzen – und achte ich sie?“. Stabile Beziehungen vermitteln Sicherheit, Eingebundensein und Orientierung im Leben. Und gestützt von Ressourcen können wir auch wachsen, uns entwickeln, überholte Selbstbilder einstürzen lassen.

Die Beziehung zum Leben selbst

Doch natürlich können wir uns nicht nur mit Menschen mehr oder weniger verbunden erleben, sondern auch mit dem Leben an sich. Durch die zunehmende Entfremdung unserer Lebensweise von unserer ursprünglichen Natur und belebten Umwelt verändert sich die Qualität des Gebens und Nehmens. Wer nimmt noch dankbar, statt sich einfach zu bedienen? Global betrachtet findet eher eine Ausbeutung von Ressourcen statt, als dass die Menschheit sich als einen Teil eines Ökosystems sieht, das auch Pflege und Schutz braucht. Und wer gibt noch selbstvergessen und außerhalb narzisstischer Motive? Wie bewusst bekommen wir unser diesbezügliches Verhalten mit? Etwas weniger Drang, die eigene Person als besonders anzusehen und in den Vordergrund zu stellen und etwas mehr Anerkennung der Gleichheit im Wesen täte uns allen gut, ließe die Angst voreinander aufweichen, mehr Demut und Liebe in unser Leben einkehren. Kürzlich sagte jemand zu mir: „Du liebst die Natur, nicht wahr?“

Für mich klang das so seltsam… als würde ich hier stehen und da die Natur sehen und diese mögen… Meine spontane Antwort war: „Naja, ich BIN Natur.“ Ich erlebe ja Pulsation, Rhythmen, Kreisläufe, Atem in mir, Inspiration, natürlich auch Grenzen, Bedrohung, alles in einem Fluss… Im Erleben des scheinbar ewigen Durchströmens all dieser verschiedenen Eindrücke in mir, in anderen, in allem, lande ich wieder da, wo es anfing. Ich bin. Das geht nie verloren, wie eng es sich auch gerade anfühlen mag in einem Streit, nach einer Trennung, frisch verliebt oder enttäuscht. Ich bin und ich teile die Erfahrungen der Menschen, mit denen ich in Beziehung bin, wenn ich mich darauf einlassen mag. Dann macht Beziehung mich reicher, größer, ganzer.

Eine Antwort

  1. Raimar Ocken
    Gute Beziehungen zu erzeugen, wird immer schwieriger

    Das Thema finde ich sehr wichtig und halte den Artikel im Großen und Ganzen für gut. Ich erlaube mir drei Punkte der Kritik:
    1. Zum „Wer bin ich“. Ich bezweifle, dass sich viele Menschen in den westlichen Nation die Frage nach dem „Wer und wie bin ich“ stellen.
    2. Zum Thema psychotisch oder neurotisch möchte ich auf eine einfachere Unterscheidung hinweisen. Der Neurotiker kann sein Fehlverhalten erkennen und benennen, aber nicht aus sich heraus beheben. Der Psychotiker verortet sein Problem nach außen und kann es ebenfalls nicht beheben. – Depressionen gibt es sone und solche: reaktiv oder endogen.
    3. Ich vermisse das Problem, dass immer mehr Menschen beziehungsgestört auf die Welt kommen, weil Zeugung und Geburt immer unnatürlicher werden, so dass eine gesunde Mutter-Kind-Bindung nicht zu Stande kommen kann.

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