Ein tantrisches Einzel-Retreat

Fernab von weltlicher Hektik begibt sich Silvio Wirth in ein ungewöhnliches Retreat. Er verbringt zweieinhalb Tage in einer Höhle, um sich selbst wieder neu zu begegnen. Doch ein Aufenthalt im Inneren, „im Bauch von Mutter Erde“  hat seine ganz eigenen Tücken …

 

Seit drei Jahren bin ich Schüler des buddhistischen Tantra-Pfades. Dieser Weg ist eine seit über 1200 Jahren ungebrochene Tradition, die aus Indien stammt und heutzutage fast nur noch in Tibet praktiziert wird. Selbst Tantralehrer und dennoch weiterhin Suchender, hatte ich das Glück, einen Meister zu finden, der bereit war, mir eine Einweihung in diese alte und faszinierende Lehre zu geben, die meiner tantrischen Praxis Tiefe und authentische Wurzeln verleiht. In täglicher Meditation beginne ich seitdem mehr und mehr die fundamentale Natur der Dinge zu erkennen, was sich im Außen als wachsendes Mitgefühl für alle Wesen manifestiert.

Zu den Verpflichtungen meines tantrischen Weges gehört auch ein jährliches Einzel-Retreat: eine Woche, in der ich mich in völliger Abgeschiedenheit nur meinen tantrischen Meditationen und Energieübungen widme. Für dieses Jahr hatte ich mir etwas Besonderes vorgenommen: ich würde für zweieinhalb Tage unter die Erde in komplette Dunkelheit gehen. Ermöglicht wurde mir dies durch spirituelle Freunde hier im Fläming, die eine Erdhöhle nach schamanischer Tradition, Kiwa genannt, zum Zweck der Einkehr in ihrem Garten gebaut haben. Die Kiwa ist in einen Hügel hineingebaut, etwa drei Meter unter der Erde. Innen hat sie die Form eines halbkugelartigen Doms von ca. 3 Metern Durchmesser. In der Mitte ist eine einfache Matratze, auf der man sitzen und liegen kann. Die Luft ist kühl und feucht. Wenn man die Tür hinter sich schließt, ist man im absoluten Dunkel. Tag und Nacht ist nicht zu unterscheiden.

Die ersten zwei Tage des Retreats verbrachte ich im benachbarten Bauwagen, mitten in dem wunderschönen Garten meiner Freunde. Mit meinem Proviant, Wasser, Campingkocher, einigen Büchern und meinen Ritualutensilien kam ich am Abend an. Das Zeremoniell musste nach Art des buddhistischen Tantra aufwendig vorbereitet werden. Altarvorbereitungen, Räucherungen, Rezitationen, bis klar war, dass der Platz energetisch stimmt und mein Inneres langsam vom geschäftigen Tun loslässt und sich auf eine intensive Reise zu mir selbst einstimmt. Der nächste Tag war bestimmt vom wohltuenden Rhythmus Meditation- Essen-Meditation-Pause-Meditation. Tantrische Meditation in der buddhistischen Tradition besteht vor allem aus der Visualisierung einer Schutzgottheit, eines sogenannten Yidam, aus Mantrarezitationen und intensiven Chakra- und Energieübungen.

 

Einkehr in die Dunkelheit

Mittlerweile waren mein Körper und mein Geist bereit, ins Dunkel zu gehen. Mit mir nahm ich eine Kiste mit Proviant, einen Eimer für die Notdurft sowie zwei große Kerzen, die mir Licht spenden sollten, wenn’s nötig sein würde. Nachdem ich die Tür hinter mir zugezogen hatte, glitt ich langsam ins absolute Dunkel. Mein Entschluss stand fest, erst wieder hinauszugehen, wenn Heike, meine Betreuerin im Außen, vorbeikommt und mir sagt, dass die Zeit vorbei ist.

Zuerst kam der Schlaf. Ich versuchte mich nicht zu wehren, sondern achtsam mit meinen  Träumen zu sein. Die Nacht war unruhig, wild. Vieles ging mir durch den Kopf. Ich war ständig zwischen Schlafen und Wachen. Durch die äußere Stille und das Ruhigstellen des Gesichtssinns durften die Samskaras, Brocken aus meinem Unterbewussten, die sonst unterschwellig bleiben, nach und nach die Grenze meines Bewusstseins passieren. Freuden, Leiden, Lüste und Ängste wechselten sich ab. Es regnete die ganze lange Nacht.

Langsam musste es Morgen sein. Meine Ohren spitzten sich. Hier in der Stille wurden sie zu hochsensiblen Sensoren, denen weder das Krähen der Hähne noch die kaum noch wahrnehmbaren Signale menschlicher Alltagsbeschäftigung entgingen. Ich zündete erstmals die Kerze an, um zu pinkeln und eine Kleinigkeit zu mir zu nehmen. Zu meinem Entsetzen hatten sich diverse Nacktschnecken, Käfer und andere Tiere zu mir gesellt und sich zum Teil über meine Vorräte hergemacht. Mich durchzuckte die Angst, dass ich in der Dunkelheit der Furcht und dem Ekel, die sich hoch schlichen, auf Dauer nicht gewachsen sein könnte.
Nach einem Morgengebet widmete ich mich der Meditation. So verging der ganze Tag im Retreat mit Stadien der Meditation, des Schlafs und des Dahindämmerns. Gegen Abend packte mich eine Euphorie: was für ein Frieden hier. Allein zu sein, im Dunkel, in der Stille, ohne irgendetwas zu brauchen. Wie sehr ich mich spürte, meine Essenz, meinen Geschmack, den Geschmack des Seins.

 

Frühstück mit Nacktschnecken

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Diese Nacht war immer noch unruhig, aber der Schlaf trug mich dann fort in ferne und schöne Länder voller Gottheiten, schöner Frauen und Abenteuer. Wieder krähten die Hähne. Ein winzig dünner Faden aus Licht lugte durch die Türritze hinein. Das Regenprasseln hatte aufgehört. Die Nacktschnecken waren nicht mehr, aber auch nicht weniger geworden. Meine Morgenrezitation: Mögen alle fühlenden Wesen, grenzenlos wie der Himmel, die alle meine Mütter gewesen sind, Glück und die Ursache des Glücks besitzen! Plötzlich verstand ich den Sinn dieser Worte. Das, was ich hatte, mit den Wesen zu teilen. Ich richtete in einer Ecke den Altar für die Wesen her, worauf ich die Schnecken setzte und dazu alles, was sie mögen: Tomaten, Rettich, Salat. Wir teilten alles in dieser sonderbaren WG für drei Tage. Heute war ich wenig müde, die Meditation fiel mir leicht. Die Ängste waren weg, ich fühlte mich stark und schön. Ab und zu gab es Zeiten der Langeweile. Ich dachte darüber nach, wen ich alles liebe und warum. Mein Herz wurde voller, und ich entschloss mich zu einem einsamen Ganachakra-Ritual, nur in Begleitung einiger Schnecken. Dieses Ritual wird gewöhnlich in einer Sangha, also einer Gemeinschaft von Praktizierenden, einmal monatlich gefeiert und besteht aus der Herstellung und dem Genuss geweihter Speisen und Getränke. Dabei werden spirituelle Belehrungen, aber auch Gedichte und Lieder vorgetragen, und es kann zu einem kreativen, heiteren Fest werden, aber immer in Verbindung mit einer hohen geistigen Haltung. Dieses Ritual im Bauch von Mutter Erde wurde eines meiner bisher intensivsten, wenn auch mit einer sehr ungewöhnlichen Sangha zelebriert.

 

Im Bauch von Mutter Erde wachsen

Jetzt war es gut. Ich wollte ganz gerne wieder raus. Nach einem ausgezeichneten und tiefen Schlaf waren am nächsten Morgen die Tierchen fast alle wieder gegangen. Meine Morgenmeditation war tief und stark und brachte einen lang ersehnten energetischen Durchbruch. Sie war noch nicht zu Ende, als Heikes Stimme mir die vereinbarten Worte dezent durch die Tür zurief. Alles klar! war mein kurze Antwort, denn wirklich war alles gut gegangen. Die Ängste waren wie weggeblasen, es überwog jetzt die Freude, bald wieder teilzuhaben am bunten und schönen Leben, von Mutter Erde jetzt wieder freigegeben zu werden in die wilde freie Welt.

Es regnete wieder in Strömen, als ich mutig die Tür aufmachte. Ich lief in den Garten und sah die ungeheure Schönheit der Blumen, des Grases, den grauen Himmel über mir. Erst Stunden später, mit einem festen Dach unter dem Kopf, merkte ich, wie fertig ich eigentlich war. In zwei Tagen war ich zum Höhlenmenschen geworden, der zum Glück noch nicht unter die Leute musste, sondern noch zwei Tage voll wundervoller Meditation vor sich hatte.

Seither hat sich so vieles im Leben zum Besseren gewendet, dass es mir manchmal unwirklich scheint. Die Gegebenheiten sind eigentlich die gleichen, aber ich merke, dass ich eine Ruhe und Gelassenheit habe, einen Humor, den ich früher nur in besonderen Situationen entwickeln konnte. Ich bin für diese Tage sehr dankbar, in denen ich im Bauch von Mutter Erde nachreifen, wachsen, sterben und wiederkehren konnte. Ich danke meinen Freunden und allen Unterstützern, die mir das so einfach ermöglicht haben, und freue mich, hier in dieser wunderbaren Gemeinschafts-Region Fläming zu wohnen, in der man auf solche Wachstumsmöglichkeiten allerorten stößt.
Mögen alle fühlenden Wesen glücklich sein!

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