Die Elfe im Blumenkasten 1. Februar 1999 Persönliches Wachstum Von Wolfgang Müller Vor einigen Jahren begab es sich, daß ein junger Mann aus Berlin-Schöneberg sich anschickte, nach Island zu reisen. Er hieß André und war ein stiller, ruhiger Mensch, der eigentlich gar nicht so recht in die Großstadt zu passen schien. Immer wenn ihm die Stadt zu hektisch und anstrengend wurde, blätterte er in seinen Fotobüchern, um sich in die phantastischen Landschaften Islands zu versenken. Besonders gut gefielen ihm die Fotos von der Geburt der Vulkaninsel Surtsey und die von der Eiskappe des Snæfellsjoküll. Er wollte dieses Land unbedingt einmal besuchen. In der Universität hatte er bereits einen isländischen Sprachkurs belegt. Nachdem André durch einen Job etwas Geld gespart hatte, kaufte er sich ein Flugticket. „Es geht jetzt vom Flughafen Schönefeld direkt nach Keflavík. Das ist ganz neu“, sagte die Verkäuferin im Reisebüro. Früher hätte er in Hamburg oder Kopenhagen umsteigen müssen, jetzt sei es viel komfortabler. Jedenfalls kam er an einem Nachmittag Mitte Juli an. Es nieselte ein wenig, aber ab und zu, wenn der Wind ein Loch in die Wolken riß, berührten die Strahlen der Sonne den Boden. André fuhr mit dem Linienbus vom Flughafen nach Reykjavík und mietete dort ein Zimmer in einem kleinen Gästehaus. Direkt vor dem Haus stand eine große Esche mit glattem, grauem Stamm. Ihre Blätter flatterten heftig im Wind wie Wäsche auf der Leine. Darunter blühten einige Stiefmütterchen in bunten Farben. Drei Tage und drei Nächte blieb André in dem Gästehaus und immer, wenn er beim Frühstück war, lauschte er dem Geräusch der Blätter. Manchmal war der obere Teil des Fensters geöffnet, während der Wind wehte, dann war das Geflatter besonders gut zu vernehmen. Am vierten Tag packte er seinen Rucksack, um auf das Land zu fahren. Er bestieg den Bus nach Landmannalaugar. Dort wollte er in heißen Bädern baden und die schönen Berge bewundern. Zuerst fuhr der Bus entlang der Südküste, vorbei an der kleinen Stadt Hella, dann ins unbewohnte Landesinnere, durch die von Lava geformte Landschaft am Fuße der Hekla. Uber den Lavapaß bei Frostastadaháls gelangte er schließlich nach Landmannalaugar, einer wunderbaren Oase inmitten farbenprächtiger Berge. Ein kleiner, warmer See lockte zum Bad. André zog sich aus und tauchte in das weiche, dampfende Wasser. Neben dem Bad lag ein schöner, runder, tiefschwarzer Stein. Immer wenn jemand hineinsprang, schwappte etwas Wasser darauf. Dann glänzte der Stein besonders verführerisch im Licht der Sonne. André erinnerte sich daran, daß er vorgehabt hatte, etwas aus Island mit nach Hause zu nehmen, aber die Souvenirs aus den Geschäften mochte er nicht so sehr. „Vielleicht sollte ich einfach den Stein als Andenken mitnehmen, so wie er ist, roh und unbearbeitet“, dachte er. „Er ist doch viel schöner als ein ausgestopfter Papageientaucher oder ein Wikinger aus Plastik.“ Er griff nach dem Stein, doch es war nicht so leicht, ihn aus dem Boden zu ziehen. Immer wieder rutschte er ihm aus den Händen und irgendwie schien er im Erdreich festzuhaken. Nach mehreren Versuchen und unter Aufbringung seiner ganzen Kraft gelang es André dann doch noch, den Stein zu lockern und herauszureißen. Er tauchte ihn in das eiskalte Wasser eines Baches, wusch den Schlamm ab, trocknete den Stein mit einem Tuch und wickelte ihn in Zeitungspapier ein. Den papierumhüllten Stein legte er in eine Plastiktüte. Das Ganze verstaute er schließlich in seinem Rucksack. Es war schon ziemlich spät, als André sich entschloß, zum Campingplatz zu gehen, um das Zelt aufzubauen. Er lud das Gepäck auf seinen Rücken und ging einen matschigen, vom Regen aufgeweichten Feldweg entlang. Irgendwie kam es ihm vor, als ob der Stein das Gewicht des Rucksacks verdoppelt hätte, seine Stiefel sanken tief in den Schlamm und er hatte große Mühe, überhaupt vorwärtszukommen. Unablässig flogen zwei Rotschenkel um ihn herum und riefen tjik tjik tjik .. tjik tjik tjik. Endlich sah er den Campingplatz und mit letzter Kraft schleppte er sich dorthin. Er schlief diese Nacht unruhig,und träumte, sein Zelt sei davongeflogen und er läge bloß und nackt im nassen Gras. Am Morgen packte André seine Sachen und fuhr zurück nach Reykjavík. Der Rucksack indes schien noch schwerer geworden zu sein. Als der Busfahrer ihn schwungvoll in die Ladeklappe werfen wollte, schrie er vor Anstrengung auf. „Um Himmels Willen! Transportierst Du Kanonenkugeln ?“ André lachte und dachte nur: „Wenn ich den Stein jetzt schon so weit befördert habe, dann wäre es doch schade, ihn hier irgendwo Iiegen zu lassen.“ Am Check-In-Schalter des Flughafens Keflavík hievte er den Rucksack auf das Förderband. „Übergewicht“, sagte die Angestellte „das kostet 10.000 Kronen extra.“ So gelangte das Gepäck mit dem Stein schließlich in das Flugzeug, das vier Stunden später den Flughafen Berlin-Schönefeld erreichte. Dort stieg André in ein Taxi. Der Taxifahrer hob das Gepäck auf, um es im Kofferraum zu verstauen. André hörte nur Ächzen, Stöhnen und ein paar Flüche. „Verdammte Baggage!“ Schweißüberströmt und mit rotem Kopf setzte sich der Fahrer hinter das Lenkrad und fuhr ohne ein Wort zu sagen in die Straße, die ihm sein Fahrgast angegeben hatte. Die Hochkirchstrasse in Schöneberg ist eine schmale gewundene Straße, die von der Großgörschenstraße und der Monumentenstraße begrenzt wird. Rechts und links von ihr stehen Mietshäuser, die im vorigen Jahrhundert gebaut wurden. Von der Großgörschenstraße steigt sie steil an, sie liegt auf einemAusläufer des Kreuzbergs. André bezahlte und stieg aus. Der Kofferraum des Taxis war bereits geöffnet, der Fahrer saß jedoch noch hinter dem Steuer, rauchte eine Zigarette und hustete dreimal. André griff nach seinem Rucksack und schleifte ihn zur Haustür, von dort aus über den Flur, in den Hinterhof, zum Hinterhauseingang, die Treppen hoch in den vierten Stock. Es mag wohl eine Ewigkeit gedauert haben, aber irgendwann befanden sich André und der Stein vom Ufer des warmen Naturbads in der Wohnung. Er packte seine Siebensachen aus, befreite den Stein aus seinen Umhüllungen und legte ihn auf den Holzfußboden. Ein paar Sonnenstrahlen, die durch die Vorhänge ins Zimmer fielen, ließen ihn funkeln und strahlen. „Ach, ich weiß, wo er hingehört: auf den Balkon… Wenn es Sonne gibt, scheint sie immer da“, dachte er, rollte den Stein auf den Balkon, nahm ihn in beide Hände, hob ihn hoch und legte ihn in den Blumenkasten, direkt neben den Schnittlauch. Es wurde ein schöner Altweibersommer. André saß oft auf dem Balkon und lauschte dem Gesang des Grünfinken, der auf der höchsten Fernsehantenne jeden Tag am frühen Abend entzückende Melodienfolgen dahinträllerte. Manchmal huschte ein Elstempärchen keckernd über das rote Ziegelsteindach des gegenüberliegenden Hauses und eines Nachmittags setzte sich ein rot, weiß, gelb und karamelbraun gefärbter Vogel, ein Distelfink auf den gelbleuchtenden Fruchtstand der Sonnenblume im Blumenkasten. Auf das gelegentliche Seufzen und den traurigen Singsang, der wohl aus einer Nachbarswohnung kam, achtete André nicht. „In der Großstadt lebt man, um sich nicht mit seinen Nachbarn beschäftigen zu müssen“, hatte die kürzlich verstorbene Hauswartsfrau immer zu ihm gesagt. Und sie meinte das so, wie sie das sagte. Im Spätherbst nahm der monotone traurige Sing-sang und das Geseufze jedoch so zu, daß André manchmal das Fenster schließen mußte, um sich auf sein Skandinavistikstudium konzentrieren zu können. Eines Abends, es war kurz vor einer wichtigen Prüfung, weinte und seufzte es so herzzerreißend, daß André nicht anders konnte und entnervt bei den Nachbarn klingelte. Die Tür öffnete sich und ein frohgelauntes Mädchen sagte: „Hallo, was gibt’s?“ – Ob ihr das Geweine und Gejammere noch nicht aufgefallen sei, fragte André verunsichert. „Aber klar“ antwortete sie. „Das kommt von da!“ Sie führte ihn zu ihrem Balkon und wies direkt zu Andrés Balkon. „Von da? Das ist ja meiner!“ stammelte er entgeistert. „Wir hatten eigentlich schon vorgehabt, mal bei ihnen zu klingeln, um nachzufragen, was da los ist“, sagte sie und hob skeptisch ihre Augenbrauen. – „Vielen Dank, ich kümmere mich darum“, sagte André und hastete völlig verwirrt über den Flur in seine Wohnung. Dort setzte er sich neben dieTür zum Balkon, hob vorsichtig den Vorhang und schaute mit zusammengekniffenen Augen auf den Balkonboden, das Gitter und die Blumenkästen, in denen manche Pflanzen von den beginnenden Herbstfrösten bereits braune Flecken hatten oder schlaff herunterhingen. Der Schnittlauch indes war noch ganz grün, und als er den danebenliegenden Stein so betrachtet, da ist ihm, als ob da etwas daran hinge, etwas Helles, Weißes, fast Durchsichtiges. Er geht mit seinem Kopf noch näher an die Scheibe, um zu sehen, was das ist… und da sieht er ein Köpfchen mit langen, bleichen Haaren, als ob es aus dem Stein schauen würde. Vorsichtig dreht es sich nach rechts und links. Und es hat Augen, Nase und Mund. Der Mund ist gespitzt und ruft: „Oh, oh, oh – oh, oh, oh.“ Dann ragt eine Schulter heraus, zwei Beine und schließlich steht da ein ganz kleines, zierliches Wesen barfuß im Schnittlauch. Es hat ein dünnes Hemdchen an und trippelt zum Rand des Blumenkastens, beugt sich nach vorne, seufzt und singt: „Wo bin ich hier? Ist da jemand, den ich kenne?“ André ist tief erschüttert. Jetzt erst weiß er, daß er einen Stein, in dem eine Elfe lebt, mit nach Berlin genommen hat. Und sie ist einsam, denn wer versteht hier schon ihre Sprache? André klopft zaghaft an die Glastür und flüstert: „Hva∂ syngur í pér?“. Das heißt „Wie geht es Dir?“ Und sie schaut sich um, mit traurigen, großen Augen, erblickt ihn hinter dem Vorhang und singt: „Talar pú íslensku?“ Und André, der eigentlich gar nicht richtig singen kann, singt: „Já, ég tala íslensku!“ Und sie unterhalten sich singend den ganzen Abend und auch die nächsten Tage und Wochen. Der Hochschullehrer war ganz verwundert, daß die Leistungen von André in Isländisch plötzlich so gut geworden waren und fragte ihn, ob er denn zuhause viel übe. „Ja, ich habe eine Elfe im Blumenkasten“, antwortete André, „die ich versehentlich aus Island mitgebracht habe. Mit der spreche ich viel, das heißt, ich singe mit ihr, damit sie nicht einsam ist.“ „So, so“, sagte der Lehrer und lächelte freundlich. „Jeder hat eben seine eigene Lernmethode…“ Es bleibt noch zu sagen, daß die Elfe sich gut in Berlin einlebte, bei André Deutschunterricht nahm und sich seitdem mit den anderen Elfen im Hinterhof oft und gern unterhält. Geseufzt hat sie jedenfalls nie wieder, soweit bekannt ist. Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar Antwort abbrechenDeine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.KommentarName* E-Mail* Meinen Namen, meine E-Mail-Adresse und meine Website in diesem Browser für die nächste Kommentierung speichern. Überschrift E-Mail-Benachrichtigung bei weiteren Kommentaren.Auch möglich: Abo ohne Kommentar. Durch Deinen Klick auf "SENDEN" bestätigst Du Dein Einverständnis mit unseren aktuellen Kommentarregeln.