In Krisenzeiten besteht die Gefahr, Ängste, Frustrationen und Wut auf Sündenböcke abzulenken. Das erleben wir derzeit auf beunruhigende Weise. Statt von einer „Pandemie der Ungeimpften“ zu reden, sollte Politik sich um Themen kümmern, die wir nur gemeinsam angehen können.

Von Fabian Scheidler

Unsere Gesellschaften befinden sich seit geraumer Zeit in einem Mahlstrom von sich beschleunigenden Krisen: Finanzcrashs, zunehmende soziale Spaltung, die Pandemie und vor allem der drohende Klima- und Biosphärenkollaps. Die Ursachen reichen letztlich tief in die Fundamente unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems hinein, das ohne permanentes Wachstum nicht existieren kann. Diese Expansion trifft inzwischen auf spürbare Grenzen – und damit gerät auch die große Erzählung vom Fortschritt ins Wanken, die für westliche Gesellschaften über Jahrhunderte prägend war.

Eine ganze Zivilisation ist in ihren Grundfesten erschüttert. Die enormen Verunsicherungen und Ängste, die daraus resultieren, schaffen eine explosive Lage. Besonders gefährlich wird es, wenn Politiker bestimmte Gruppen der Gesellschaft für die Krise verantwortlich machen – und damit der Bevölkerung eine Projektionsfläche für ihre Ängste und ihre Wut bieten. Die Beispiele in der Geschichte sind Legion. Zuletzt erlebten wir es mit dem Schüren von Ressentiments gegen Geflüchtete und dem Aufstieg rechter Demagogen. Das Prinzip ist altbekannt: Man definiert eine Fremdgruppe, die man als Gefährder, als Angreifer, als Schuldige brandmarkt. So können die Konflikte und Widersprüche in der In-Group ausgeblendet und auf den Kampf gegen einen äußeren Feind verlagert werden.

Und nun in der Pandemie, da die bisherigen Impfungen Corona nicht hinreichend eingedämmt haben, rückt eine neue Gruppe als Gefährder in den Fokus: die Ungeimpften. Obwohl führende Virologen, darunter Christian Drosten, darauf hinweisen, dass die Rede von einer „Pandemie der Ungeimpften“ falsch ist, weil auch Geimpfte das Virus übertragen und die Wirkung der Impfungen rasch nachlässt, hören Spitzenpolitiker nicht auf, solche irreführenden Behauptungen zu verbreiten und damit die gesellschaftliche Polarisierung zu schüren. Jüngst forderte eine Kolumne der „Zeit“ sogar: „Die Gesellschaft muss sich spalten!“ Stigmatisierungen und Schuldzuweisungen treten an die Stelle einer sachlichen, differenzierten Debatte über Erfolge, Rückschläge und Risiken beim Impfen.

Kooperation statt Spaltung

Es ist höchste Zeit, diese Selbstzerfleischung zu beenden. Denn jenseits der Pandemie haben wir es mit einer viel größeren Aufgabe zu tun, die ohne breite gesellschaftliche Kooperation nicht zu bewältigen ist. Wir stehen unmittelbar vor entscheidenden Kipppunkten im Klimasystem, darunter dem drohenden Zusammenbruch des Amazonas-Regenwaldes, dem Abtauen der Permafrostböden sowie dem Schmelzen der Eismassen in Grönland und der Westantarktis. Werden diese Punkte überschritten, kommen unaufhaltsame Kettenreaktionen in Gang, die weite Regionen der Erde unbewohnbar machen werden. Wir haben schlichtweg keine Zeit für weitere Grabenkämpfe. Stattdessen brauchen wir endlich integrierte Konzepte, die die verschiedenen Krisen an der gemeinsamen Wurzel packen.

Stichwort Klima und Gesundheit: Die Schwächen unseres Gesundheitssystems nach Jahrzehnten des Kaputtsparens und der Privatisierung sind in der Pandemie offensichtlich geworden. Hier gibt es also viel zu tun. Zugleich brauchen wir für eine Klimawende eine massive Verschiebung öffentlicher Investitionen und Subventionen: weg von den destruktiven Branchen wie Auto, Flugzeug und industrieller Landwirtschaft hin zu Gesundheit, Bildung, Kultur, ökologischem Landbau und dezentralen erneuerbaren Energien in Bürgerhand.

Der Internationale Währungsfonds beziffert die Subventionen für fossile Energien weltweit auf unvorstellbare 5900 Milliarden Dollar. Würde man dieses Geld stattdessen in die zukunftsfähigen Branchen stecken, könnten wir sowohl das Klimachaos bremsen als auch die Kapazitäten von Krankenhäusern massiv erhöhen. Von Triage müsste niemand mehr reden. Das Ganze ließe sich auch mit einem Mehr an sozialer Gerechtigkeit verbinden: gute Arbeitsbedingungen, Löhne und Personalschlüssel für die wirklich systemrelevanten Tätigkeiten. So könnte man auch Menschen, die der Klimawende bisher skeptisch gegenüberstehen, mitnehmen. Und man würde endlich wieder eine gemeinsame Zukunft anbieten. Laut einer aktuellen Studie mit Menschen zwischen 16 und 25 Jahren in zehn Ländern glauben mehr als die Hälfte der Befragten, dass die Menschheit dem Untergang geweiht sei. Um dieser dystopischen Grundstimmung zu begegnen, brauchen wir statt weiterer Spaltungen vereinende Projekte für eine lebenswerte Zukunft.

Der Text erschien bereits in der Frankfurter Rundschau:
www.fr.de/meinung/gastbeitraege/genug-gespalten-91174453.html

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studierte Geschichte und Philosophie und arbeitet als freischaffender Autor für Printmedien, Fernsehen und Theater. Er erhielt 2009 den Otto-Brenner-Medienpreis für kritischen Journalismus.

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Literatur:
Fabian Scheidler:
Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation.
Promedia, 2015
www.megamaschine.org

Fabian Scheidler:
Chaos. das neue Zeitalter der Revolutionen, Promedia 2017
www.revolutionen.org

Fabian Scheidler:
Der Stoff, aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu
denken müssen, Piper 2021
https://fabian-scheidler.de/der-stoff-aus-dem-wir-sind/

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