Die Freie Interkulturelle Waldorfschule in Berlin bedient sich eines besonderen gemeinschaftsbildenden Ansatzes. Sie ermöglicht eine kulturübergreifende Begegnung von Mensch zu Mensch. Die Vision eines gesellschaftlichen Beziehungs- und Begegnungsmodells hat sich in Form einer Schule in unserer Hauptstadt Berlin verwirklicht.

von Johannes Mosmann

Es war ein weiter Weg von der Idee bis zur Eröffnung der interkulturellen Waldorfschule Berlin. Inzwischen sind einige Schuljahre vergangen, eine Idee ist auf die konkreten Anforderungen des Alltags getroffen. Bereits mehr 100 Kinder besuchen gegenwärtig die Schule, viele Kinder haben einen Migrationshintergrund. Zu Hause wird Arabisch, Türkisch, Serbisch, Finnisch, Spanisch und vieles mehr gesprochen.

Im Juni 2017 waren die Vertreter der Berliner und Brandenburger Waldorfschulen zu Gast. Das Konzept war bekannt, doch nun war die Schule wirklich da, es konnte aus den Erfahrungen des Alltags berichtet werden. Zur Einstimmung trugen Kinder der 2. Klasse ein arabisches Volkslied vor, die Klassenlehrerinnen berichteten aus ihrem Alltag und die Sprachlehrer aus dem Arabisch-, Türkisch-, und Spanisch-Unterricht. «Warum habt Ihr keinen Religionsunterricht?» fragte einer der Teilnehmer. Am Beispiel des Nouruz- Festes, das wir unter Anleitung unserer muslimischen Kollegen in der Schule gemeinsam begangen hatten, konnten wir diese Frage beantworten.

Gerade der «fehlende» Religionsunterricht macht den Impuls unserer Schule deutlich. Das Nebeneinander-Gestellt-Sein der religiösen Gemeinschaften, wie es durch den sonst üblichen Religionsunterricht zum Ausdruck kommt, ist ein Bild der gegenwärtigen Entfremdung. Schließlich hat jede Konfession das erklärte Ziel, die Kinder in ihre eigene Gemeinschaft einzugliedern. Dieses spaltende Moment wirkt umso stärker, als der konfessionelle Unterricht an das Gemüt und die moralisch-spirituellen Kräfte appelliert, während der übrige Unterricht demgegenüber «trocken» erscheint.

Die Interkulturelle Völkerbegegnung

Wir begreifen die Waldorfpädagogik so, dass wir innerhalb der ganzen Klassengemeinschaft Achtung, Begeisterung und Liebe gerade für die Erscheinungen der äußeren, vermeintlich «trockenen» Welt wecken wollen. Das Moralisch-Geistige soll nicht neben dem Leben, sondern gerade inmitten des Lebens gefunden werden. Zu den Erscheinungen des äußeren Lebens gehören auch die religiösen Gemeinschaften. Auch zu diesen soll sich das Kind hinwenden können. Wir unterscheiden zwischen einer konfessionellen und einer rein pädagogischen, auf die Erkenntniskräfte zielenden Handhabung der Religionen. Als Schule wollen wir gerade nicht neben den katholischen, evangelischen usw. Religionsunterricht nun noch einen islamischen stellen. Wir möchten ermöglichen, dass sich die Religionen und Religionsgemeinschaften als Lebenstatsachen gemeinsam kennenlernen. Die Schüler sollen über die vielbeschworene «Toleranz», die oft nichts anderes als Desinteresse bedeutet, hinausgehen. Sie sollen ein lebendiges Verständnis der Kräfte entwickeln können, die Menschen als Mitglieder verschiedener Gruppierungen erscheinen lassen.

Dabei interessiert uns nicht der abstrakte Gedanke, dass «Allah» derselbe sei wie «Gott», sondern umgekehrt: wie anders wird dasselbe hier und wie ganz anders dort erlebt? Ebenso im Hinblick auf die Sprachen, Nationalitäten usw.: Wie stellt sich die Seele zur Welt, wenn sie in den Lauten der arabischen Sprache lebt und wie in den Lauten der deutschen Sprache? Was ist da «anders»? Ebenso sehr wie an Fundamentalismus, Nationalismus und Rassismus erkrankt unsere Gesellschaft an einem Internationalismus. Dieser sucht die Gemeinsamkeit in abstrakten «Werten» und Widersprüche werden als «bunte Vielfalt» schlichtweg konsumiert. Das weltweite Wiedererstarken völkischer Kräfte beweist, dass dieser Internationalismus nicht tragfähig ist. Der sogenannte «neue» Nationalismus ist eine unschöne, doch ganz natürliche Gegenreaktion.

Wir streben deshalb weder eine abstrakte «Wertegemeinschaft» noch einen «Karneval der Kulturen» an. Wir möchten in einen tiefergehenden, lebenslangen Verständigungsprozess eintreten. Auf diese Weise wollen wir am Aufbau einer wirklich tragfähigen Gemeinschaft der Zukunft mitwirken. Ein wirksames Mittel hierzu ist die pädagogisch geführte Begegnung mit den durch die Kinder vertretenen und somit tatsächlich anwesenden Kulturen. Dies geschieht im Fach Begegnungssprache, durch die Art der Behandlung des Unterrichtstoffes, oder bei gemeinsamen Festen.

Vom Ich zum Wir

Wie interkulturelle Begegnung mit allen Herausforderungen gelebt werden kann, erleben wir unter anderem in unserem Feste-Kreis. Dort mussten wir für uns immerzu prüfen: wann handelt es sich um eine echte Begegnung und wann wird es Unterhaltung? In der Vorweihnachtszeit erreichte dieser Prozess einen ersten Höhepunkt: Eine muslimische Familie weigerte sich, ihr Kind am Sankt-Martins-Fest teilnehmen zu lassen. Außerdem befinden sich zwei muslimische Pädagogen im Kollegium. Je näher die Weihnachtszeit rückte, desto klarer wurde, dass wir nicht einfach das typische Weihnachtsprogramm abspulen konnten. Wir mussten Routine – Gewordenes wieder ins Bewusstsein heben: Warum feiern wir Weihnachten? Ist Waldorfpädagogik eigentlich christlich? Wann handle ich christlich? Und die schwierigste Frage: Kann es bezüglich religiöser Fragen überhaupt ein «wir» geben oder nur das individuelle Einstehen für die eigenen Überzeugungen? Durch das selbstgewählte «interkulturelle» Arbeitsumfeld waren wir genötigt, zwei Aspekte zusammenzubringen: Erstens, «wir» wollten unsere christlichen Impulse nicht verleugnen. Zweitens, dieses «wir» sollte Andersgläubige nicht ausgrenzen. Wie löst man das?

Das Kollegium kam schließlich dahin, dass die Antwort gerade nicht in einer Verwässerung des eigenen Standpunkts liegt, sondern ausgerechnet im Gegenteil. Nämlich in seiner Vertiefung. In dem Augenblick, da ich die christlichen Symbole und Rituale selbst verstehe, da ich die geistige Wahrheit, die sich z.B. im Bild des Weihnachtsbaums ausdrückt, als meine persönliche Erkenntnis besitze und darüber aus meinem individuellen Empfinden heraus sprechen kann, kann ich vom Andersgläubigen verstanden werden. Das «wir» bildet sich dann als Ergebnis der individuellen Erkenntniswege. Im Sinne einer freien und freilassenden Begegnung. Ein abstrakt vorausgesetztes «wir sind christlich» dagegen, das Weihnachten irgendwo zwischen Messe und Shopping gedankenlos abspult, verhindert jede tiefere Begegnung.

Damit näherten wir uns dem Kernpunkt unserer Initiative: Im Begegnungsmoment liegt die Möglichkeit, Routine-Gewordenes aus den Gewohnheiten heraufzuholen und in bewusste Erkenntnisse umzuwandeln. Auf beiden Seiten. Die Begegnung mit dem zunächst «Fremden» bewirkt also auch bei den deutschsprachigen Kollegen, dass diese zu der eigenen kulturellen Prägung in ein immer bewussteres Verhältnis treten können. Und es ist ein unglaublich spannender Moment, wenn man in einer solchen Begegnung z.B. an sich selbst bemerkt: «Dass Du gerade so denkst oder fühlst, hat viel weniger mit deiner Individualität zu tun als einfach damit, dass Du ein Mensch deutscher Kultur bist. Was Du bisher unbewusst zu Dir selber gerechnet hattest, teilst Du in Wahrheit mit vielen anderen Menschen. Das macht Dich in Wahrheit zum Repräsentanten einer Volksgruppe.»

“Das umfassend Menschliche kommt eigentlich durch keinen einzelnen Menschen, nicht durch den Angehörigen eines einzelnen Volkes zum Vorschein, es kommt nur durch die ganze Menschheit zum Vorschein. Und willst du, Mensch, dasjenige erkennen, was du als ganzer Mensch bist, so durchwandere die Eigentümlichkeiten der einzelnen Völker der Erde. Nimm alles auf, was du selber nicht haben kannst, dann erst wirst du zum ganzen Menschen. Du hast ihn doch in dir; werde nur aufmerksam auf das, was in deinem Innern ist. Was bei dem anderen Offenbarung ist, hast du nicht; du mußt es bei ihm suchen … Die Anlage zu einem ganzen Menschen ist schon in jedem, aber die Erfüllung müssen wir finden, indem wir die Eigentümlichkeiten des Wesens der verschiedenen Völker, wie sie über die Erde ausgebreitet sind, durchwandeln.“ Rudolf Steiner

Individuelle und kollektive Kräfte der menschlichen Seele

Von dieser Möglichkeit, zu den im Anderen und in einem selbst wirksamen Gruppen- und Volkskräften in ein immer bewussteres und somit freieres Verhältnis treten zu können, hängt alle Völkerverständigung in Wahrheit ab. Das schlimmste Missverständnis unserer Zeit ist, dass man dadurch zu einem Internationalismus glaubt kommen zu können, dass man das Nationale ausblendet. Damit drängt man diese Kräfte lediglich ins Unbewusste. Dort sind sie dem blinden Spiel von Sympathie und Antipathie anheimgegeben. Verständigung ist in dem Maß möglich, als wir uns von der Fratze des Nationalismus gerade nicht verleiten lassen, den Blick von den Gruppenkräften abzuwenden. Sondern diese immer gründlicher und ehrlicher kennenlernen.

Der Kern der interkulturellen Waldorfpädagogik ist: Sie erzieht das Kind nicht nach nationalen oder nationalwirtschaftlichen Interessen, sondern stellt das Individuum selbst ins Zentrum. Für sie besitzt das Ringen mit den Gruppen – Kräften deshalb noch eine ganz andere Bedeutung: Diese Waldorfpädagogik verkehrt sich ins Groteske, wenn sie nicht als individuelle Kunst, sondern als Gruppenphänomen wirkt. Wenn sie in die Routine oder gar ins Programmatische abgleitet. «In der Waldorfpädagogik macht man es so und so.» Dieser Satz verblasst im interkulturellen Kontext gegenüber dem ganz anderen Erlebnis, dass die Waldorfpädagogik den Pädagogen vor allem geistesgegenwärtig machen kann für das Augenblickliche. Dieses gegenwärtige Dasein und Handeln versuchen wir Tag für Tag im interkulturellen Schulalltag zu leben.

Wenn eine Gemeinschaft einer Vision folgt

Kinder und Eltern äußern immer wieder, wie dankbar sie für diese Schule sind. Spätestens seit dem Sommerfest können wir uns vor Anfragen für die kommenden 1. Klassen nicht mehr retten. Dennoch bleiben die ersten 5 Jahre eine Herausforderung für uns. Beispielsweise erhalten wir in dieser Zeit wegen der gesetzlichen Wartefrist keinerlei staatliche Zuschüsse für den Schulbereich. Deshalb verzichten wir auf ein übliches Gehalt. In Berlin verdient ein Grundschullehrer bis zu 5.300 Euro brutto. Unsere vollausgebildeten PädagogInnen arbeiten freiwillig für maximal 2.630 Euro brutto, weil sie von der Dringlichkeit einer interkulturellen Pädagogik überzeugt sind. Zwar sieht das Berliner Schulgesetz vor, dass freie Schulträger bereits nach 3 Jahren 50% des Budgets beantragen können, das einer staatlichen Grundschule zur Verfügung steht. Doch unser entsprechende Antrag wurde vom Senat mit Hinweis auf die knappe Haushaltslage abgelehnt. Angesichts eines Haushaltsüberschusses von 2,1 Milliarden Euro eine wahrhaft kuriose Antwort.

Doch wir möchten uns von der Politik nicht zwingen lassen, eine „Privatschule“ zu werden und hohe Schulgelder zu nehmen, sondern wollen auch weiterhin für alle Kulturen und sozialen Schichten offen sein. Wie ist das möglich? Oftmals machten wir die wunderbare Erfahrung, dass uns im richtigen Augenblick Menschen begegnen, die sich für unseren besonderen Ansatz begeistern und deshalb mit Spenden helfen. Und so ist es immer wieder: Irgendwo tritt eine neue Schwierigkeit auf, und doch finden sich immer wieder gemeinsame Wege und Lösungen. Wir verspüren deshalb große Freude und Lust, alle kommenden Herausforderungen gemeinsam anzunehmen. Und vielleicht lernt der Senat dann auch noch was. Zum Beispiel, dass die Zukunft nicht dadurch gemeistert werden kann, dass wir einfach den alten Stiefel weiter tragen.

Link: Politisches Positionspapier der Freien Interkulturellen Waldorfschule
http://berlin.interkulturellewaldorfschule.org/files/bilder/dokumente/Positionspapier%20der%20IKWS.pdf

Spendenkonto:
Freie Interkulturelle Waldorfschule Berlin
IBAN: DE 82430609671163350800
BIC: GENODEM1GLS
GLS-Bank

Johannes Mosmann
Geschäftsführer
Freie Interkulturelle Waldorfschule Berlin
Schnellerstr. 1-5
12439 Berlin
030/23942606

 

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