Mitgefühl ist die Hochzeit zwischen Bewusst-Sein und Herz. Wie wir von einem Bindungstrauma zu echtem Selbst-Mitgefühl gelangen können.

Von Elisabeth Carlucci

Hyperempathie oder Hochsensibilität gegenüber anderen und deren Bedürfnissen wird fälschlicherweise oft als Mitgefühl wahrgenommen. In diesem Artikel geht es um Trauma, Selbstliebe und meine persönliche Reise zu wahrem Mitgefühl.

Hyperempathie als Entwicklung von Bindungstrauma

Kinder sind von ihren Eltern abhängig und es ist ihre genetische Pflicht, sie zu lieben. Verhalten sich Betreuer unausgeglichen, fehl am Platz, unreflektiert oder verletzend, verschließen sich Kinder oft vor ihren eigenen Emotionen. Um ihre Eltern zu regulieren und den Kontakt zu ihnen zu erhalten, entwickeln sie die Fähigkeit, andere mehr zu fühlen als sich selbst. Eine Art Hyperempathie. Dieses Abgeschnitten-sein von den eigenen Emotionen hilft ihnen, ihre Eltern weiterhin zu lieben und in einem System zu verweilen, dass sie durch Obdach, Liebe und Nahrung am Leben hält.

Meine persönliche Geschichte

Aufgrund familiärer Mustern hatte ich gelernt, mit einer bestimmten Bandbreite von Emotionen und damit mit Teilen von mir selbst nicht in Berührung zu sein. Unbewusst trainierte ich mir eine gewisse Härte an, um nicht alles fühlen zu müssen, was ich um mich herum wahrnahm.

Gleichzeitig war ich vom Naturell her immer positiv und passte mich jeder Situation gut an. Da ich im Grunde zufrieden war und wenig Probleme hatte, hatte ich immer ein offenes Ohr für die Sorgen und Probleme anderer.

Die Bedürfnisse anderer waren wichtiger als meine Eigenen

Heute verstehe ich, dass dies meine Art war, mit meinem Familiensystem umzugehen, meine Überlebensstrategie. Eine tiefe und authentische Verbindung zu mir selbst hatte ich jedoch dadurch verloren.

Als Erwachsene bemerkte ich, dass ich zwar meistens glücklich, aber nicht wirklich in Kontakt mit meinen Bedürfnissen und anderen Emotionen wie Wut oder Frustration war. Außerdem realisierte ich, dass ich andere mehr fühlen konnte als mich selbst. Daher priorisierte ich die Erfüllung der Bedürfnisse anderer über dem, was ich in einer Situation wollte und brauchte.

Das kollektive Trauma

Viele von uns haben Eltern, die sich nicht auf die Reise nach innen begeben haben, um ihre Traumata und psychischen Probleme zu heilen. Oft sind unsere Traumata auch Erbmaterial von den vorangegangenen Generationen.

Im deutschsprachigen Raum können wir auf zwei Weltkriege im 20. Jahrhundert zurückblicken. Die dort erlebten Traumata wurden leider bisher nur vereinzelt aufgearbeitet und spiegeln sich in unseren Familiensystemen und Gesellschaftsstrukturen wider.

Die Entwicklung von Überlebensstrategien

Um ein traumatisiertes Familiensystem und seine täglichen Lebensumstände zu bewältigen, entwickeln Kinder sogenannte Überlebensstrategien. Im Laufe der Zeit verhärten sich diese Strategien und werden zu Ego-Strukturen. Diese Entwicklungs- oder Bindungstraumata entwickeln sich in der Zeit zwischen Empfängnis und Teenageralter.

Trauma hat das Potential sich in Talent zu verwandeln

Wenn wir uns auf die Suche machen, und bereit sind, Schichten unseres Egos abzuschälen um emotionale, mentale und spirituelle Reife zu erlangen, begegnen wir früher oder später diesen Überlebensstrategien in uns.

Die gute Nachricht ist, dass diese Bewältigungsstrategien zu Geschenken werden können, wenn wir es wagen auf die Reise der Selbstfindung und Heilung zu gehen. Durch Bewusstwerdung unserer unbewussten Verhaltensmuster, können wir diese erworbenen Fähigkeiten nutzen.

Eines meiner wichtigsten Werkzeuge als Therapeutin und Coach ist die Gabe, andere zu spüren und daher intuitiv zu wissen, was ein System braucht um Gleichgewicht zu finden.

Beim Alleine-Sein spürte ich die Verbindung zu mir Selbst

Nach Jahren der Meditation, Bewusstseinsarbeit und des Yoga wurde mir klar, dass ich, wenn es um Beziehungen ging, einen Teil von mir aufgab. Ich sah, dass andere und ihre Bedürfnisse stets im Vordergrund meiner Wahrnehmung standen. Da dadurch meine eigenen Bedürfnisse nicht erfüllt wurden, musste ich manchmal hart reagieren oder zum Beispiel den Ort wechseln, um Grenzen zu ziehen und mit mir selbst in Kontakt zu kommen.

Da ich auf die Bedürfnisse anderer einging, war ich sehr beliebt

Die Betreuung der Bedürfnisse anderer machte mich zu einem beliebten Freund und Partner. Ich hatte langandauernde intime Beziehungen und viele Freunde und Bekannte. Mit der Zeit fiel mir jedoch auf, dass ich mit mir selber nur in Verbindung sein konnte, wenn ich alleine war. Um Balance in mir zu schaffen, verbrachte ich daher viel Zeit mit mir.

Bindungstrauma zeigt sich im Kontakt mit anderen

Ein solches Muster spielt sich nur im Kontakt mit anderen ab und ist – wie wir sehen können – sehr gesellschaftsverträglich. Aufgrund dieser Eigenschaften bleibt es oftmals lange unentdeckt. Eines der Hauptmerkmale von Entwicklungs- und Bindungstrauma ist, dass es sich dabei immer um Themen wie Kontakt, Kontaktverlust, Verbindung und Verlust von Verbindung dreht.

In meinem Fall war es der Verlust des Kontaktes mit mir selbst. Unbewusst glaubte ich, dass ich, um mit anderen verbunden sein zu können, Teile von mir aufgeben musste. Über Jahrzehnte war aus diesem Glaubenssatz ein Automatismus geworden.

Als ich mich veränderte, bröckelten meine Beziehungen

Durch das Bewusstsein dieses Musters, begann sich mein Verhalten in meinen Beziehungen langsam zu verändern. Da ich nun lernte, meine Energie zu zentrieren, mehr bei mir zu bleiben und mich somit in Beziehungen weniger verausgabte, fingen einige meiner Freundschaften an zu bröckeln.

Es war interessant zu beobachten, wie seltsam sich mein Umfeld verhielt, wenn ich während des Kontaktes mit mir selbst in Verbindung blieb. Die Menschen in meiner Umgebung waren wenig vertraut mit der neuen Version meiner selbst. Eine neue Welt der Selbsterforschung entfaltete sich.

Spirituelle Praxis schult subtile Wahrnehmung

Das ist die Grazie des inneren Weges: Jedes Mal, wenn man eine neue Schicht durchbohren und die Schraube des Egos sich ein bisschen mehr lockern kann, öffnet sich eine unbekannte Welt und ein neues Abenteuer beginnt.

Dank jahrelanger spiritueller Praxis, die meine Wahrnehmung immer subtiler werden ließ, konnte ich erkennen, dass ich nicht vollständig verkörpert und in Kontakt mit mir selbst war. Meine größten Wachstumshelfer waren und sind Beziehungen, Yoga, Pranayama, Meditation, Familienaufstellungen und Traumatherapie.

Meine spirituelle Praxis vertiefte sich

Dadurch, dass ich nun mit subtileren Schichten meiner selbst in Kontakt war, machte ich große Fortschritte in meiner spirituellen Praxis. Mir fiel auf, dass ich im Hier und Jetzt viel präsenter war als vorher. Unbewusstes, frei flottierendes Denken verlangsamte sich drastisch, und ich erkannte, dass Selbstliebe die Wurzel des Mitgefühls ist.

Ich hatte Empathie mit Mitgefühl verwechselt

Als spirituell Suchende beschäftigte ich mich viel mit dem Konzept des Mitgefühls und strebte stets danach, Mitgefühl zu kultivieren. Nun verstand ich, dass ich früher Empathie mit Mitgefühl verwechselt hatte. Durch den Kontakt mit mir selbst entstand wie von selber eine mir unbekannte Tiefe des Mitgefühls, die mich als Person inkludierte.

Der Ursprung von Mitgefühl ist Selbstliebe

Mitgefühl hat den Ursprung in der Verbindung und Liebe zu mir selbst. Durch den Kontakt und damit die Liebe zu mir selbst nehme ich ganz natürlich die Verbundenheit und Einheit von allem wahr.

Mitgefühl bedeutet nicht anderen den Vorrang zu geben

Mitgefühl bedeutet nicht, anderen Vorrang vor sich selbst zu geben und ihre Bedürfnisse mehr zu spüren als die eigenen.

Mitgefühl heißt, allem und jedem mit offenem Herzen zu begegnen, frei von Meinungen oder Urteilen, mit dem Wissen, dass das Leiden und der Schmerz der Menschen unbewusst ihr Handeln motiviert.

Mitgefühl ist die Bereitschaft alles zu fühlen ohne reagieren zu müssen

Mitgefühl bedeutet, alles zu fühlen, mein Leiden und das Leiden anderer, und nicht reagieren zu müssen.

Mitfühlend zu leben heißt, stets mit der Verbundenheit und Einheit von allem was ist, in Kontakt zu sein.

Mitgefühl bedeutet, alles wertzuschätzen und zu lieben genauso, wie es ist.

Mitgefühl ist die Hochzeit von Bewusst-Sein und Herz

Mitgefühl bedeutet, Menschen, Wesen und Ereignissen aus dem Innersten unseres Herzens zu begegnen, ihnen Raum zu geben dort für einen Moment zu verweilen.

Mitgefühl heißt, sich von der Schöpfung ohne Vorliebe für bestimmtes berühren zu lassen.

Mitgefühl ist bedingungslose Liebe in Aktion, es ist die praktische Anwendung bedingungsloser Liebe.

Mitgefühl ist ein Ergebnis von Bewusstheit. Es ist die Hochzeit von Bewusst-Sein und Herz.

Bedingungslose Präsenz ist Mitgefühl

Mitgefühl ist nicht etwas, das wir erschaffen oder mit Konzentration erreichen können. Wahres Mitgefühl ist ein Ergebnis oder ein Nebenprodukt von Selbstfindung und umfassender spiritueller Praxis (Sadhana).
Wahres Mitgefühl ist gleichbedeutend mit Präsenz, es entspringt dem erwachten Geist, der im gegenwärtigen Moment wohnt.

Durch Schattenarbeit entwickeln wir Mitgefühl

Um im Feld des Mitgefühls zu wachsen, müssen wir die dunklen und unsicheren Gassen unserer inneren Schattenwelt durchforsten, tief mit uns selbst in Kontakt treten, unsere Wunden lecken und uns erlauben, alles so zu fühlen und wahrzunehmen, wie es ist. Einschließlich uns selbst.

Artikel über Mitgefühl: https://www.psychologie-heute.de/leben/artikel-detailansicht/38818-mitgefuehl.html

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