Wie Fehlgeburten eine Mutter-Tochter-Beziehung beeinflussen können…

von Gesine Gammert

Du hast eine belastete Beziehung zu deiner Mutter? Eine herzlose, distanzierte Mutter oder eine, die narzisstisch ist? Und du glaubst vielleicht, es liegt an dir? Ich kann dich beruhigen, es liegt nicht an dir, absolut nicht. Denn deine Mutter hat auch eine Geschichte, und oft gibt es viele kleine unsichtbare Geschichten zwischen euch oder um euch herum. Davon handelt der folgende Text.

Sternenkinder – Fehlgeburten und Abtreibungen

Es ist eine meiner ersten Fragen an Klientinnen: Gab es vor dir Fehlgeburten oder Abtreibungen? Sofort fließen die Tränen. Nie hatte sie in Betracht gezogen, dass das irgendeine Rolle spielen könnte, schon gar nicht in der Beziehung zu ihrer Mutter.

So geht es den meisten. Denn Fehlgeburten und Abtreibungen sind immer noch „große Unbekannte“ in der Tochter-Mutter-Beziehung. Überhaupt in Familienkonflikten. Ein Grund ist, dass das Thema „Abtreibungen und Fehlgeburten“ nach wie vor große Tabu-Bereiche innerhalb von Familie und in der Gesellschaft sind.

Zwischen Fehlgeburten und Abtreibungen muss man unterscheiden, doch es gibt Ähnlichkeiten. An beide Erfahrungen sind sehr schmerzhafte Emotionen geknüpft, die die Betroffenen enorm, über Jahrzehnte lang belasten können (sogar ohne dass eine Ursache erkannt wird). Doch auch diese Gefühle drängen ans Licht, sobald man sie berührt. Dabei hatten sie sich schon lange vorher in körperlichen Symptomen oder eben in Form von Spannungen zwischen Tochter und Mutter gezeigt. Insbesondere bei Abtreibungen, deren Folgen häufig nicht sofort spürbar sind.

Fehlgeburten und Abbrüche –
Ungeborene sind vollwertige Familienmitglieder

Ungeborene Kinder sind vollwertige Mitglieder der Familie. Es sollte „seinen richtigen Platz“ in der Familie bekommen. Probleme entstehen, wenn die Erfahrungen irgendwo blockiert sind – und dies geschieht meist unbewusst. Ich empfinde eine Hochachtung vor jeder Frau, die diese Erfahrung in sich trägt. Der ganz tiefe Schmerz, die Trauer, die Liebe – all diese Gefühle sitzen in ihr fest. Die schmerzenden Gefühle bei Fehlgeburten wie Scham, Versagen oder Schuld basieren oftmals auf Gedanken wie: ‚Ich habe versagt, ich bin schuld, es ist allein meine Verantwortung, ich bin unfähig als Frau, meine Mutter hat recht, wenn sie sagt, ich schaffe es nicht usw.

Die Folgen solcher unterdrückten Erfahrungen und ihren Gefühlen können z.B. Depressionen sein oder unerklärliche körperliche Schmerzen. Auch die Liebe kann nicht frei fließen, sie ist ebenso blockiert. Und ich meine vor allem die Mutterliebe. Die ist vorhanden, auch wenn das Ungeborene nur wenige Wochen alt geworden sein mag. Eine Mutter! Ein Kind! – ganz egal, ob das Kind wirklich geboren wird.

Woran merkst du, dass du noch etwas zu verarbeiten hast

Du merkst es daran, wie schwer dir ums Herz wird, wenn du an das Kind denkst, das fehlgeboren wurde oder das du abgetrieben hast. Trauer ist völlig natürlich, denn die Mutter verliert wahrhaftig einen Teil von sich selbst. Bei einer Abtreibung zerstört sie einen Teil von sich. Die unverarbeiteten Emotionen belasten und wiegen schwer. Das kann eine Frau kaum vorhersehen.

Bei Fehlgeburten sind es oft die Umstände, der Schock, der plötzliche Verlust, wo vorher aufgeregte Freude und tiefe Mutterliebe war. Es ist traumatisch. Eine Abtreibung wiederum findet bewusst statt, doch die Entscheidung kann unter verschiedensten Umständen getroffen werden. Welche Frau kann schon wissen, wie sich das auf sie auswirkt? Und selbst wenn sie auch noch danach zu ihrer Entscheidung steht, wird es ihr oft durch die Umgebung schwer gemacht. Auch das kann sich sehr belastend auf sie auswirken.

Was im Familiensystem bei Fehlgeburten geschieht

Die Gefühle der Mutter sind das eine. Sie fühlt sich einsam, kann sie sich doch kaum wirklich mitteilen.Jedoch betrifft diese Erfahrung die gesamte Familie. Zunächst einmal das Paar: Die Frau zieht sich womöglich vom Partner zurück. Bei einer Fehlgeburt beispielsweise aus Scham und dem Gefühl, versagt zu haben. Bei einer Abtreibung gibt es unterschiedliche Gründe, immer jedoch treffe ich auf Schuldgefühle und Angst, das Kind anzusehen.

Wenn die Frau ihre Gefühle annimmt und vollständig verarbeitet, kann sie sich auch wieder dem Partner zuwenden. Und das Paar kann gemeinsam trauern und ihren anderen Kindern die Last nehmen. Und auch der Partner sollte insbesondere nach einer Abtreibung seinen Part der Verantwortung übernehmen bzw. seine eigenen Gefühle diesbezüglich aufarbeiten.

Wenn die Eltern dies nicht tun, übernehmen das die Kinder. Das heisst, sie versuchen es. Natürlich klappt das nicht, wie auch. Alles ist durcheinander und nichts und niemand ist an seinem Platz. Ungeborene Kinder können die nachfolgenden Geschwister in ihrem ganzen Sein, in ihrer Identität enorm beeinträchtigen.

Integriert sein heißt: sie haben ihren natürlichen Platz, ihre Anerkennung innerhalb der Familie. Sie werden weder verschwiegen, noch festgehalten durch Trauer und Schuld, noch verharmlost. Geschwisterliebe ist riesig, die Verbindung oftmals sehr tief. Die Lebenden wollen den Verstorbenen nahe sein, sie ersetzen, ihnen ihr Schicksal abnehmen. Und sie haben oftmals Schuldgefühle, denn sie dürfen leben, und ihre Geschwister nicht. So zumindest empfinden es viele unbewusst.

Oft spüren die lebenden Geschwister auch, dass die einzige Möglichkeit, Anerkennung in der Familie zu bekommen, die ist, das fehlende Geschwister zu ersetzen. Dann fühlen sie sich wichtig, glauben, eine Identität, überhaupt eine Daseinsberechtigung zu haben. Wie sich das auf ihr Selbstbewusstsein auswirkt, kann man erahnen.

Wie Sternenkinder wirken können

Wenn eine Tochter zu mir kommt, weil sie die Beziehung zur eigenen Mutter entspannen möchte, landen wir oft bei einem fehlgeborenen Geschwister. Ich möchte dir ein Beispiel erzählen.

Das allererste Kind, ein Junge, war eine Fehlgeburt. Die Eltern hatten sich einen Jungen gewünscht. Der Schmerz über den Verlust war kaum zu ertragen. Es folgten weitere Fehlgeburten, leider. Endlich kam ein Kind – ein Mädchen – auf die Welt, gesund und munter. Sie blieb Einzelkind und wurde sehr verwöhnt. Und doch war das Verhältnis, vor allem zur Mutter, angespannt. Mit eigentlich harmlosen Bemerkungen brachte die Mutter sie verlässlich immer wieder zur plötzlichen Weißglut, auch als sie schon längst eine eigene Familie hatte. Auch die Verbindung war recht kühl und angespannt.

Während der Heilarbeit mit ihr zeigte sich: Die Mutter war unbewusst auf ihren ersten verstorbenen Sohn fixiert, das heißt, ein großer Teil ihrer Energie hing unbewusst bei ihm fest. Die Tochter/Klientin war mit ihm identifiziert. Warum das passiert, habe ich bereits weiter oben beschrieben. Außerdem empfand sie starke Schuldgefühle gegenüber dem Bruder, und natürlich fühlte sie sich von der Mutter nicht wahrgenommen – kein Wunder.

Im Hier und Jetzt sein

Wenn die Mutter „energetisch“ beim ersten Kind ist, kann sie kaum ganz im Hier und Jetzt sein, ist ihre Liebe nicht frei für die anderen Kinder. So können Spannungen zwischen Kind und Mutter/Eltern entstehen. Die Spannungen äußern sich in Wut, Ablehnung oder Distanz. Das sind die oberflächlichen Gefühle. Tief darunter begraben ist eine Sehnsucht nach Anerkennung und Liebe. Der Wunsch, endlich von der Mutter wahrgenommen zu werden.

Bei Abtreibungen ist es ähnlich. Hier begegnet man vor allem Wut und Empörung des lebenden Kindes über die Entscheidung der Mutter bzw. der Eltern. Bei mir war es ganz ähnlich – ich war zutiefst empört. Und bei einer Aufstellung kam all das ans Licht.

Welche Folgen kann eine Abtreibung für Geschwister haben?

Zunächst einmal: Jede Frau darf für sich entscheiden, ob sie abtreibt oder nicht. Es ist ihr Körper, es ist ihr Leben. Ein Kind ist eine Entscheidung fürs Leben. Doch sie muss zu ihrer Entscheidung stehen. Und das ist häufig das Problem, denn die Einstellung zur Entscheidung kann sich jederzeit ändern.

Es gibt unterschiedliche Gründe, warum sich eine Abtreibung im Nachhinein als belastend herausstellt, bei manchen sogar erst nach vielen Jahren. Doch darum soll es hier primär nicht gehen. Ich möchte vor allem schildern, welche Folgen es für Geschwister haben kann.

Es heißt, dass Kinder, die nach Abtreibungen geboren werden, von dieser „wissen“ und im Bauch der Mutter mit der Angst heranwachsen, das gleiche Schicksal erleiden zu müssen. *

Das hat eine existenzielle Angst zur Folge, welche sich später in Beziehungen zeigt. Diese Kinder sind von innerer Unruhe und tiefer Unsicherheit geprägt. Es beginnt mit der Mutter als allererste Bezugsperson. Solche Kinder können passiv und ängstlich sein, aber auch feindlich gesonnen. In der sensiblen Pubertät explodiert das oft in Extrem-Gefühlen wie Wut, Hass, zuweilen auch gegen sich selbst. Die Kinder spüren Zorn und Empörung gegenüber den Eltern. Da ist wenig Vertrauen – auch nicht zu sich selbst. Sie sind hin- und hergerissen zwischen den verschiedenen Zugehörigkeitsebenen als Kind der Eltern, als Geschwister und sich selbst gegenüber.

Kinder, bei denen eine Abtreibung „versucht“ wurde

Dieses Thema möchte ich ebenfalls kurz ansprechen. Denn es wird kaum zur Kenntnis genommen: Was ist mit den Kindern, die einen Abtreibungsversuch überlebt haben? Manche wissen gar nicht davon. Solche Kinder können sich nur schwer binden, sie haben massive Verlassenheits- und Vernichtungsängste. Panikgefühle können sie ein Leben lang begleiten. Sie sprechen sich unbewusst ihre Existenzberechtigung ab. Das zeigt sich auch in Autoaggressionen spätestens in der Pubertät und in Beziehungen. Sie haben das Gefühl, “falsch” zu sein, sie suchen verzweifelt ihren Platz im Leben. Psychische Probleme können ebenfalls auftreten.

Ich vermute, dass es hier eine hohe Dunkelziffer gibt, denn eine Mutter muss ja zugeben, dass sie diesen Versuch gemacht, der aber nicht geklappt hat. Schwierig wird dann auch das Verhältnis zum eigenen Kind, wenn das Erlebte nicht aufgearbeitet wurde. Die traumatischen Erfahrungen werden an die folgenden Generationen weitergegeben, bis sie vollständig geheilt sind.

Man möge mir verzeihen, dass ich die Folgen für Tochter-Mutter-Beziehungen von Fehlgeburt und Abtreibung in einem Text beschreibe – die Gründe habe ich bereits genannt. Beide Erfahrungen können für eine Familie und eben für die Beziehung zwischen Tochter und Mutter einschneidend sein. Wenn sie NICHT vollständig verarbeitet werden.

Ich lade dich herzlich ein, diese traumatischen Erfahrungen zu heilen, denn es ist möglich. Die Erinnerung daran muss nicht schwer und voller Trauer sein! Sie kann dich erleichtern und befreien und deine Beziehungen heilen.

* Quelle: haus-samaria.help

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