von Anke Mrosla

Der Frühling naht, das letzte Aufbäumen des Winters kommt langsam zum Ende. Wie immer habe ich im Kreis von Freunden und Interessierten auch dieses Frühjahr mit einer Zeremonie begonnen für die Ausrichtung auf die Zeit von Aussaat und Erneuerung. Geniesse den Tag, denn die Momente von heute sind die Erinnerungen von morgen!

Wie erinnere ich mich eigentlich, was macht mein Leben in der Rückschau aus, was ist der Reichtum, der sich ansammelt, nicht in Form von Materie und Bankguthaben, sondern als das Gefühl ein reiches Leben zu leben? – Im Rahmen meiner therapeutischen Arbeit kommt dem Erinnern immer wieder eine zentrale Stelle zu, sowohl bei der Erfahrung von Schmerz und Trauma, als auch bei deren Neuverhandlung und dem Aufbau von Ressourcen. Es ist ein wichtiges Ziel der Therapie, dass Klienten den Reichtum und das Gute in Ihrem Leben wieder sehen lernen und so die Fähigkeit, Positives zu erinnern und in sich zu halten, stärken.

Wir alle kennen Erlebnisse, in denen ein vorbeifliegender Duft, ein Musikstück, das wir hören, oder ein Geschmack, uns ganz unverhofft in einen vergangenen Moment, in eine andere Zeit entführen und angenehme Empfindungen wachrufen. Für mich ist das z.B. ein bestimmter Geruch in alten Gebäuden, der mich an den Hühnerstall im Haus meiner Großeltern erinnert und augenblicklich das Gefühl von Heimat und Geborgenheit in mir auslöst. Damit verbunden überfluten mich Erinnerungen an morgendliches Eier-Einsammeln, an den angriffslustigen Hahn, vor dem ich mich mit fünf Jahren gefürchtet habe und die Werkbank im angrenzenden Geräteschuppen, an der ich meinem Großvater bei diversen Reparaturen zuschaute und ab und an auch zur Hand gehen durfte. Bei dem Gedanken an diese Zeit schleicht sich ein Lächeln in mein Gesicht und mein Bauch wird von wohliger Wärme durchströmt.

Genauso wie diese angenehmen Empfindungen können andere Erinnerungen und Trigger spontan auftretende Flashbacks auslösen, die uns wieder in erlebte Situationen von Angst und Schrecken zurückversetzen und von einer Sekunde zur anderen sind wir wieder mitten in dem Gefühl von Gefahr, Bedrohung und Hilflosigkeit.

Explizites und implizites Gedächtnis

Was geschieht da eigentlich und wie setzt sich Erinnern zusammen? Hier ein kurzer Überblick.

Zunächst einmal unterscheiden wir zwischen dem expliziten und dem impliziten Gedächtnis. Explizite Gedächtnisinhalte sind entweder deklarative Erinnerungen wie Fakten, Daten und Zahlen oder episodische Erinnerungen.  Beispielsweise die Erzählung über die Angewohnheit meines Großvaters auf einem kleinen weißen Stühlchen vor der Küchenhexe in der Küche meiner Großmutter zu sitzen und Pfeife zu rauchen, während er mir zuhörte, wenn ich meine Geschichten aus dem Kindergarten oder vom Spielen mit meinem Bruder erzählte. Ich erinnere mich dabei auch, wie es sich anfühlte mich an sein Bein zu lehnen, wie er mit wenigen Worten oder Gesten Zustimmung oder eine Frage signalisierte und wie sicher und aufgehoben ich mich bei ihm fühlte, wenn ich von meinen kleinen Erlebnissen berichtete.

Das explizite Gedächtnis ist uns bewusst zugänglich. Wir können die Inhalte abrufen und sie willentlich in einen neuen Kontext setzen. Unser implizites Gedächtnis setzt sich aus dem emotionalen und dem prozeduralen Erinnern zusammen. Episodisches und emotionales Erinnern bilden die Schnittstelle zwischen den expliziten oder bewusst zugänglichen und den impliziten, also weniger oder gar nicht bewussten Erinnerungen.

Wenn wir starke, klare Emotionen mit einem Geschehen verbinden, markieren diese Gefühle das Erlebte für uns als relevant im Sinne von „mehr davon“-Wollen und Hinwendung oder „weg“-Wollen und Ablehnung.

Emotionale Erinnerungen werden körperlich als Empfindungen von einsinken, aufmachen, eng werden, sich ausdehnen, sich beugen, sich bedrückt oder aufgerichtet fühlen erlebt, um nur einige Beispiele zu nennen. Sie machen uns körperlich deutlich, was wir fühlen, wenn wir uns an ein Erleben erinnern und ob das eher angenehm oder unangenehm ist. Wir kennen das sehr gut, wenn wir uns an einen Moment erinnern, wo wir uns für etwas oder jemanden geschämt haben. Der Gedanke daran ist oft auch im Nachhinein mit einem starken emotionalen und körperlichen Empfinden verbunden.

Die letzte Kategorie von impliziten Erinnerungen sind die prozeduralen Aktionsmuster. Hier geht es einerseits um autonom stattfindende Fähigkeiten wie Autofahren, Zehn-Finger-Tippen oder Gitarre spielen, die – wenn einmal erlernt – ohne weiteres Zutun unseres bewussten Verstandes komplexe Fähigkeiten darstellen. Sie sind reproduzierbar und liegen dabei gleichzeitig unterhalb der Schwelle unseres bewussten Denkens. Das erlebt wohl jeder, der schon mal versucht hat, so eine automatische Fähigkeit in ihre Bestandteile zu zerlegen und z.B. das Zupfmuster bei einem geliebten und oft gespielten Song auf der Gitarre zu erklären. Als letztes sind hier auch unsere auf physische und psychische Gefahr bezogenen Aktionsmuster wie Wappnen, Kampf, Flucht und Erstarrung zu Hause.

Die Mechanik des Erinnerns in uns umprogrammieren

Nach wie vor ist unser Nervensystem auf das Erinnern von unangenehmen Erfahrungen viel besser eingerichtet als auf das Erinnern des Guten und Schönen. Für das Überleben unserer Vorfahren vor 10000 Jahren war es deutlich wichtiger, sich an den Angriff eines Löwen und die damit verbundenen Verluste zu erinnern als an die Schönheit eines Sommertages. Diese evolutionäre Hardware unseres Nervensystems macht es uns auch heute, wo wir im Alltag – zumindest hier in Deutschland – in der Regel nicht mit realen physischen Bedrohungen zu tun haben dennoch schwierig, angenehmen Erfahrungen das angemessene Gewicht zu geben.

Seit nunmehr dreißig Jahren hält mein Mann in einem Fotoalbum die schönsten Erinnerungsmomente jedes verflossenen Jahres fest. Inzwischen sind es drei dicke Alben gefüllt mit gutem Leben, Gelächter, Liebe, Freundschaft und Verbindung. Unsere Freunde aus verschiedenen Lebensphasen sind dort verewigt, das Aufwachsen der Kinder dokumentiert ebenso die zunehmenden Lachfalten in unseren Gesichtern. Diese Alben erzählen die Geschichte des Guten in unserem Leben. Sie bilden den Reichtum ab. Freunde, Enkel und auch wir selbst nehmen sie gern zur Hand um unser Leben zu feiern, nach Einzelheiten zu fragen und die guten Geschichten aus unserer Lebenszeit wieder aufleben zu lassen. Indem wir das tun, machen wir nicht nur eine Reise in Gewesenes. Wir erschaffen auch aktiv ein angenehmes, freudiges Jetzt, indem wir uns wieder auf allen Ebenen mit den guten Gefühlen und Empfindungen aus den Glücksmomenten verbinden.

Eine Anregung: Wie wäre es, ab und an das Handy zu zücken, nicht um noch eine E-Mail zu lesen, sondern um mit einem Schnappschuss einen Anker zu schaffen für einen Glücksmoment: Das Bild dann auszudrucken und an den Kühlschrank zu hängen oder es, wie in meiner Familie üblich, in ein Album zu kleben als Chronik eines gut gelebten Lebens.

Ich wünsche uns allen in diesem Frühling viele Glücksmomente, an die wir uns erinnern und solche, die wir neu kreieren.

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