Kunst kann ein wichtiger Beitrag für die grundlegende Wandlung sein, die das menschliche Bewusstsein gerade erfährt. Kunst als schöpferischer Ausdruck des Göttlichen im und durch den Menschen – die sowohl kreative Spiritualität wie auch spirituelle Kreativität ist – lässt uns erfahren, dass wir die Schöpfer dieser neuen Erde sind, die gerade jetzt entsteht. Über das Advaita der Kunst.

„In dir gibt es einen Künstler, von dem du nichts weißt.“ (Rumi)

 

Wenn wir von Kunst sprechen, beziehen wir uns meist auf Malerei und Bildhauerei in Museen und Galerien. Es geht um Ästhetik, Talent, Macher und Rezipienten. Und um Ausdruck von Gefühlen, Gedanken oder Weltanschauung des Künstlers, der als Inbegriff des Individualisten angesehen wird. Wir sind zudem daran gewöhnt, zwischen bildender Kunst und Theater, Tanz, Literatur, Musik usw. zu unterscheiden, obwohl alle Künste verschwistert sind. Und nur die wenigsten denken bei dem Wort Kunst an Heilkunst oder an Kreativität in einem umfassenden Sinn. Noch weniger an eine spirituelle Praxis oder eine zentrale Kraft der Evolution des Bewusstseins. Daher wäre es vielleicht besser, von Kreativität statt von Kunst zu sprechen. Doch auch dies ist nicht ganz befriedigend, da dieser Begriff heute inflationär verwendet wird. Am ehesten scheint noch das wunderbare deutsche Wort „schöpferisch“ zu passen. Das Schöpferische lässt sofort an die Schöpfung und den Schöpfer denken. Es macht deutlich, dass Kunst und Kreativität mit dem Schöpfen aus einer Quelle zu tun haben. Wie jemand, der Wasser aus einem tiefen Brunnen holt, dessen Grund er nicht sehen kann und der doch lebensspendend ist. In der Tat sind Kunst und Kreativität genau das: Sie sind ein Prozess, der seinem Wesen nach das Unsichtbare mit dem Sichtbaren verbindet und ineinander auflöst. Da diese Assoziationen der spirituellen Natur der Kunst am nächsten kommen, ist im Folgenden auch dann das „Schöpferische“ gemeint, wenn Kunst oder Kreativität im Text steht. Zudem sind immer alle Künste angesprochen.

 

Geronnener Geist

Meine persönliche Auffassung von der Kunst wurde maßgeblich durch die frühe Begegnung mit Joseph Beuys geprägt. Die erste Kunstausstellung meines Lebens – mein Körper kam gerade in die Pubertät – war ausgerechnet eine Werkschau von Beuys. Was ich dort sah, war erschütternd, unfassbar, auf- und erregend. Vor allem aber sah ich die Installationen und Objekte spontan als „geronnenen Geist“, als Form gewordenes Bewusstsein. Kurze Zeit später lud ich Beuys in Eigenregie zu einem Vortrag an meine Schule ein und er sagte ohne Zögern zu. Aus dieser ersten Begegnung entstand schließlich eine mehrjährige Beziehung, die bis zu Beuys‘ Tod anhielt und die ich bis heute als großes Geschenk empfinde.

Beuys war ein spiritueller Lehrer im Gewand eines Künstlers. Was er Ideen nannte, interessierte mich (und andere) damals weit mehr als sein bildnerisches Werk. Diese Ideen waren für ihn keine Kopfgeburten, sondern geistige Plastiken, die sich im endlosen Raum als lebendige Energiekörper verdichten. Sie können nicht verstanden, sondern nur erfahren werden. Hierzu bedarf es jedoch einer ganz anderen „geistigen Verfassung“, als sinnliche Wahrnehmung und rationales Denken bereitstellen können. Diesen Bewusstseinszustand wollte Beuys durch seine Aktionen, Plastiken und Installationen provozieren. Kunst (= Kreativität) war für ihn spirituelle Praxis und universelle Kraft der Evolution, die alle Menschen zu einem schöpferischen Organismus verbindet. Der Leitspruch dieses erweiterten Kunstbegriffs wurde „Jeder Mensch ist ein Künstler“. Ein – oft missverstandener – Satz, nach dem jeder Mensch ein schöpferisches Wesen, nicht aber ein Maler oder Bildhauer ist. Beuys betonte auch, dass die elementare Grundvoraussetzung der Kreativität die Freiheit ist. Es geht also um schöpferische Freiheit, die uns alle zu einem Wesen eint – zum Körper Gottes (auch wenn Beuys Letzteres anders ausgedrückt hat). Das verbindende Element ist die Liebe, die in seiner Kunst durch christlich geprägte Symbolik und wärmespeichernde oder -empfindliche Materialien wie Fett und Filz zum Ausdruck kam.

 

Keine Kunst ohne Freiheit

Beuys selbst scheint die Relevanz der Kunst für den Einzelnen vor allem in dessen Beitrag zu einer grundlegenden Neuordnung des Gesellschaftslebens gesehen zu haben. Aus seiner Sicht werden so erst die Voraussetzungen für die freie Entfaltung des schöpferischen Menschen geschaffen. Es entsprach offenbar nicht seinem Anliegen oder seinen Anlagen, mit den Mitteln und Wesenselementen der Kunst eine spirituelle Praxis für den einzelnen Menschen zu entwerfen und anzuleiten. Dies ist insofern bemerkenswert, als dass Beuys eine existenzielle Krise in seinem eigenen Leben maßgeblich mit den Mitteln der Kunst bewältigt hatte. Die Frage, die also auch nach Beuys bleibt, ist folgende: Wie kann Kunst (= Kreativität = schöpferischer Ausdruck) für den einzelnen Menschen ein spiritueller Weg sein? Wie kann Kunst ihn dabei unterstützen, sich für die Erfahrung von Wahrheit, Freiheit und Frieden zu öffnen?

Indem man sich diesen Fragen annähert, taucht zunächst eine andere Frage auf: Was macht eine schöpferische ­Erfahrung eigentlich aus? Zunächst einmal entsteht bei jedem schöpferischen Akt eine Art entspannter Konzentration, die Offenheit mit Verdichtung ­verbindet. Man wird besonders empfänglich und zugleich fähig, das Empfangene in einer Form (Bild, Tanz, Gedicht etc.) zu verdichten. Eine Form, die es so noch niemals gab. Einzigartig und unwiederholbar in diesem Moment – und doch geboren aus einem offenen Raum, in dem alles eins und schon vorhanden ist. Der Komponist Karl-Heinz Stockhausen brachte es sinngemäß so auf den Punkt: Die Töne sind bereits da im endlosen Raum, ich bin derjenige, der sie aufschreibt.

 

Prinzipien der Schöpfung

In der Schöpfung eines Werkes kommen dieselben Prinzipien wie in der Schöpfung als Ganzes zum Ausdruck. Diese sind nach kabbalistischer Auffassung: Geben, Nehmen und Begrenzung. Wenn ich also zum Beispiel ein Bild male, empfange ich eine Inspiration (Nehmen) und erlaube dieser zunächst undefinierten Energie, eine Form anzunehmen (Begrenzung). Diese wird schließlich kommuniziert (Geben). Es wäre allerdings ein großes Missverständnis, diesen Prozess als Zusammenwirken getrennter Prinzipien zu verstehen. Vielmehr sind diese – im Kosmos wie im schöpferischen Werk des Menschen – zur Einheit verschmolzen.
Dies alles ist kein bewusster, sondern ein zutiefst mystischer Prozess, der sich rationaler Erklärung entzieht. Dennoch kann jeder Mensch an dieser Einheitserfahrung von Geben, Nehmen und Begrenzung unmittelbar teilhaben, wenn er schöpferisch „handelt“. Sie ist jedem Menschen zu jeder Zeit zugänglich, weil sie natürlich ist, ohne dass es dazu einer bestimmten Fähigkeit bedarf. Sie erfordert sozusagen nur das Menschsein selbst. Hierin liegt die besondere Qualität der Kunst: Das Mysterium der Schöpfung wird in ihr zur unmittelbaren und natürlichen Erfahrung.

In der Ausdrucksarbeit im Rahmen meiner Praxis konnte ich daher oft Erstaunliches erleben. So sehr jemand auch von sich behauptete, künstlerisches Gestalten sei ihm völlig fremd: Was dann eine sichtbare Form angenommen hatte, löste stets Erstaunen aus. Das habe ich gemacht? Wo kommt denn das her? Das kann doch nicht von mir sein! Diese Erfahrung des Überpersönlichen in der Kunst kenne ich von vielen meiner Gedichte, die auf einmal einfach da waren und Wahrheiten enthielten, die ich gar nicht zu kennen glaubte. Oder auch von der Bühne, die ich als Schauspieler als ebenso offenen wie energiereichen Raum erlebt habe, in dem mein Körper, meine Stimme, meine Worte dem Ausdruck einer unsichtbaren Kraft dienen.

 

Kunst als Transformations- und Heilarbeit

Seit Beuys hat sich die Kunst als Praxis spiritueller Realisation und Heilung ­entwickelt. In den künstlerischen Therapien entstanden transpersonale Ansätze. Diese verbinden psychotherapeutische, spirituelle und künstlerische Methoden. Vor allem in den USA gibt es immer mehr Künstler, die Kunst als Transformations- und Heilarbeit praktizieren (Art Healing). Auch der Kunstmarkt scheint nun Künstler, die ihre Werke ausdrücklich als spirituelle Bewusstseinsarbeit verstehen, mehr als früher zu beachten. Ein gutes Beispiel dafür ist Marina Abramovic, deren Schaffen nach 45 Jahren der Ignoranz, wie sie sich in etwa ausdrückte, kürzlich mit einer Retrospektive im New Yorker MoMA geehrt wurde. Abramovic hat ihre Ausstellung mit einer täglichen Live-Performance (The Artist is present) begleitet. Dabei nahm sie sieben Stunden lang auf einem Stuhl Platz und tat nichts anderes, als denjenigen in die Augen zu schauen, die ihr gegenüber Platz nahmen. So entstanden stille Begegnungen höchster Intensität, die viele der Anwesenden tief bewegten und die Wahrheit des Seins unmittelbar erfahrbar machten. Eine Art Kunst-Satsang, wenn man so will.

Trotz dieser Tendenzen gehen – soweit ich das beurteilen kann – die Künste bzw. Künstler und die heute wirkenden spirituellen Lehrer und Lehren immer noch eher getrennte Wege. Kunst wird meist entweder als professionelles Produkt oder als bloßer Ausdruck persönlicher Emotionen angesehen. Hierdurch werden die besonderen spirituellen Qualitäten und die Essenz der künstlerischen Erfahrung eher verdeckt als enthüllt. Für die grundlegende Wandlung, die das menschliche Bewusstsein gegenwärtig erfährt, ist das universelle Verständnis der Kreativität als schöpferischer Ausdruck des Göttlichen im und durch den Menschen jedoch eine zentrale Botschaft. Denn es lässt uns erfahren, dass wir die Schöpfer dieser neuen Erde sind, die gerade jetzt entsteht. Dies ist die kreative Dimension des Ausspruchs „Aham Brahmasmi“ (Ich bin göttlich) aus den Upanischaden, der für Advaita Vedanta zentral ist.

 

Kunst als spirituelle Praxis

Kunst kann aber auch in einem ganz konkreten Sinn spirituelle Praxis sein. An dieser Stelle möchte ich davon berichten, wie die Kunst in den spirituellen Weg, wie ich ihn mit Menschen teile, integriert ist – und wie es dazu kam. Die weit verbreitete Trennung von Kreativität und Spiritualität war auf meinem persönlichen Weg eigentlich schon immer überwunden. In die Arbeit mit anderen Menschen, zunächst im Rahmen einer Praxis, wurden künstlerische Arbeitsformen dennoch erst allmählich eingebunden. Das wirkliche Potenzial der Künste als Element eines spirituellen Wegs enthüllte sich eigentlich erst durch eine Erfahrung, die Worte nur andeuten können. Während einer mehrjährigen Wandlungskrise erkannte ich, dass alles Leiden von den Allmachtansprüchen des Egos und einem ruhelosen Verstand verursacht ist. Als ich mich dagegen zu wehren begann, musste ich feststellen, wie wenig Sinn es macht, das Ego mit seinen eigenen Mitteln zu bekämpfen, vor ihm wegzulaufen oder es als Illusion zu ignorieren, bevor es als Illusion erfahren wird. So konnte ich erkennen, dass es keinen anderen Weg gibt als all das, was sich hier und jetzt zeigen will, da sein zu lassen und zum Ausdruck kommen zu lassen, damit es sich im wahrsten Sinne des Wortes „erschöpfen“ kann. Es wurde vollkommen klar: Du kannst nicht werden, was du bist, sondern nur erschöpfen, was du nicht bist. Dies kann geschehen, indem all das, was du nicht bist, total durchlebt wird – eben bis es „erschöpft“, ausgeschöpft ist. Dabei ist eine Frage der ständige Begleiter: Wer oder was erlebt das alles eigentlich?

 

Auflösung der Gegensätze durch Ekstase

Als ich begann, andere Menschen auf diesen Weg einzuladen, entstand eine bestimmte Form der Ausdrucksarbeit. Diese erlaubt den emotionalen und mentalen Bindungen des Egos, mit existentieller Intensität zum Ausdruck zu kommen und losgelassen zu werden. Ein Prozess, der durch künstlerische Mittel – aus meiner Sicht vor allem rituelles Theater, Tanz und Performance – in besonderer Tiefe und Weite möglich wird. Diese Erfahrung hat ekstatische Qualität, wobei Ekstase hier nicht Verzückung meint, sondern die Auflösung des Gegensatzes von Schmerz und Freude, begrenzter Person und Welt. So wird der leere Raum, in dem die Erscheinungen wie auf einer Bühne kommen und gehen, unmittelbar erfahrbar. Alle Gefühle, Gedanken und Empfindungen dürfen in ihrer ganzen Fülle da sein und zum Ausdruck kommen. Zugleich aber gibt es da den unbeteiligten Zeugen, der von all dem unberührt bleibt. Das Selbst erkennt sich als das stille Gewahrsein, in dem totaler Ausdruck ohne Identifikation stattfindet. Dies nenne ich auch das Advaita – die Nondualität – der Kunst.

Auf dieser Grundlage entfaltet sich ein spiritueller Weg, der die beharrliche ­Erforschung der wahren Natur von Realität und Selbst mit der mystischen Qualität und Praxis des Ausdrucks verbindet. Diese Einladung wendet sich an ein „Du“, das in der lebendigen Begegnung zum „Wir“ wird und sich schließlich in die Einheit auflöst. Das „Wir“ in diesem Sinne ist der Kern eines schöpferischen Lebens, in dem grenzenlose Vielfalt als Ausdruck grenzenloser Einheit verwirklicht und bejaht ist. Der hier skizzierte Weg ist nur eine der möglichen Antworten auf die Frage nach der spirituellen Dimension und Praxis der Kunst. Es wird sicher noch viele andere geben, denn die Zeit ist reif für eine kreative Spiritualität (oder spirituelle Kreativität). Dabei wird es aus meiner Sicht nicht, wie bei Beuys, um die Veränderung der Welt gehen. Denn der Realitätsgehalt eben dieser Welt und der begrenzten Person, die sie zu erfahren meint, dürfen  bezweifelt werden. Mehr noch: Dieser Zweifel ist die vielleicht wichtigste Quelle spiritueller Entwicklung.


Abb: © alphaspirit – Fotolia.com

Begegnung und Wir! – Happening mit Leon in Berlin:
23.-25.8., 18.-20.10. (Aquariana, Kreuzberg). Außerdem: ­Leon beim Berlin Kongress 2013 des forum erleuchtung, 2.-4.8.2013 (English Theatre, Kreuzberg).

Kontakt über Tel.: 089-215 528 23 oder info@­meetingleon.com

Weitere Veranstaltungen und Infos auf www.meetingleon.com

Eine Antwort

  1. walter gucher
    neu für mich

    was im advaita wenig passiert erscheint im zen als das selbstverständlichste………um belange und erscheinungsformen von kunst wird kein bogen gemacht

    auf dem feld,daß für mich ohne totale freiheit bedeutet wird ein verhalten erwartet,daß mit freizügigkeit nichts zu schaffen hat
    die kunst-betriebs gesellschaft macht und macht und macht und der künstler in seiner position wird nur noch wahrgenommen , wenn er in ein korsett paßt oder einem sythem gefällt

    in dem artikel habe ich von dingen gespührt und gehört,die ich lange schon mit mir herumtrage und die so formuliert mir neu erschienen sind

    danke

    walter.gucher.at

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