Sufismus ist der pfadlose Pfad zum All-Einen, der Pfad hin zur Erfahrung, dass Nichts ist als das All-Eine, durch und aus Liebe.

Von Habiba Anja Engelsing

Jemand fragte: „Was ist Liebe?“ Gott gab zur Antwort: „Das wirst du wissen, wenn du dich in Mich hinein verloren hast.“ Rumi

Sufismus ist der pfadlose Pfad zum All-Einen, der Pfad hin zur Erfahrung, dass Nichts ist als das All-Eine, durch und aus Liebe. Der persische Sufi-Mystiker und Gründer des Ordens der tanzenden Derwische, Jalaladdin Rumi (1207-1273), hat von dieser Liebe, die ins Göttliche reicht und das Göttliche ist, in der wohl schönsten Weise gesungen.

In Liebe gibt es nichts mehr als das Schlürfen des Weins von Zeitlosigkeit. Es gibt keinen Grund zu leben außer dem, sein Leben diesem hinwegzugeben. Rumi

Viele Pfade – ein Ziel

Der Ausdruck Mystik (von altgriechisch „geheimnisvoll“) bezeichnet laut Duden eine Religiosität oder religiöse Anschauung, bei der durch Versenkung, Hingabe, Askese oder Ähnliches eine persönliche, erfahrbare Verbindung mit dem Göttlichen (bis zu einer ekstatischen Vereinigung) gesucht wird. Jede mystische Tradition ist in diesem Sinne der inneren Erfahrbarkeit von Religion gewidmet, weniger oder gar nicht der äußeren Form und dem Dogma. Der US-amerikanische Religionswissenschaftler und Sufi-Sheikh in der Linie der New Yorker Nur- Ashki-Jerrahi-Sufigemeinschaft, Dr. Alexander Hixon (1941-1995) hat dies in berührender Weise ausgedrückt als „Open Space beyond Religion“, als die offene Weite jenseits von Religion. Als solche hat er sich selbst anstelle seiner Namen und Titel benannt, als er 1993 gebeten wurde, auf der Weltkonferenz der Religionen in Chicago zu referieren.  Er war in fünf der großen religiösen Traditionen initiiert und praktizierte sie auch, so dass er wie kaum jemand sonst im Westen die Einheit der mystischen Essenz aller Religionen repräsentierte.

Die nichts tragen als das wollene Gewand der Liebe

Sufismus als die mystische Tradition des Islam geht historisch zurück auf die nahen Weggefährten des Propheten Mohammed, die seinen Anweisungen folgend Askese und beständiges Gotteserinnern, Zikhr, praktizierten, um Gott zu erfahren. Visionäre und Freidenker wie Lex Hixon fassen den Begriff des Sufismus viel weiter: Als der menschlichen Seele innewohnende Universelle Religion, und damit jenseits von Zeitlichkeit angesiedelt. „Zurückzukehren zum Fließen des Seins, lyrische Liebeslieder zu singen, ist Sufismus gewesen, ist Sufismus und wird Sufismus sein – die spontane Bewegung, die in den großen klassischen Zivilisationen der Erde bestanden hat und die in der modernen Welt fortbesteht, in welcher eine neue Generation von Sufis in Erscheinung tritt, die ihre Hymnen grenzenloser Freude und mutiger Bestrebung für die ganze Menschheit singen.

Sufismus ist die ernsthafte Einladung an uns, Verantwortung zu übernehmen, mit gänzlich guter Absicht, das Wohlergehen der Menschheit und des Planeten zu erarbeiten.“ 1 Das Wohlergehen der gesamten Menschheit, wirkliches Menschsein, ist Anliegen wie Ausdruck von Sufismus. Der Weg verläuft mitten im Leben und führt mitten ins Leben, bedeutet Verwirklichung inmitten von Familie, Beruf, unserem Alltag, wie er nun einmal ist. Es ist kein zölibatärer Weg, sondern ein Weg tiefster Lebendigkeit, die alles umfasst und umarmt, was ist.

Der Pfad der Liebe

Der Sufi-Pfad der Liebe ist gewidmet der Reise der Seele vom Erleben von Schmerz, Trennung und unglücklichem Ich-Sein hin zur beständigen und immerwährenden Erfahrbarkeit der Glücksseligkeit von Einheit, Einssein mit dem Göttlichen. Die Beziehung zu Gott, dem Göttlichen, ist die von Liebender/Liebendem und Geliebtem/Geliebter. Das Göttliche, All-Eine, Allah, ist für den Sufi erfahrbar im menschlichen Herzen, dem es innewohnt. Dieses Herz ist nicht das anatomische Herz, sondern ein mystisches, das mehr im rechten Teil der Brust seine symbolische Wohnstätte hat. Ist der innere Verweilort der Glückseligkeit von Einsheit einmal erreicht, erkennt der Liebende, dass es Trennung nie gegeben hat und der Geliebte immer im Herzen gewohnt hat und stets da war. Dass der Geliebte, der Liebende und die Liebe eins sind.

Zahllose Gedichte sprechen in schönster Weise von diesem Mysterium. Überhaupt ist die Sprache im Sufismus die von Liebenden, romantisch, verspielt und auch oft herrlich ekstatisch. Sie kann manchmal in ihrer Leidenschaftlichkeit regelrecht schockierend wirken. Als Mittel auf diesem Weg der Erkenntnis dient im Sufismus das sogenannte Entleeren des Herzens, die Befreiung von Ich-Konzepten und Ego-Zuständen. Befreit von allem „Ich“ wird der Suchende zur Liebe selbst und damit zum klaren Spiegel göttlichen Seins, sein Leben ein Dienen dem Nächsten als dem All-Einen, ein Tanzen in Glückseligkeit, Stille in jedem Moment. Dieses heißt und verkörpert verwirklichtes Menschsein.

Oh Allah, zerbrich mein Herz, und schaffe einen neuen Raum, der grenzenlose Liebe zu halten vermag. Rumi

Instrumente dazu, Werkzeuge der Liebe, sind beständiges Gottes-Erinnern, Zikhr, Singen, Musizieren, Meditation, Bewegungsübungen und Tanz, die sich in einem sehr tiefen und subtilen Wissen um Energiezentren im menschlichen Körper begründen, und rituell eingesetzte Ekstase wie das Drehen der Der – wische ebenso wie Askese (Fasten, intensive Gebetspraxis u.a.). Unterschiedliche Sufi-Bruder-/Schwesterschaften oder Orden fokussieren sich mit unterschiedlicher Gewichtung auf diese Elemente. In meiner Tradition, der Nur-Ashki-Jerrahiyya, einer in Ägypten, Aserbaidschan und der Türkei verwurzelten und in New York City ansässigen Sufi-Bruderschaft, wird insbesondere mit einem großen gemeinsamen Ritual von Gottesgedenken und intensiver Persönlichkeitsschulung, auch mittels des Deutens von mystischen Träumen, und entsprechender spiritueller Praxis gearbeitet.

Hineinsterben

Ein wichtiges Grundprinzip der Lehre von Sufismus lautet „Die before you die“ – Stirb, bevor du stirbst – und beschreibt das Rein-Werden des Herzens durch viele „kleine Tode“, die Aufgabe von Ich-Konzepten. Es erinnert uns an Goethes „Stirb und Werde“ (aus: WestÖstlicher Diwan). Diesem fortwährenden Sterben des Egos, des begrenzten Ichs, dienen viele der Rituale im Sufismus. Dazu gehört das Derwisch-Drehen ebenso wie die Bewegungsübungen und der Zikhr, die Rituale des Gottes- Erinnerns.

Ich sagte: „Zuerst kenne ich Dich, dann sterbe ich.“ Er sagte: „Für den, der mich kennt, gibt es kein Sterben.“ Rumi

Fallen lassen, Kontrolle aufgeben

Islam heißt wörtlich übersetzt Hingabe, Ergebung. Dieses Sich-dem-Göttlichen-Anvertrauen ist eine Qualität, die wir hier im Westen nicht mehr sehr gewohnt sind. Eine sehr weibliche Qualität eigentlich, die aber leider Männern wie Frauen oftmals abhandengekommen zu sein scheint. Ich habe den Weg des Erwachens im Sufismus als zutiefst weiblichen Weg kennengelernt. Und zwar vor allem darum, weil die Verwandlung, Transformation, ein so wesentliches Element des Sufi-Pfades ist. Die beständige Verwandlung als das allem Leben zugrunde liegende Prinzip ist uns Frauen durch das monatliche Werden und Vergehen des weiblichen Zyklus, durch die Möglichkeit des Erlebens von Schwangerschaft und Geburt und den intensiven Prozess der Wechseljahre vielleicht zunächst näher und vertrauter als vielen Männern. Und doch ist es ein Prinzip, eine Qualität, die für Männer wie für Frauen gleichermaßen gültig und wichtig ist.

Lex Hixon hat diesen Bezug zum weiblichen Prinzip Gottes in einer seiner Radiosendungen „In the Spirit“, die er in den 70er bis 90er-Jahren in New York moderierte, sehr berührend formuliert: „Ich erkannte, dass Frauen genauso die Gebärenden von Spiritualität wie von Kindern sind. Dass Männer zu dem femininen Prinzip in sich selbst erwachen müssen, um spirituell zu wachsen. Und dass alle Seelen auf eine mysteriöse Weise in sich, wesenhaft, weiblich sind.“2 Hingabe ist ein Sich-Hineinfallen-Lassen in jeden Augenblick, in alles, was ist. Zu antworten, zu resonieren, anstatt zu re-agieren, ist ein zentrales Instrument auf dem Weg der Entleerung, der vielen Ich-Tode, der Ent-Werdung in das Gewahr-Sein des All-Einen. Mir gefällt es besonders gut, dass Islam Hingabe heißt, im Englischen „surrender“. Ein kleines Wort, und es steht für so viel.

Der mystische Wegweiser

All das braucht in der Regel gute Anweisung und Begleitung. Darum vielleicht ist die Lehre des Tassawuf, des Sufismus, gebunden an Orden, die ihre Weisungsbefugten und Lehrbeauftragten haben. Wie es immer so ist, erkennen wir am Ende, dass der Lehrer ein inneres Prinzip ist, und brauchen diesen dann im eigentlichen Sinne nicht mehr. Wir verehren und achten ihn fortan weiterhin, aber das Verhältnis wandelt sich weg von der expliziten Anleitung hin zur immer stärker werdenden inneren Wegweisung. Auf dem Weg dahin aber ist der konkrete mystische Wegweiser für die meisten unverzichtbar. Viele wunderschöne Sufi-Geschichten erzählen davon.3 Es kann sinnvoll sein, diese intensive Persönlichkeitsarbeit auch durch psychologische Arbeit zu ergänzen und zu begleiten. Wie man sich leicht vorstellen kann, bringt eine solch intensive und tief wirkende spirituelle Arbeit „die schwarze Nacht der Seele“ ans Tageslicht. Ein guter Lehrer wird hier entsprechende Wegweisung und Rat geben.

Dancing Stillness

Für mich war es nach zehn Jahren ausschließlicher und sehr intensiver traditioneller spiritueller Praxis ein großes Aha-Erlebnis und Geschenk, die sufische Arbeit Ingo Taleb Rashids, eines in Deutschland lebenden und weltweit tätigen Tanztheater-Choreographen und Sheikhs in der Linie einer Bagdader Naqshbandi-Tradition (eine Linie im Sufismus), kennenzulernen. Das von ihm entwickelte Movement-Konzept verkörpert die konkrete Erfahrbarkeit der Lehre des Sufismus jenseits von Worten – über Körperübungen und Tanz – in wirklich einzigartiger Weise. Sie ist gegründet in seinem tiefen Wissen um die Energiezentren und -bahnen des menschlichen Organismus und ihrem Ausdruck in seit alten Zeiten bestehenden spirituellen Praktiken und Bewegungsmeditationen. Mir ist staunend erfahrbar geworden, wie leicht und freudig und wie wirkmächtig eine solch gezielt angeleitete und begleitete Körpererfahrung ein Still-Werden des Geistes, des Ichs, und ein Sein im grenzenlosen Raum des Herzens ermöglicht.4

Das Kind des Augenblicks

„Dieses Paradies des Hier und Jetzt, dank der Lehre des Sufismus neu entdeckt, ist reines Erstaun n, eine vollständige und fast unerträgliche Vision, eine Leidenschaft ohne Objekt oder Subjekt. Es ist die vollständige Öffnung des Herzens.“5 In der Ekstase Dieser Liebe, wie ich sie gerne nenne (This Love), und zugleich in achtsamer Präsenz tauchen wir immer mehr ein in die einzigartige Kostbarkeit jeden Augenblicks und erfahren Gott-in-uns, und damit Heilung, Ganzheit und verwirklichtes Menschsein.

Der Weg der Liebe ist kein zartes Argument. Die Tür dorthin ist Zerstörung. Vögel ziehen großartige Himmelskreise ihrer Freiheit. Wie lernen sie das? Sie fallen, und indem sie fallen, werden ihnen Flügel gegeben.6

1) Lex Hixon: Unermessliches Licht, Avicenna-Verlag, München 2016
2) Radiosendung „In the Spirit“, Self-Portrait, erhältlich über www.srv.org, mit freundlicher Genehmigung von Babaji Bob Kindler, Hawai).
3) Idris Schah: Die Weisheit der Narren. Geschichten der Sufi-Meister, Zustand-Verlag, 2010
4) Nähere Infos hierzu unter www.elhaddawi.de
5) Lex Hixon: Unermessliches Licht, Avicenna-Verlag, München 2016
6) aus: Coleman Barks: Rumi. The Book of Love. Poems of Ecstasy and Longing. HarperCollins Publishers 2003

Workshop: „Das Kind des Augenblicks – heilende Liebe und Verwirklichung in der Tradition des Sufismus“. Heilsame Übungen, Stille, Zikhr und Musik – begleitet von der Poesie Rumis Kosten: 130 € Zeit: Sa, 3.3., 10 Uhr bis So, 4.3.2018, 13 Uhr Ort: Atelier 1 in der ufaFabrik, Viktoriastraße 10-18, 12105 Berlin

Eine Antwort

  1. Öko-Theosoph
    Ibn Arabi

    Es ist schade, dass der Islam heute oft negativ in Erscheinung tritt. Zum Beispiel gibt es Moslems, die die Scharia in Deutschland einführen wollen.
    Der Sufismus ist eine positive Erscheinung im Islam. Besonders ist Ibn Arabi zu erwähnen, der geschrieben hat, dass man durch Traumsteuerung zu mystischen Erfahrungen gelangen kann.

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