Sich selbst in der Tiefe spüren um frei zu sein, anstatt einer dogmatischen Tradition zu folgen…

von David Damberg

Die Zukunft der Spiritualität wird nicht mehr darin liegen, genau einer Tradition zu folgen, sondern deinen eigenen spirituellen Weg zu finden, der sich für dich ganz und gar stimmig anfühlt und daher ganz zur deiner Persönlichkeit passt.

Dazu braucht es eine Freiheit, die es erst ermöglicht, dass Du durch das Erspüren herausfindest, was zu Deiner Spiritualität gehört. Um die Bedeutung und den Weg zur Freiheit des Spürens geht es in diesem Artikel.

Mein persönlicher Weg

Aufgewachsen bin ich auf einem Bauernhof in Westfalen. Kühe und Schweine, ein Hund, einige Katzen, Felder mit Weizen und Hafer, Rüben und Kartoffeln waren meine Wegbegleiter. Wir Kinder mussten mithelfen und zur Hand gehen.

Insgesamt lebten wir ein sehr traditionelles Familienbild. Mein Vater, ein Bauer, und meine Mutter, eine Hausfrau, die meinen Vater bedingungslos unterstützte. Zu ihren Aufgabenfeldern kamen der Garten, der Haushalt und die Erziehung von uns Kindern. Mein Vater überließ ihr all das. Er war ohnehin meist unterwegs, um Felder zu pflügen oder Stroh zu pressen.

Religiöse Erziehungsstile

Nur bei einem Thema sprach er mit aller Vehemenz mit. Wenn es um die religiöse Erziehung der Kinder ging. Meine fünf Geschwister und ich sind in einem sehr traditionellen katholischen Elternhaus aufgewachsen, wo das Wort des Pfarrers noch etwas galt. Und die Moral der Kirche unbedingt war –  und unbarmherzig zugleich.

Glaube und Spiritualität waren für uns alle vor allem durch ein “Müssen” geprägt. Kirchgang, Beichte, Wallfahrten und Prozessionen prägten meine Kindheit und Jugend. Es war wenig Raum für Freiwilligkeit oder das Entdecken eigener Wege. Es war ja klar, was richtig und was wahr ist – es brauchte darüber keine Diskussion.

Manchmal bin ich überrascht darüber, wie es mir gelang, durch diese Zeit hindurchgegangen und dabei dennoch ein spiritueller Mensch geblieben zu sein. Es hätte sicher auch anders verlaufen können, so wie es bei vielen Menschen verläuft, die eine enge und strenge religiöse Erziehung “genossen” haben.

Vielleicht war es gerade diese Erfahrung, die mich zu der Erkenntnis brachte, dass eine echte Spiritualität nicht ohne Freiheit möglich ist.

Spiritualität hat viel mit „Spüren
“ zu tun

Womit beginnt alles? Was ist der Anfang von dem, was wir Spiritualität nennen? Was ist ein Leben, das uns Erfüllung und Gefühle wie Verbundenheit schenkt? Ist es die Meditation, das Gebet, ein Ritual? Sind es Lehren, ein Guru, den man regelmäßig besucht? Sollte ich eine ganz besondere Erfahrung machen, die mir von etwas Göttlichem in meinem Leben erzählen?

All das ist wichtig und kann uns helfen, einen spirituellen Weg zu gehen. Doch das ist für mich noch nicht der Einstieg in Spiritualität. Alles beginnt für mich mit dem Spüren, das ich als ein sensitives, körperliches Wahrnehmen beschreiben möchte. Dieses Spüren ist eine basale Übung. Jedoch Grundlage für vieles, was unser Leben bereichert. Auch darin zu wissen, was wir wollen, was uns gut tut und was nicht.

In vielen Gesprächen habe ich heraushören und miterleben können, wie viele Menschen dieses Spüren verlernt haben. Sie spüren nicht, ob ihnen etwas gefällt. Sie spüren nicht, was sie wollen. Oder gar, was sie sich wünschen. Und viele können nicht genau differenzieren, ob sie etwas mögen oder eher ablehnen. Denn da sind zuviele Informationen von aussen, von anderen Menschen.

Die Kunst, sich selbst zu spüren

Wer nicht spürt, spürt vor allem sich selbst nicht. Hat kaum Zugang zu inneren Prozessen, kann “mein” und “dein” bei Gefühlen nicht unterscheiden. Auf diese Weise bleibt dieser Mensch manipulierbar. Viele Kinder machen die Erfahrung, dass ihre Eltern ihnen bereits sagen, was genau sie spüren sollen. Ob etwas kalt oder warm ist. Ob man dieses oder jenes schön findet.

Schnell werden Kinder in ihrem Spüren korrigiert und das geschieht selbst bei modernen und aufgeschlossenen Eltern – nicht nur in traditionellen katholischen Elternhäusern. Die Gefahr der Manipulation zeigt sich sehr deutlich an folgendem Beispiel:

Eine Gruppe von Forschern wollte herausfinden, wie malfreudige Kindergartenkinder auf Lob reagieren. Ein Teil der Kinder wurde beim Malen eines Bildes gelobt, ein anderer Teil nicht. Daraufhin wurde das Verhalten der Kinder beim Malen sowie danach beobachtet – und miteinander verglichen.

Was man herausfand, verblüffte: Die Kinder, die gerne gemalt haben, haben, nachdem sie gelobt wurden, weniger gemalt. Das Lob hat ihnen offenbar die Lust und Freude am Malen genommen. Bereits ein Lob kann schon dazu führen, vom eigenen Weg (der Freude) abzukommen.

Spüren, um dem ureigenen Weg zu folgen

Sich selbst aufmerksam zu spüren, ist eine wichtige Grundlage eines spirituellen Lebens. Spiritualität ist auf Selbst – Erfahrung gegründet und lässt sich als eine Art Lebensform verstehen. 
Wie soll ich Rituale, Gesänge oder Meditationen als bereichernd erleben, wenn ich nichts dabei spüren kann? Wenn es mir nicht möglich ist, in eine spürbare Erfahrung einzutauchen?


Wie soll ich in der unendlichen Fülle an Büchern, Schulen, Angeboten und Meistern den für mich passenden Weg auswählen, ohne eine entsprechende körperliche Selbst – Wahrnehmung?

Das Extensionsgedächtnis und das koordinative Fühlen

Das Spüren meines Selbst ist auch aus Sicht der Psychologie eine Grundlage und wird mit dem Begriff des „Selbstgespürs“ beschrieben. Diese Form des Spürens wird mit einer Region unseres Gehirns in Zusammenhang gebracht, die man Extensionsgedächtnis nennt.

Das Extensionsgedächtnis befindet sich in der rechten Gehirnhälfte und ist für das (unbewusste) koordinative Fühlen zuständig, das einen
integrierten Überblick über wichtige Lebenserfahrungen inkl. Zielen und Visionen gibt. Man nutzt es, um aus der Gesamtheit der Lebenserfahrungen einen Lösungsweg zu wählen, der möglichst eigene Werte wie auch die Erwartungen und Wünsche anderer berücksichtigt.

Dem „Selbstgespür“ vertrauen

Wenn ich also in meinem Bauch ein ungutes oder auch ein wohliges Gefühl spüre, dann habe ich zugleich Zugang zu diesem Teil meines Gehirns. Eine reife Form der Spiritualität entspringt aus diesem Extensionsgedächtnis. Jedes innere wahrhaftige Spüren verbindet mich mit diesem Teil.

Wenn ich mit Yoga-Lehrern*Innen oder MBSR-Trainern*Innen spreche, höre ich oftmals folgendes heraus: viele Teilnehmende berichten zum Beginn eines Kurses, dass es ihnen um Entspannung geht. Oder diese endlich wieder richtig durchschlafen möchten. Nach einiger Zeit verändert sich jedoch das Ziel sowie die Motivation. Viele möchten sich dann vor allem sich selbst zuwenden, das eigene Innenleben untersuchen, möchten mehr Erfüllung im Leben erlangen und Ähnliches.

Ein Grund dafür ist möglicherweise, dass alle körperorientierten Achtsamkeitsansätze eine Gabe besitzen, uns für das eigene innere Selbst zu öffnen. Auf diese Weise können Themen und Fragen plötzlich eine Rolle spielen, die vorher nicht einmal denkbar waren. Die Grundlage dafür liegt auch hier im Spüren. Die unterschiedlichen Körpetübungen helfen dabei, sich immer bewusster und feiner zu spüren.

Spiritualität braucht Freiheit

Ich bin niemand, der Religionen grundsätzlich ablehnt, obwohl ich streng katholisch aufgewachsen bin. Mir ist genau dadurch eines klar geworden, dass Spiritualität Freiheit braucht. Mir wurde bewusst, dass eine jede und ein jeder eine ureigene Spiritualität in sich trägt und diese im Laufe des Lebens bestenfalls entwickelt.

C.G. Jung sagte einmal, dass man für jeden Patienten im Prinzip eine ureigene Therapie entwickeln müsste. Vielleicht heisst das auch, dass jeder Mensch eine eigene Religion oder Spiritualität in sich trägt und diese weiter entwickeln möchte.

Spiritualität muss zu einem Menschen passen, sich im Grunde für diesen gut anfühlen. Und damit meine ich, dass sie sich stimmig anfühlen und den eigenen Werten entsprechen sollte. Dafür aber brauche ich die Freiheit, selbst spüren zu dürfen, ohne dazutun von aussen. Ohne eine Vorgabe durch Lehrer oder Lehren.

Bevormundung versus Freiheit

Religionen können – als Schatten – eine starke Bevormundung in sich tragen. Eine Tendenz, anderen Menschen zu sagen, was sie wo und wie zu spüren und wahrzunehmen haben. Wie diese zu denken haben.

Suggestionen sind nicht grundsätzlich schlecht, können aber eine Gefahr darstellen, mich von mir selbst zu entfremden. Insbesondere dann, wenn andere mir oftmals sagen, was oder wie ich fühlen sollte. Wenn das über einen längeren Zeitraum geschieht, meine ich etwas zu spüren, was vielleicht gar nicht da ist.

Spiritualität, die stimmig ist, braucht eine Freiheit des Spürens. So beginnt ein Weg, der wirklich zu mir passt und der für mich stimmig ist. Ich muss dann gegen nichts angehen, ich brauche mich von nichts zu befreien, sondern kann in Verbundenheit und Einheit mit mir selbst meinen Weg durch das Leben gehen.

Innere Freiheit kann stark machen und Halt geben

Für eine solche Freiheit im spirituellen Leben braucht es eine offene Sprache, die nicht zu viel festlegt. Rituale, die Freiraum lassen für eigene innere Bilder. Jene, die sich als Angebote verstehen. So kann in jedem Menschen eine gesunde Spiritualität heranreifen.

Geht es nicht letztlich darum, dass wir frei sind für die eigene Suche und das eigene Finden? Frei für innere Suchprozesse? Denn was ich in einem solchen Suchprozess für mich als wahr und richtig erkannt habe, das wird mir auch in schweren Zeiten helfen und Stütze sein. Und so möchte ich gerne meine persönliche Sichtweise mit euch teilen, dass genau jene Freiheit zu einer inneren Stärke und zu einem tieferen Halt im eigenen Leben führen kann.

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