Ein Konto für gute und schlechte Taten zu haben ist ein interessanter Gedanke. Kleine Pannen, Ungerechtigkeiten oder große Fehltritte einfach durch frühere oder nachfolgende Handlungen ausgleichen. Geht das? Unser Gehirn macht es möglich, zumindest in der Theorie – durch ein psychologisches Phänomen, das als Selbstlizenzierungseffekt bezeichnet wird. Doch wie sieht das, was wir vor unserem Gewissen moralisch ausgleichen zu können meinen, in der Realität aus?

Von Julia Schimmelpfennig

 

Gutmenschen unter sich

Vor einiger Zeit hörte ich in einem vietnamesischen Restaurant ein Gespräch zwischen einer Angestellten und einer gerade eingekehrten Gruppe mit. Die Runde war nicht groß – alles gut situierte Leute zwischen 30 und 40 Jahren. Offensichtlich waren sie nicht zum ersten Mal dort, denn sie schienen die Gerichte zu kennen.

Einer nach dem Anderen gab seine Bestellung auf, betonte dabei, dass das Essen vegan sei oder bat um eine vegane Zubereitung der Speise. Das Restaurant ist dafür bekannt, dass ausschließlich vegetarische und vegane Gerichte angeboten werden und dass die vegane Zubereitung möglich ist. – So weit alles in Ordnung.

Der Tonfall und Umgang allerdings, den diese Gruppe der Mitarbeiterin des Restaurants entgegenbrachte, waren ruppig, fordernd und auffallend unhöflich. Obwohl die vietnamesische Frau perfekt deutsch sprach, übertrieb die erste Sprecherin in ihrer deutlichen Aussprache und behandelte sie so herablassend, dass ich nicht umhin kam über die Diskrepanz in ihrem Verhalten nachzudenken.

Eine vegane Lebensweise wählen Menschen dann, wenn sie Tierleid verhindern wollen, wenn sie versuchen auf diese Weise Klima und Umwelt zu schützen: Sie integrieren die Achtung vor unserer Umwelt aktiv in ihre Lebensweise. – Wenn ich also das Leben bewusst respektiere, wie kann ich mich dann meinen Mitmenschen gegenüber so nachlässig oder sogar entwürdigend verhalten? Wie rechtfertige ich mein Verhalten vor mir selbst?

Selbstlizenzierung

Die Selbstlizenzierung ist ein Begriff aus der Psychologie, der auch im Fall dieser Gruppe Anwendung findet. Eine Selbstlizenzierung erfolgt dann, wenn jemand sich selbst, meist unbewusst, die Erlaubnis erteilt sich unmoralisch zu verhalten.

Die Dimension des unmoralischen Handelns kann dabei sehr unterschiedlich ausfallen und beruht darauf für wie „gut“ oder „moralisch korrekt“ sich dieser Mensch ansonsten einstuft. Das heißt, wenn jemand das Gefühl hat sich im Allgemeinen eigentlich ganz korrekt zu verhalten, vielleicht sogar besonders positiv und altruistisch zu handeln, dann etabliert sich bei dieser Person der unterschwellige Gedanke eines „Moralkontos“, auf das er bereits ausreichend eingezahlt hat.

Dieses Denkmuster fördert im Fall von schlechtem oder unmoralischem Verhalten ein Schuld-Reduzierungsmechanismus. Das Gewissen wird damit beruhigt, dass man vorher schließlich hier oder da „gut“ war und kann damit schlechtes und moralisch unkorrektes Handeln vor sich selbst besser rechtfertigen.

Diese Strategie funktioniert auch umgekehrt: dann, wenn Menschen etwas Positives tun, um Schlechtes aus ihrer Vergangenheit „wieder gut zu machen“. Dabei wissen wir eigentlich, dass das nicht geht, denn jede Situation ist anders; jede Handlung steht in einem eigenen Kontext.

Im Fall der Restaurantbesucher ist die vegane Lebensweise das positive Handeln, das sich die betreffenden Personen auf ihr Moralkonto gutgeschrieben haben und es deshalb nicht so eng sehen, sich ein wenig daneben zu benehmen, beziehungsweise eine sehr selbstorientierte Perspektive einzunehmen.

Innerhalb einer Gruppe fällt es uns besonders leicht bestimmten, auch negativen, Verhaltensmustern zu folgen, vor allem dann wenn wir uns stärker mit den beteiligten Personen identifizieren. So ist es leider kein Wunder, dass sich der Rest am Tisch dem Tonfall und der „Etikette“ der ersten Sprecherin anschloss.

Bei der Selbstlizenzierung handelt eine Person selten vorsätzlich. Überwiegend sind es unbewusste Abläufe im Gehirn, die ihr Guthaben auf einem nicht vorhandenen Moralkonto simulieren, so dass es leichter fällt unbedacht und nachlässig oder einfach auf den eigenen Vorteil ausgerichtet zu handeln.

Dass Menschen dazu tendieren nach normgerechten oder moralisch richtigen Handlungen leichtfüßig in grenzwertige Handlungen und großspurige Vorurteile abzudriften, wurde mehrfach untersucht, durch Studien belegt und beispielsweise von Sonja Sachdeva (Northwestern University) 2009 im Fachblatt Psychological Science oder von der Psychologin Cheryl Kaiser (Universität Washington) im Journal of Experimental Social Psychology aufgezeigt.
Oft zitiert wird zu dem Thema vor allem eine Studie von Kendall J. Eskine, die den Zusammenhang des Konsums von Bio-Lebensmitteln und der Neigung zum moralisch zweifelhaften Handeln der Probanden bescheinigt. Doch wie so oft gibt es zu jeder Studie eine Weitere, die das Gegenteil belegt und so sind auch hier viele Ergebnisse durchaus widersprüchlich und anfechtbar.

Gibt es also wirklich diesen Lizenzierungseffekt, der auf guten Taten schlechte folgen lässt? – So kausal ist diese Reaktionskette nicht zu bewerten. Dazu brauchen wir uns nur die Realität und das eigene Handeln vor Augen zu führen.

Moralkonto – Gutes Karma, schlechtes Karma?

Gute Taten, schlechte Taten und alles hängt irgendwie zusammen. – Kommt einem irgendwie bekannt vor, oder? Genau: Karma.

Unser westliches Verständnis von Karma, einem im Hinduismus und Buddhismus verankerten spirituellen Konzept sieht so aus, dass wir wissen, dass Handlungen Konsequenzen nach sich ziehen und wir glauben uns durch positive Taten ein gutes Karma  erarbeiten zu können.

Wozu das gut sein soll? So genau wissen wir das größtenteils gar nicht, aber es soll einem im Leben und sogar darüber hinaus etwas bringen. Also gehen wir auf Nummer sicher und stehen im Falle des Falles lieber mit einem guten Karma da, als mit einem schlechten. Anerkennend sammeln wir unsere guten Taten und verbuchen sie mit der Äußerung „Ist gut für’s Karma.“ für unser inneres Image – Also doch ein „Moralkonto“?

Wohl kaum. Denn auch nach dem Karma-Prinzip zieht JEDE Handlung ihre Konsequenz nach sich und eine Tat kann mit einer anderen nicht aufgewogen werden. Da die Meisten von uns aber nur einem vagen Gefühl und keinem strengen Glauben folgen, wird dieser Aspekt zu unseren Gunsten ausgeblendet.

Wir glauben an unser Moralkonto und zücken bei der nächstbesten Gelegenheit die Kreditkarte.

Hast Du Dich mal dabei ertappt beim Bereuen einer Handlung Dein Gewissen durch das Heranziehen einer guten Tat aus der Vergangenheit beruhigen zu wollen?

Wenn das so ist, bedenke Folgendes:
Wenn Dir ein Busfahrer die Tür vor der Nase zumacht und losfährt, weswegen Du nachts eine halbe Stunde im Regen auf den nächsten Bus warten musst, dann ist es Dir wahrscheinlich herzlich gleichgültig, ob er gestern seiner Frau zuliebe den Müll rausgebracht oder heldenhaft ein Kätzchen vom Baum gerettet hat. – Ohne Frage sind es alles löbliche Dinge.
Auch wenn er das nächste Mal seiner alten Nachbarin die schwere Einkaufstasche in die vierte Etage trägt, handelt er ausgesprochen gut und lobenswert, aber Du, der oder die vom Vortag eine Erkältung davongetragen hat oder an der Bushaltestelle von irgendwelchen finsteren Gestalten belästigt wurde, Dir ist dieser vermeintlich kausale Zusammenhang zwischen seinen guten und schlechten Taten in 100% der Fälle weder bekannt, noch interessiert er Dich sonderlich. Du hast Deinen persönlichen Wahrnehmungsradius, der sich mit dem des Busfahrers nur in diesem einen verregneten nächtlichen Moment überschnitten hatte.

Daraus ergeben sich zwei Dinge.
Erstens: Wie wir ja bereits wussten ist ein Mensch weder absolut gut, noch absolut schlecht und wir sollten uns hin und wieder mit dem Wahrnehmungsradius anderer und mit deren Perspektive beschäftigen.
Zweitens: Was irgendwer auf sein „Moralkonto“ lädt ist nicht übertragbar, nicht kompensierbar und funktioniert für den Außenstehenden schlicht und einfach nicht.

Wenn Du also das nächste mal der Busfahrer bist, gehe nicht davon aus, dass irgendwer außer Dir von Deinem Moralkonto etwas weiß.

Lizenz für schlechtes Verhalten – muss das sein?

Sind wir also schlechte Menschen, sogar dann wenn wir uns bemühen gut zu sein?

Wenn Selbstlizenzierung uns erlaubt moralisch zweifelhafte oder gänzlich unmoralische Handlungen zu begehen, heißt es doch dass ein Altruist jeden Moment zum Egoisten werden kann. – Ja und Nein.

Sich in den Vordergrund seiner Handlungsmotivation zu stellen ist zwar selbstbezogenes, aber nicht unbedingt menschenfeindliches Verhalten. Es gehört zum Alltag abzuwägen, wann ich und wann der Andere, bei mir den Vorrang genießt. Sich selbst dauerhaft nach hinten zu schieben widerspricht ab einem gewissen Grad der Selbsterhaltung und macht auf Dauer weder den Betreffenden, noch sein Umfeld glücklich. Ein Altruist kann also selbstbezogen handeln ohne ein Egoist zu sein.

Es kann jedem trotz bester Absichten mal passieren, dass ein Moment der Unachtsamkeit, eine unüberlegte Entscheidung oder eine Missinterpretation der Umstände dazu führt, dass wir jemanden kränken, unhöflich sind oder sogar jemand durch unser Versäumnis zu schaden kommt.

Hier hilft uns der Lizenzierungseffekt. Durch die entsprechenden Denkmuster gelingt es uns mit dieser schwierigen Situation umzugehen, ohne uns als Person in Frage zu stellen oder abzulehnen. Die Selbstregulierung, die in unserem Gedächtnis nach adäquaten Gegenbeispielen sucht unterstützt uns dabei unser Wertesystem zu überprüfen und das Konzept, das wir von uns als Persönlichkeit haben, zu unterstützen.

Die Selbstlizensierung sollte folglich weder zu dankbar und zu voreilig angenommen werden, noch sollten wir den wunderbaren Schutzmechanismus unseres Gehirns unterschätzen. Sie macht uns nicht zu schlechten Menschen wenn wir unseren Gedanken bewusst Aufmerksamkeit schenken.

Jede Handlungen, die Andere einschließt, steht für sich. Wie wollen wir mit Anderen umgehen und welche Resonanz wollen wir erreichen? Wenn wir das berücksichtigen und uns gelegentlich einen Perspektivenwechsel gönnen, dann müssen bestimmt weniger Lizenzen erteilt werden.

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