Die perfekte Welle reiten: Was uns das Surfen über das Leben erzählen kann…

Von Tyron Ricketts

Ein Ziel der buddhistischen Lehre und Meditation ist es, die im Leben aufkommenden Gefühle – seien es gute oder schlechte – zwar zu beachten, ihnen aber nicht zu viel Bedeutung zu schenken. Der dadurch entstehende Gleichmut hilft uns dabei, nicht ständig Widerstand gegen schlechte Gefühle und nicht immer Sehnsucht nach guten Gefühlen haben zu müssen. Dieser Zustand befreit uns aus dem ewigen Auf und Ab der Emotionen und gibt uns einen ruhigen und angenehmen Leitfaden, mit dem sich das Leben aushalten und sogar oft genießen lässt.

Das Bruce-Lee-Zitat „Be water, my friend“ fasst die Hingabe an den Moment und die klare, durch nichts zu störende Ruhe, die trotz aller Hindernisse am Ende zu dem Ziel führt, ein angenehmes Leben zu haben, sehr gut zusammen. Bei meiner Lektüre des Buches von Yuval Noah Harari “Sapiens, a brief history of human mankind“, stieß ich auf ein weiteres Gleichnis aus der buddhistischen Lehre, das meine Aufmerksamkeit fesselte. Ein Mann steht am Strand und versucht, die “guten Wellen” anzuziehen während er gleichzeitig alles daran setzt, die negativen Wellen abzuhalten. Diese offensichtlich aussichtslose Aufgabe treibt ihn beinahe in den Wahnsinn und erst, als er sich erschöpft an den Strand setzt, das Meer einfach Meer sein lässt und Welle um Welle auf den Strand trifft, findet er seinen inneren Frieden und die perfekte Welle…

An dieser Stelle möchte ich von meinen Erfahrungen als Wellenreiter berichten. Was man beim Wellenreiten erlebt, ist für mich eine perfekte Analogie des Lebens und auch beim Surfen ist es erst die direkte lebendige Erfahrung, durch die aus einer schmerzhaften und anstrengenden Tätigkeit ein beglückendes und erfüllendes Erlebnis werden kann.

Die Angst vor dem Unbekannten

Alles beginnt mit der Angst vor einem neuen Raum. Es gilt, die Angst vor dem Wasser, dem Unbekannten, zu überwinden. Ganz klar sind wir hier nicht in unserem Element und gezwungen, unsere Komfortzone zu erweitern. Mit der nötigen Ruhe reguliert sich schließlich die Atmung und die Sicherheit kommt zurück. Als erstes ist es wichtig, in den heranbrodelnden Wellen einen Kanal und ein Zeitfenster zu finden, in dem die Wellen uns eine Chance geben, überhaupt gegen die Gewalt des Meeres an- und durch die sich brechenden Wellen hindurchzukommen. Beim Paddeln zum „Lineup“, dem Punkt, an dem die Wellen optimal brechen, geht es darum, wortwörtlich seine Mitte zu finden und zentriert auf dem Brett zu liegen – ansonsten fegt uns jede Welle vom Brett und wir werden ordentlich durcheinander gewirbelt. Je besser uns das gelingt, desto leichter und schneller kommen wir voran.

Was zu Beginn einer „Surferkarriere“ unmöglich scheint, wird mit der Zeit, mit Übung und der sich dabei stetig aufbauenden Muskulatur immer einfacher – Herz-Kreislauf-Training vom Feinsten. Die Körper von Surfern sprechen hier für sich. Am Lineup angekommen gönnen wir uns eine kleine Pause und setzen uns auf das Brett, um eine bessere Sicht zu haben. War das Finden der Mitte beim Paddeln schon wichtig, um schneller voranzukommen, ist es nun so essenziell, dass davon abhängt, ob wir es überhaupt schaffen, auf dem kippeligen Brett zu sitzen oder immer wieder seitlich ins Wasser zu fallen.

Aller Anfang ist dabei schwer, doch reguliert man die Atmung, die von der Anstrengung des Paddelns erst einmal unruhig und heftig ist, schafft man es mit einiger Übung, auf dem Brett zu sitzen, um dann in aller Ruhe die hereinrollenden Wellenberge zu beobachten.

Merke: Echter Erfolg im Leben funktioniert nicht ohne innere Zentrierung. An dieser Stelle tritt manchmal sogar ein meditationsähnlicher Zustand ein. Besonders am frühen Morgen oder wenn man alleine am Lineup sitzt, ist dies für mich ein magischer Moment beim Surfen, da die Konzentration auf die hereinrollenden Wellen alle anderen Gedanken aus meinem Kopf vertreibt und das sanfte Auf und Ab mich in eine sehr tiefe Entspannung bringt.

Die perfekte Welle finden

Hier und da springt ein Fisch aus dem Wasser, manchmal taucht eine fliegende Gruppe Pelikane ihre Flügelspitzen in die Wasser – oberfläche – und wenn man großes Glück hat, schwimmt ein Delfin vorbei, der auch seinen Spaß in den Wellen sucht. Aus der Entspannung dieser Situation ist es nun die Aufgabe, die richtige Welle für sich zu finden. Groß genug, um sie reiten zu können, nicht zu groß, damit sie einen nicht unter sich begräbt. Wie im Leben geht es hierbei darum, seine eigenen Fähigkeiten einschätzen zu können und nicht gleich die erstbeste, sondern genau die richtige Gelegenheit zu erkennen, die einen schönen Ritt verspricht. Beim Surfen, wie im Leben, finde ich diese Entscheidung oft sehr schwierig. Oft gibt es so viele Möglichkeiten, dass einem die Wahl schwer fällt, und manchmal kommt gar nichts und man muss einfach warten, bis sich wieder etwas tut. In allen Fällen hilft es, wenn man Ruhe bewahrt und eben auf die für einen persönlich richtige Welle wartet.

Hat man diese Welle nun ausgemacht, gilt es, sich zu positionieren. Manchmal muss man der Welle ein wenig entgegenpaddeln, sich manchmal auch ein bisschen näher an den Strand heran bewegen, um die optimale Startposition zu finden. Ein anderes Mal sind noch andere Surfer im Wasser, die dieselbe Welle nehmen wollen. Der, der am perfektesten positioniert ist, bekommt am Ende die Welle. Heißt: Wenn du im Leben gut vorbereitet bist und alles getan hast, was zu tun war, um erfolgreich zu sein, dann ist das die beste Voraussetzung, dass das Leben dich mit einer entsprechenden glücksverheißenden Gelegenheit beschenkt.

Ist man mit Freunden im Wasser, kommt es auch vor, dass man sich eine Welle teilt, was natürlich besonders viel Spaß macht – geteiltes Glück ist tatsächlich doppeltes Glück, wie sonst im Leben auch. Hat man sich schließlich für eine passende Welle entschieden, gilt es nun mit aller Entschlossenheit, die Welle anzupaddeln. Wer in diesem Moment zögert oder einfach zu zaghaft an die Sache herangeht, wird entweder nicht von der Welle mitgenommen oder sieht sich auf einmal in der Situation, von der Welle überrollt zu werden. Der feste Entschluss, die Welle zu nehmen, ist hier wie im Leben der Weg zum Erfolg.

Der Energie unterordnen

Hat sie das Brett erst einmal erfasst, übernimmt die Energie der magnetischen Anziehung zwischen Erde und Mond – in Form der Welle – das Geschehen und schiebt dich mit deinem Brett zusammen in Richtung Strand. Diese Energie ist so stark, dass es unmöglich ist, gegen sie zu arbeiten (was wir leider im Alltag viel zu oft tun). Beim Surfen erkennst du, dass die einzige Chance, die Welle erfolgreich zu surfen, darin besteht, sich der Energie anzupassen und unterzuordnen und sich frei nach dem Motto “Be water, my friend” hinzugeben.

Die Augen in die Richtung gerichtet, in die man gleiten möchte, wird man dabei von dem Gefühl zu fliegen sowie von den Endorphinen, die der Körper ausschüttet, belohnt. Ist die Welle groß genug, kommt auch noch eine anständige Portion Adrenalin dazu, was allein nur beim Gedanken an die gesurfte Welle auch im täglichen Leben viele Surfer mit einem breiten und zufriedenem Grinsen durch die Welt spazieren lässt. Sie sind auch ohne Welle im Flow, einem Gefühl, das jeder kennt, der im Leben gerade mit dem Gefühl verbunden ist, einen guten Lauf erwischt zu haben.

Manchmal kommt es allerdings auch beim Surfen vor, dass man sich verspekuliert, zu zaghaft anpaddelt oder einfach ein bisschen Angst vor dem Drop, dem anfänglichen Absurfen des steilen Wellenhangs direkt nach dem Aufstellen aufs Brett hat. Wenn einen dann die Macht des Wassers unter sich begräbt und heftig durch die Gischt-Waschmaschine schleudert, bleibt nur die Akzeptanz, dass die Welle stärker ist. Je weniger man nun versucht, sich dagegen zu wehren und je mehr Ruhe man unter Wasser behält, desto weniger bekommt man es mit der Angst zu tun, jetzt ertrinken zu müssen. An einem bestimmten Punkt lässt einen die Welle wieder los. Man schwimmt zurück zur Oberfläche, schwingt sich auf sein Brett, das über die Leach-Line mit dem Fußgelenk verbunden ist, so dass es beim Wellen-Waschgang nicht verloren gehen kann, und paddelt aus der Gefahrenzone wieder zurück zum Lineup, wo man auf die nächste gut surfbare Welle wartet.

Kraft tanken

Merkt man, dass man müde ist, nimmt man die nächste Welle zum Strand und macht erstmal eine Pause. Ein kleiner Snack unter Palmen, ein kleines Nickerchen am Strand und irgendwann merkt man, dass die Kraft wieder da ist, um erneut rauszupaddeln und die nächste Welle zu nehmen – auch das eine Erfahrung, die wertvoll fürs Leben ist und einem selbsterzeugte Überforderungen und Burnouts erspart. Wir haben keinen Einfluss darauf, welche Wellen das Meer an den Strand treibt. Doch mit etwas Übung und Klarsicht erkennen wir, welche Welle für uns selbst die richtige ist – und können diese perfekte Welle reiten. Immer und immer wieder, bis wir selber eines Tages wieder bewusster Teil der großen Energie werden und es gar keine unperfekten Wellen mehr gibt. Bis dahin gilt “Hang loose and keep riding that wave of life. …”

 

 

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