„Kehre in das Land deiner Seele zurück“: Das ist die Zeile eines Liedes, das im Kreis von Menschen gesungen wird, die sich auf den Weg begeben haben – auf den Weg ihrer persönlichen Visionssuche, auch Vision Quest genannt. Sie haben sich aufgemacht zu einer Reise zu sich selbst mit ihren ureigenen Anliegen. Sie wollen ihre eigene Seelenlandschaft entdecken oder sich erinnern an den Ruf der Seele. Was nun bedeutet das speziell für Frauen?

Von Annette Brandes

Die Wurzeln der Visionssuche liegen in verschiedenen Kulturen. Es mischen sich der lateinische Begriff „videre“- sehen, „Visio“ – Gesicht, „quaerere“- suchen, die indianische Tradition, wo es um das „Flehen um ein Gesicht“ oder den „Ruf der Vision“ geht, die englischen Ritter-Sagen der „Gralssuche“ und der Heldenreise sowie die christliche Kultur, die in der Bibel Berichte und Prophezeiungen bekannt macht, deren Botschaften in der freien Natur empfangen wurden. Traditionell waren diese Erfahrungen hauptsächlich Männern und Jungen vorbehalten, die den Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein bekundeten.

Wie war und ist das für die Frauen? Welche Übergangsrituale und Initiationen gibt es hier? Die Frauen in alten Kulturen hatten die „weisen Frauen“ in den Mond- oder Frauenhütten, die aufgesucht wurden in Zeiten des monatlichen Zyklus. Es gab die Geburtshäuser, wo Hebammen, Kräuterfrauen und andere erfahrene Frauen die Gebärenden betreuten. Altes Wissen wurde von Generation zu Generation weitergegeben. In der heutigen, modernen Zeit sind der schützende Raum der „weisen alten Frauen“ und ihr kostbares Wissen mitunter schwierig zu finden. Dieses Wissen ist je nach Kulturkreis unterschiedlich geprägt.

Frauen erleben allerdings ganz natürlich Initiation und Erneuerung in ihrem monatlichen Zyklus mit den Mondphasen. Jede Geburt ist für Mutter und Kind wie ein Schwellengang zwischen Leben und Sterben. So scheint es nur verständlich, dass gerade Frauen mit den Rhythmen der Großen Mutter eng verbunden sind, ihren Herzschlag spüren können und ein Rückverbinden wieder möglich ist. Das Naturritual der Visionssuche unterstützt die Erneuerung dieser Verbindung und baut darauf auf, dass Frauen seit jeher mit Initiationsritualen natürlicherweise vertraut sind.

Strukturen einer Initiation

Die historischen Quellen der Visionssuche finden wir in überlieferten Mythen und Märchen, in denen die Initiationsgeschichten strukturiert sind in Abtrennung, Schwellenwelt und Reintegration der Visionssuche. Eine weibliche Initiationsgeschichte ist zum Beispiel das Märchen von „Frau Holle“. In der Geschichte muss die fleißige, ungeliebte Stieftochter der blutigen Spinnspule, die in den Brunnen gefallen ist, auf Druck der unbarmherzigen Stiefmutter hinterherspringen. Voller Angst „trennt“ sie „sich ab“ von ihrer vertrauten Welt und springt. Sie überwindet die „Schwelle“ und taucht durch den Brunnen in eine Anderswelt (Schwellenwelt). Dort besteht sie mehrere Proben. Die Äpfel, die vom Baum geschüttelt werden, und das gebackene Brot, das aus dem Ofen geholt wird, sind Aspekte einer archaischen Weiblichkeit.

Bei Frau Holle, die den Mythos der großen Göttin vertritt und dem Mädchen wohlgesonnen ist, schüttelt sie die Betten und verrichtet fleißig Hausarbeiten. Ihr Heimweh rührt Frau Holle und sie lässt das Mädchen reich beschenkt mit Gold und der Spule zum Spinnen nach Hause gehen. Dorthin kehrt das Mädchen mit dem reinen Herzen als starke, wertgeschätzte Frau zurück.

Das Übergangsritual der elftägigen Visionssuche bietet den begleiteten Raum einer Auszeit, die drei Phasen einer klassischen Heldinnenreise prägt: die Trennungsphase, die Schwellenzeit und die Wiedereingliederung. Die Trennungsphase bedeutet, die Alltagswelt hinter sich zu lassen und bewusst in die Vorbereitung für die Auszeit zu gehen. Die Schwellenzeit ist die heilende Auszeit von vier Tagen und Nächten, alleine fastend, mit Wasser, Wetterschutz und nur mit dem Nötigsten versorgt an einem persönlichen Kraftplatz. Die Wiedereingliederung ist das Zurückkommen zu den Menschen und das Integrieren der Vision für sich und die Welt. Die persönlichen Geschichten, die auf einer Visionssuche erlebt werden, sind eingebettet in die Poesie der Landschaft. Sie brauchen zeremonielle Orte, um sich zu entfalten. Der Mythos der Landschaft im Außen spiegelt sich wider in diesen Geschichten.

Die Visionssuche bietet den rituellen Rahmen an, der einen geschützten Raum schafft, um sich den eigenen wichtigen Fragen zu stellen: Wer bin ich? Was bin ich? Wo ist mein Platz? Was bringe ich in die Welt? Fragen, die sich aufdrängen in Zeiten, die nach persönlicher Veränderung und Entwicklung verlangen. Zeiten, die Übergänge einläuten von einem Lebensabschnitt in den anderen wie Pubertät und Erwachsenwerden. Zeiten, in denen Entscheidungen getroffen werden zu Ausbildung, Beruf, Partnerschaft, Elternschaft und Neuorientierung. Zeiten, die Lebensbrüche und Krisen mit sich bringen wie Trennung, Abschied, Wechseljahre, Elternpflege, Pensionierung, Krankheit und Sterben.

Achtsamkeit und Schwesterlichkeit

Das spezielle Angebot einer Visionssuche für Frauen soll die Möglichkeit schaffen, in eine Gemeinschaft von Frauen einzutreten, die in Achtsamkeit und Schwesterlichkeit verbunden sind. Ein Kreis, in dem weibliche Intuition und Verletzlichkeit liebevoll aufgehoben und geschützt sind. In dem die junge Frau mit der reifen Frau und der alten weisen Frau in wertschätzenden Austausch treten kann. Wo es Zeit und Raum gibt, den eigenen Bedürfnissen nachzugehen, und die Fürsorglichkeit für sich selbst sein darf. Wo Verständnis und Solidarität füreinander spürbar sind. Ein Raum für Weiblichkeit, in dem das Land der eigenen Seele wieder Farbe, Klang oder Duft und einen Namen bekommt und wo Frau vollkommen in sich zu Hause ist. In früheren matriarchalen Kulturen herrschte ein Ausgleich zwischen den Geschlechtern und eine ganzheitliche naturverbundene Spiritualität.

Die Landschaft war für die Menschen ein lebendiges Wesen und die sogenannte Große Göttin fand sich in der Landschaft wieder. Hügel und Berge waren wie Brüste, Höhlen wie eine Gebärmutter, aus dem Schoß der Göttin entsprangen Quellen und Flüsse, Tiere und Pflanzen waren ihre Kinder. Die Menschen verehrten und achteten die Göttin „Mutter Erde“, die in der Landschaft präsent ist, so dass sie Landschaftsgöttin genannt wurde (wie bei Heide Göttner-Abendroth beschrieben im Buch: „Matriarchale Landschaftsmythologie. Von der Ostsee bis Süddeutschland“). Bei meiner ersten eigenen Visionssuche erkannte ich beim Erforschen der Landschaft im Außen tatsächlich immer mehr meine innere Seelenlandschaft. Meine Wahrnehmung begann sich zu öffnen für die Schönheit der Natur und ich fühlte mich verbunden, kam wieder in Kontakt mit der Welt draußen und mit mir selbst. In den vier Tagen und Nächten draußen im Wald, alleine fastend, mit Wasser, Plane, Schlafsack und wenigen persönlichen Dingen ausgerüstet, war ich der Mutter Erde und ihren Elementen sehr nah. All meinen Mut hatte ich aufbringen müssen, diese Zeit in der Wildnis, außerhalb der Komfortzone zu verbringen.

Im Rhythmus von Tag und Nacht und unter dem Sternenhimmel fühlte ich mich sehr geborgen, als Frau verbunden mit der Erde und wie eine Tochter getragen auf einem Mutterschoß. Im Spiegel der Pflanzen und Tiere bin ich meiner Geschichte und meiner Seele näher gekommen. Dieses Erkennen hat mich tief bewegt und unterstützt, aus einer anderen Perspektive neu für mich zu schauen sowie mein Leben bewusst und wach zu gestalten. Ein wohliges Gefühl von Nachhausekommen breitete sich überall spürbar in mir aus. Die Erfahrung, mich als Teil der Natur zu erleben, hat mich dazu gebracht, mit mehr Respekt auf meine Umwelt zu schauen, sorgsamer mit den natürlichen Ressourcen umzugehen und nachhaltig zu denken. Mich hat beeindruckt, eine Gemeinschaft von Menschen kennenzulernen, die ihre persönlichen Geschichten teilen in einem Feld von offener und achtsamer Kommunikation. Das hat mich bewogen, meine Haltung gegenüber anderen zu überprüfen und in wertschätzender Form sowie in Herzverbindung mit mir zu hören und zu sprechen.

 

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