Der Schatz Ägyptens – ein urweiblicher Tanz – wird in Europa als „Raqs Sharqi“ gepflegt. Er bringt uns in die Stille und in die weibliche Kraft. Mit ihm erblühen die emotionale und körperliche Schwingungsfähigkeit.

von Susanne Donner

Immer ist die erste Frage: Ägyptischer Tanz – ist das Bauchtanz? Es ist unmöglich, darauf eine prägnante Antwort zu geben. „Eher nein“ wäre ein ehrlicher Versuch, der vage bleibt. Eines aber ist gewiss: Raqs Sharqi – der Tanz, der aus Ägypten hervorging und Jahrtausende, schon zuzeiten der Pharaonen, von Erwachsenen an Kinder weitergegeben wurde, ist im Herzen der Frauen, der weiblichen Kraft, geblieben. Weil er so unerschöpflich und weitaus mehr ist als bloße Körperbewegung.

Im Raqs Sharqi liegt das ganze Leben. Im ursprünglichen Charakter des Ägyptischen Tanzes kommen zurückliegende Lebensereignisse, innere Haltungen und universelle Lebensweisheiten an die Oberfläche. Dies geschieht einfach, ohne dass sie der Sprache zugänglich sein müssen. Ein Schatz liegt in diesem archaischen Tanz verborgen: in jahrelanger Arbeit gehoben trägt er dazu bei, sich selbst neu zu erfahren, sich zu sammeln, zu regenerieren und in die eigene Kraft zu kommen.

Ägyptischer Tanz als Erkenntnisweg

Der Ägyptische Tanz führt nicht nur augenscheinlich in den Körper. Er bringt auch die Tänzerin zu ihrem Innersten. Wenn der Körper die Bewegungsformen allmählich verinnerlicht, kann der Geist nach und nach einer inneren Stille Raum geben, aus der heraus der Tanz in Wahrheit entspringt. Im Fluss sich wiederholender und doch veränderlicher Bewegungen können wir uns selbst ganz wahrnehmen, so wie wir sind. Im Zustand mentaler Stille und leiblicher Lebendigkeit sind wir durchlässig für Musik und empfänglich für tiefere Gefühle, die Musik und Atmosphäre in uns wecken. In dieser sinnlichen Resonanz erleben wir anders. Kreativität kann sich entfalten.

Auch eigene Bedürfnisse und Blockaden geben sich zu erkennen. Der Tanz holt manches Mal Persönlichkeitsfacetten empor, die andernorts wenig Raum haben. Vielleicht gar verschüttet liegen. Er bringt eine tiefe Lebensweisheit ans Licht. Für die Tänzerin kann das sehr unterstützend und klärend für den eigenen Lebensweg sein, im jeweiligen Augenblick auch mal verstörend und erstaunlich. In diesem ägyptischen Tanz, als Raqs Sharqi in Europa gepflegt, ist die pure Lebensfreude der Frauen und ihre Verzauberung durch Musik zu spüren. In vielen Kulturen ist der ägyptische Tanz noch heute ein nährender Begleiter für Frauen. Von den Kindertagen bis zu ihrem Tod.

Dieser Text erzählt nicht vom Vokabular des ägyptischen Tanzes. Nicht von den akzentuierten, vibrierenden, kreisenden und wellenartigen Becken-, Brustkorb- und Binnenkörperbewegungen. Er nähert sich den dahinter liegenden Geisteshaltungen und damit einer mentalen Einbettung. Er handelt von den Früchten, die dieser Tanz schenken kann. Wenn wir uns geduldig und voller Hingabe darauf einlassen, im Laufe der Jahre diese reichhaltige Erntest empfangen.

Der weiche Körper, das offene Herz, die verletzliche Seele

Der Ägyptische Tanz ist seinem Wesen nach binnenkörperlich. Was zunächst nur mit der Beschaffenheit des Leibes und der Bewegungsqualität zu tun zu haben scheint, führt bald zu tieferen Schichten. Unvergessen ist mir der irritierte Einwand eines Ägypters auf das Ideal der durchtrainierten Frau im Westen: „Aber eine Frau muss doch weich sein!“ Und tatsächlich war mir in allen Umarmungen und herzlichen Begrüßungen mit ägyptischen Frauen noch keine mit einem festen Körpertonus begegnet.
Der Körper erweicht fast von selbst, wenn wir keine Angst haben, nicht gestresst sind und uns entspannen. Der Körper macht es sich in seiner Hülle gemütlich, wenn Langsamkeit unserer äußeren Muskulatur Atempausen lässt. Wenn der Bauch sich wölben darf und Kleidung nicht den Leib beengt.

Das Erweichen der äußeren Körperschichten hat eine Entsprechung auf der seelischen Ebene. Ganz allmählich kann man im Laufe der tänzerischen Entwicklung und Praxis erlernte Körperideale loslassen. Den Leib, dieses einzige, kostbare Haus des Selbst, ehren und pflegen, so wie er beschaffen ist, und Selbstfürsorge übernehmen. Ganz egal, ob die Beine stämmig, die Haut rauh, die Brüste flach sind. Äußerlichkeiten können aufhören, eine Rolle zu spielen. Werden im Tanz die tiefsten Schichten erreicht, sehen wir eine Tänzerin, die sich mit offenem Herzen und in ihrer Verletzlichkeit zeigt.

Ägyptischer Tanz als therapeutisches Medium

Ich habe eine Frau vor Augen, die so mutig war, das erste Mal vor anderen Frauen zu tanzen. Sie tanzte noch gar nicht lange, jedenfalls in Jahren gezählt. Ihre Lider waren fast geschlossen. Wir sagen oft, dass der offene Blick so wichtig ist, damit der Tanz hinaus zu den Menschen geht. Aber wir alle waren wie gebannt von ihrem Tanz. Sie ging in langsamen Schritten im Kreis, während sie die Hüfte sachte wiegte. Ein Schleier aus grüner Seide umhüllte sie, den sie sanft hob und seinem Wehen nachspürte. Und dann wieder ihren Körper dicht hineinschmiegte.

In ihrem Gesicht und an ihrem Körper sahen wir ihre Berührtheit. Das war es, was uns so magisch in den Bann zog. Stimmig, wahrhaftig und intim war ihr Tanz, den sie uns schenkte. Es sei unangenehm gewesen, all die Augen auf sich gerichtet zu spüren, erzählte sie. Dann weinte sie, weil ihre zurückliegende Woche sehr schwer gewesen war. Ihr Tanz hatte alles empor geschwemmt. Wir trösteten sie. Dann bestärkten wir sie mit unserer Wahrnehmung und dankten ihr für den Mut, sich so offen zu zeigen. Als sie an diesem Abend gestärkt nach Hause ging, bedankte sie sich lächelnd.

In diesem Tanz, der keine Show ist, wird unser Wesen sichtbar. Das ist es, was ihn so einzigartig und individuell macht. Die Tänzerin kann im Tanz bei sich und dennoch empfindsam mit dem Umfeld verbunden sein. Diese Erfahrung, immer wieder aufs Neue, stärkt das Selbstvertrauen und die Selbstachtung, letztendlich die Würde der Frau.

Die leibliche und seelische Resonanz

Wie es sich anfühlt wenn ein Körper erweicht, spüren wir, wenn ein Baby auf unserem Arm einschläft. Es wird schwer. Fast alle Körperspannung ist aus ihm gewichen. Ein Loslassen in Leib sowie von mentalen Anpassungskonzepten bringt den weiblichen Körper auf die Erde – mithilfe des Ägyptischen Tanzes. Satt und sicher sind die geschmeidigen Füße mit dem Boden verbunden. Diese Erdung hilft auch im Alltag, bei sich zu bleiben. Sie unterstützt darin, dass der Körper für Rhythmus und Musik sowie die eigene Emotionalität durchlässig wird. Diese Schwingungsfähigkeit von Leib und der Seele kann als „Resonanz“ bezeichnet werden.

Sie ist eine der wichtigsten Quellen für das Entstehen von Tanz und Musik im Orient. Im Zustand des „Al Tarab“, im Deutschen am ehesten der Verzückung oder Verzauberung durch Musik, entspringt unserem Körper ein urquellhafter Tanz. Das geschieht besonders dann, wenn Tänzerinnen zu Livemusik tanzen. Wenn sie sich in Resonanz mit unbekannter Musik begeben, die keine mentale Vorausplanung ermöglicht. Die Bewegungen entstehen im Augenblick. Wir improvisieren. Diese Improvisationskunst hat in Musik und Tanz, ja, in der Lebensart in Ägypten einen besonderen Platz.

Leib und Seele – ein Resonanzkörper

Noch immer habe ich die verblüfften Gesichter jener Tänzerinnen vor Augen, die bei einem Workshop mit dem genial feinsinnigen Musiker Tim Garside zum ersten Mal zu Livemusik tanzten. Plötzlich vibrierten ihre Becken wie von selbst – angefeuert vom Rhythmus der arabischen Kelchtrommel. Eine Tänzerin sprang hoch in die Luft. Nie habe ich diese durchaus zarte Frau so urgewaltig springen sehen. Eine andere begann sich fast ekstatisch zu drehen – mit dem kleinen, aber wichtigen Unterschied zur Trance, dass sie sich ihrer gewahr blieb. Die Überraschung über diese Leibesresonanz stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Diese körperliche und seelische Resonanz wird besonders bei Melodie getragener Musik wachgerufen.

Die Melodie und die Spielweise der Instrumente wecken Emotionen in uns, die unserem Tanz eine unverwechselbare Farbe im Hier und Jetzt geben. Wir fühlen – und das erfüllt uns. Die Gefühlswahrnehmungen werden im Laufe der tänzerischen Praxis immer feinsinniger und nuancierter. Sie verändern sich meist innerhalb eines Liedes in uns. Besonders im Baladi, einem der Stile des ägyptischen Tanzes, kann wehmütige Sehnsucht in kokette Heiterkeit übergehen, dann in melancholische Ruhe münden.

Der ägyptische Tanz intensiviert so die Körperwahrnehmung. Besonders erwähnen möchte ich den Brust- und Herzraum. Anfangs für viele Frauen kaum spürbar und selten von Innen heraus beweglich. Die wachsende leibliche Sensitivität geht mit einer feineren Wahrnehmung eigener Gefühle einher. Beides wiederum ist von unschätzbarem Wert im Alltag. Nur wer bemerkt, dass er sich ärgert oder freut, kann das seinem Gegenüber ehrlich mitteilen. Sich mit ihm streiten oder ihn vor Glück umarmen.

Die weibliche Kraft

Es ist schon angeklungen, dass der ägyptische Tanz aus dem Beckenraum kommt. Er lehrt uns das Wohnen in einem unserer größten Binnenräume. Öffnen sich diese und die darüberliegenden Zentren des Leibes, klingt die Stimme voll. Der Atem fliesst tief. Wir kommen in unsere wesenseigene Kraft. Inneres Feuer, Humor, Behaglichkeit und andere Eigenheiten unserer Persönlichkeit kommen zum Vorschein. In diesem Zustand der Einkehr und Präsenz pflegen und genießen wir unseren Leib. Mit allen Sinnen zelebrieren wir unsere Sinnlichkeit. Den Füßen und Beinen wohnt dabei nichts Tänzelndes inne. Sie treffen schlicht und bestimmt auf die Erde. So ganz „beisammen“ wissen wir auch um unsere Grenzen. Die erwachsenen Grenzen aufgrund mentaler Gaben und unserer körperlichen Konstitution. Und jene Grenzen, die wir setzen, um uns selbst zu achten. Wir sind in der Welt und stehen für uns ein.

Wie gerne rufe ich mir jene Bilder einer Tänzerin aus Tirol in Erinnerung. Sie war über 80 Jahre alt, als ich sie das letzte Mal tanzen sah. Sie kam seit jeher mit ihrem kleinen Auto und ihrem Hund angereist. In die Tanzwochen meiner geliebten Lehrerinnen Erna Fröhlich und Liza Wedgwood. Im Unterricht fasste sie ihre Erkenntnisse oftmals plastisch in kecke, bodenständige Bemerkungen, die uns alle zum Lachen brachten. Ihr Rücken waren von ihrem Alter gerundet, ihre Haare schneeweiß. Doch wenn sie tanzte, bebte und pulsierte ihr Körper. Als würde er keine Jahre kennen. Ihr Gesicht leuchtete still und weise. Wir haben in den letzten Jahren nichts mehr von ihr gehört. Wir wünschen ihr von Herzen, dass sie in ihren letzten Stunden tanzen konnte. Oder diese in Erinnerung an ihren geliebten Tanz verlebte.

Termine:
Ägyptisches Tanztheater mit Livemusik „Karama – Würde der Frauen“, 9. und 10. Mai 2019, UFAFabrik: 030/755030, vorbestellung@ufafabrik.de
Kurs: Do: 20:00 bis 21:30, Die Wohlfühler, Kollwitzstr. 77, zweiter Kurs: montags ab Oktober
Kontakt: Susanne Donner, 0179/8473643, susanne_donner@yahoo.de, www.berlin-orientalischer-tanz.de

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