Die Bewährungsprobe für die tägliche Meditation ist der Alltag, findet Karin Petersen

Als mein sechzigster Geburtstag „drohte“, war ich wieder einmal mit der knallharten Tatsache meiner Endlichkeit konfrontiert. Dringender denn je stellte sich mir die Frage: Was ist wesentlich? Worauf kommt es wirklich an im Leben, wenn mein Tod Gewissheit ist? Lange hatte ich mich danach gesehnt, die tägliche Praxis der Meditation, die ich für Jahre unterbrochen hatte, wieder aufzunehmen. Zu diesem Geburtstag, so wurde mir klar, würde ich mir die Zeit und den Raum schenken, um wieder hineinzufinden in die Regelmäßigkeit täglichen Sitzens.

Nachdem ich in den letzten dreißig Jahren viele bewegte und stille Meditationen ausprobiert hatte, überlegte ich mir eine bestimmte Vorgehensweise. Ich wollte einsteigen mit dem Fokus auf der Instanz in mir, die beobachten kann, dass ich denke, fühle, Körperempfindungen habe und mit allen Sinnen wahrnehme, ohne das Beobachtete zu werten oder mich darin zu verwickeln. Vorbereiten wollte ich mich auf das stille Sitzen mit Körper- und Atemübungen aus dem Yoga, die ich seit vielen Jahren praktiziere. Und ich beschloss, diese Praxis zu begleiten durch das Schreiben, das ich in vielen Lebenslagen als Klärung und Vertiefung erlebe.

Für die ersten vier Wochen Auszeit, die ich mir zum Einstieg schenkte, fand sich schnell der richtige Ort: der Hof der Stille, ein kleines Meditationszentrum im Havelland, anderthalb Stunden Fahrt von Berlin entfernt. Eine Freundin, die in Schreibklausur gehen wollte, begleitete mich. Es war eine sehr intensive Zeit. Zurück in der Stadt, setzte ich die morgendliche Praxis von Yoga und stillem Sitzen fort. Ich schrieb auch mein „Meditationstagebuch“, wie ich es damals nannte, noch drei Jahre weiter, wenn auch nicht mehr täglich. Eine gute Freundin, die seit vielen Jahren meditiert und Meditation unterrichtet, bat mich, mein Tagebuch lesen zu dürfen – und drängte mich nach der Lektüre hartnäckig, es zu veröffentlichen.

„Das muss in die Welt“, sagte sie. Und jetzt ist es da, in der Welt, mein „Tagebuch der Stille“, und gibt Einblick in die Erfahrungen, Beweggründe, Erlebnisse, Fragen, Anliegen, Sehnsüchte und Erkenntnisse einer Meditierenden, die – wie viele heute Praktizierende – keiner bestimmten spirituellen Tradition oder Religion angehört. Die folgenden Auszüge geben eine kleine Kostprobe davon, was mich in den drei Jahren zum Thema Meditation bewegte.

Hof der Stille, 2. August

Was ist das nur für ein merkwürdiges, ja, eigentlich geradezu unsinniges Unterfangen, sich zum Meditieren hinzusetzen? Den Körper auf einem Bänkchen oder Kissen zum Stillsitzen anzuhalten und alle Gefühle, Empfindungen, Impulse und Gedanken ins Leere laufen zu lassen. Auszuharren in körperlichen und psychischen Spannungszuständen, die sich manchmal bei dem strengen Verbot, sich durch Tun Erleichterung zu verschaffen, ins Unerträgliche steigern können. Denn wie bei allen Verboten das Verbotene zunehmend lauter zu krakeelen beginnt, spielen sich zu Beginn einer solchen selbst verordneten Abstinenz, auf körperliche und gedankliche Impulse zu reagieren, diese oft gehörig auf: Es juckt hier und zwickt dort, die Gedanken rasen, ich breche in Schweiß aus vor lauter Anstrengung, still zu sitzen. Nichts scheint mir in solchen Momenten verlockender, als dem Wunsch nachzugeben, mir durch Öffnen des Fensters kühle Luft zu verschaffen.

Und wenn ich nicht durch Erfahrung wüsste, dass nach Umsetzung dieser Verlockungen neue Impulse nachwüchsen, fast mit stärkerer Wucht als die zuletzt ausagierten, sähe ich keinerlei Sinn darin, diese Dinge nicht zu tun. Und manchmal tue ich sie auch. Aber dann, aber dann …

Unter der Oberfläche des Gewusels der Gedanken, Impulse, Gefühle und Empfindungen, das sich bei näherer Betrachtung als ziemlicher Irrsinn erweist, scheinen meine besten menschlichen Eigenschaften zu warten – Augenblicke von ruhigem Glück, die an keinerlei Bedingtheiten gebunden sind. Eine Stille, die durch kein Geräusch zu erschüttern ist. Dankbarkeit, einfach DA zu sein. Ein Schmunzeln über Dinge, die mich gerade noch aufgeregt haben. Während ich dies schreibe, schaut mich von draußen der meditierende goldene Frosch an. Mit seinen Glubschaugen und seinem Breitmaul gierig vorgebeugt, wartet er wohl auf die Fliege der Erleuchtung, die ihm ins Maul fliegen soll. Daumen und Zeigefinger geschlossen zum Mudra der inneren Sammlung, ist er ein Sinnbild des braven Schülers, der alles richtig machen will. Und der, so heißt es im Märchen, gerade mit dieser eifrigen Bravheit nichts erreicht von dem, was er sich davon verspricht.

Hof der Stille, 3. August

Die Stille. Wie kann man süchtig werden nach Stille? Einer Stille, die jedes Geräusch einfasst, sodass der alltäglichste Lärm zum Schmuckstück wird. Wie das hölzerne Pochen beim Zurückstellen meiner Tasse auf den Tisch. Oder das Klappern von Geschirr in der wenige Schritte entfernten Küche. Eine Tür, die zuschlägt. Ein Wagen, der vorbeifährt und dessen Motorengeräusch endlos lange und langsam verklingt. Der Seufzer der Freundin, die nebenan über ihren Texten brütet. Schritte vorm Hoftor. Stimmen, die sich im Dorf zurufen. Der Wind in den Bäumen. Der Schrei eines Raubvogels. Sitzen in Stille am Morgen. Durch das geöffnete Fenster gleitet der Blick in die Krone der Ulme und weiter bis zur von Knöterich überwucherten Mauer des Nachbargartens.

Bei diesem absichtslosen Schauen, wo der Blick sich ins Unbestimmte weitet und nicht an einzelnen Formen festhält, zeigen sich mir in diesem weißen Blütenschaum rasch wechselnde Fabelwesen, die mich verführen wollen in ihre Märchen, welche sich, einmal angefangen, wie von selbst endlos weiterspinnen würden: der Höllenhund mit den Feueraugen, die Muhme mit der weißen Haube, das winzige Kind mit dem alten Gesicht …

Stopp! Das schnell klopfende Herz, der langsame Atem, Innen und Außen weiten sich zu einem einzigen hellen Vibrieren. Alles ist einfach so, ohne mich, in mir, von einer Leichtigkeit, in der alles Schwere aufgehoben ist. Ein Windstoß fährt durch die Krone des Baumes, durch meine Kehle, mein Herz, meine Augen. „Wer schaut?“ lautet eine der Fragen, die ich mir beim Meditieren wiederholt stelle. „Niemand!“ lautet die Antwort in diesem Augenblick.

Hof der Stille, 6. August

Das Glück, in der Dunkelheit über einen stillen Hof zu gehen und das Tor zu schließen. Das Glück, einen Wildblumenstrauß zu pflücken, während über mir drei Raubvögel kreisen. Das Glück, Menschen, die mir lieb sind, nebenan zu wissen, während ich wach liege in der Nacht. Es aushalten, wenn es nichts zu sagen gibt. Es aushalten, wenn es nichts zu tun gibt. Mich nicht rechtfertigen, wenn jemand mir sagt, dass ich im Unrecht bin.

Zurück in Berlin, 15. September

Dass die Falle der Identifizierung mit dem, was ich den lieben langen Tag so denke und fühle, zuschnappt, merke ich oft erst, wenn der Ton, in dem ich mit Menschen laut oder innerlich rede, eine gewisse Gereiztheit annimmt: Mensch, sag mal… Kann die nicht… Der ist aber auch … Wie blöd muss man eigentlich sein, um … Beim Sitzen heute Morgen war die Unruhe so stark, dass ich kurz davor war, vom Bänkchen aufzuspringen. Es gab Zeiten, in denen ich diesem Impuls nachgegeben habe, denn ich bin der Meinung, dass Meditation kein „Quälkram“ sein sollte.

Doch ist es nicht leicht zu unterscheiden, wo dieses Aufgeben ein weiser Entschluss ist und wo ich ausbüchse vor unliebsamen Themen, die sich in der Stille unaufgefordert melden – und denen oft ein Tumult wie der heutige vorangeht, wie um davon abzulenken und ihre Bewusstwerdung zu verhindern.

Berlin, 15. Oktober

Auch wenn ich grundsätzlich der Meinung bin, dass die eigentliche Bewährungsprobe für das Meditieren der Alltag ist und ich diesen als Ernstfall und das Meditieren als Übungsfeld betrachte, stimmt das nur bedingt. Das Sitzen ist auch als solches ein „Ernstfall“. Im besten Falle sind wir Meditierenden der Einatem im ständigen Ausatem der Welt – kleine Inseln rebellischen Innehaltens im rasenden menschlichen Getriebe auf diesem Planeten. Wir sind über diesen Erdball verstreute Funkstationen, die über die Satellitenbahnen der Herzensverbindungen Botschaften in Umlauf bringen. Und inzwischen lassen sich die Inhalte dieser Botschaften wie Dankbarkeit, Verbundenheit, Umsicht, Achtsamkeit, die Steuerung von Emotionen und weitere praktische Nutzwerte für ein lebenswertes Leben auf dieser Erde sogar mit wissenschaftlichen Messinstrumenten erfassen.

Möglicherweise funktioniert dieser Einfluss wie Rupert Sheldrakes „morphogenetische Felder“, die bewirken, dass sich das Lernen, das auf der einen Hälfte der Erdkugel geschieht, auch auf der anderen, von dieser abgewandten, fortsetzt, ohne dass die Kunde davon auf sichtbaren Wegen dort hingelangte. „Produktivität ist ein zu enger Maßstab für Nützlichkeit“, schreibt der wunderbare jungianische Psychoanalytiker und Philosoph James Hillman. Er vergleicht eine alte Frau, die nichts anderes mehr tut, als still dazusitzen, mit einem Stein auf dem Grunde eines Flusses, den dieser berücksichtigen und durch den er anders fließen muss.

Ich möchte, dass es so ist! Ich möchte von ganzem Herzen, dass die Botschaften dieser wenigen Minuten am Morgen in meinem Leben und dem Leben anderer Menschen um sich greifen wie ein Lauffeuer! Ich möchte es, weil ich mir selbst nicht genüge und nicht genügen will.

Karin Petersen liest aus ihrem Tagebuch der Stille: am Do, 3. Mai 2018, 19.30 bis 21 Uhr in der Deutschen Transpersonalen Gesellschaft. Ort: Praxis Heike Müller, Prenzlauer Allee 176, 10409 Berlin (S-Bahn Prenzlauer Berg). Klingeln bei: „Heilpraktiker H. Müller/Regnery“, Eintritt: 7 € (oder zahl 10 € und bring noch jemand mit) am So, 17. Juni 2018 um 15.30 Uhr in der Remise Zehlendorf, Charlottenburger Str. 4, 14169 Berlin (S-Bahn-Zehlendorf) Eintritt: Spendenbasis www.remisezehlendorf.de

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