Was macht die Seele eines Unternehmens aus?

Könnten Sie sagen, was den Unterschied ausmacht zwischen Lidl und dem inhabergeführten Bioladen nebenan? Könnten Sie sagen, warum die Computerfirma Apple, einst totgesagt, erfolgreicher ist als andere der Branche? Verstehen Sie, warum alle Bionade trinken? Oder warum quadratische Schokolade seit fünfundzwanzig Jahren lieber gegessen wird als rechteckige?

Was hier wirkt, nenne ich „die Seele eines Unternehmens“.
Nicht, dass es Unternehmen gäbe, die keine Seele hätten. Aber bei den einen ist die Seele das Bestimmende, das, was für die Menschen spürbar ist und eine Resonanz mit dem Gesamtsystem erzeugt. Bei den anderen herrschen Fakten und Rationalität – das Seelische ist nachgeordnet oder wird sogar verneint.

 

Was ist das, die „Seele des Unternehmens“?

 

Wie bei uns Menschen ist auch bei Unternehmen die Seele das, was den Wesenskern trägt und in Kontakt mit dem Gesamten steht. Wenn der Wesenskern lebendig und sichtbar ist, entsteht Authentizität. Echtheit. Das TUN entspricht dem SEIN. Es ist Voraussetzung dafür, dass Menschen sich mit dem Unternehmen identifizieren: Wenn die Idee des Unternehmens sich fortsetzt in den Unternehmensaktivitäten, wird es erkennbar und vertrauenswürdig – Kunden, Lieferanten und Mitarbeiter/innen haben einen inhaltlichen Bezugspunkt.

Dabei sei gesagt, dass die Erwirtschaftung von Umsätzen KEIN lebendiger Inhalt ist. Vielmehr handelt es sich hier um eine Existenzvoraussetzung. Unseren Erwerb müssen wir alle irgendwie verdienen. Aber eben wie wir das tun – und wie gut das in Einklang mit unserem Wesen steht, das macht die Wirkkraft unseres Tuns aus – ist authentisch oder nicht – hat Seele oder nicht.

Ebenso wichtig für die Seele des Unternehmens wie der Kontakt zum eigenen Wesen ist die Verbundenheit mit dem Ganzen. Auf Neudeutsch heißt diese Verbundenheit „Corporate Social Responsibility“ – „Unternehmerische Verantwortung für die Gesellschaft“.
In Anbetracht heftiger Verstöße von Unternehmen gegen unser westliches Wertesystem – Korruption, Umweltverschmutzung, investorengetriebene Personalpolitik, Manipulation von Medien, Milliardenpleiten und Arbeitsbedingungen im Ausland, die Menschenrechte verletzen – haben Wirtschaft und Politik die Brundlandt-Agenda aus den siebziger Jahren wieder hervorgeholt. Alle Unternehmen von Rang und Namen haben den UN Global Compact unterschrieben, und eine ganze Branche der Nachhaltigkeit bricht sich gerade Bahn, indem sie versucht, Kriterien für Unternehmensverantwortung zu definieren und die Einhaltung dieser Kriterien zu kontrollieren.

 

Kann ein Unternehmen Verantwortung übernehmen?

Ich würde sagen: nein. Nicht direkt. Denn Verantwortung ist etwas Persönliches – sie nimmt Bezug auf ein gemeinsames Thema zwischen dem, der ein Bedürfnis hat, eine Frage stellt, und dem, der sie beantwortet.

Hier geht es um Einander-Wahrnehmen, Sich-zuständig-Fühlen, Für-einander-Dasein.
Wer ist in einem Unternehmen da für die sechs- bis zehnjährigen Mädchen in der indischen Fabrik, die zwölf Stunden lang mit giftigen Färbemitteln hantieren? Wer ist in einem Unternehmen da für die Mitarbeiter, deren Gesellschaft aus dem Konzern heraus verkauft wurde und ein halbes Jahr später pleite ist? Wer kümmert sich um die Familien, deren Kinder krebskrank wurden, weil ihre Häuser in der Nähe von Atomkraftmeilern standen?
Bevor ein solcher Bezug für eine ganze Organisation wirken kann, braucht es Einzelne, die sich selbst zum Bezugspunkt machen, die Inhalte definieren und persönlich vertreten, die entdecken und formulieren, von welchen Werten sie geleitet sind und denen es gelingt, diese Werte verbindlich zu machen im Unternehmensalltag.

Hier fällt mir ein Unternehmen ein, das seine Seele wiederentdeckt hat. Und außerordentlichen Erfolg hat: Betapharm. Der ehemalige Ciba-Geigy-Manager Peter Walter war zutiefst frustriert über den Umgang mit Menschen in den Großunternehmen und die Käuflichkeit, die die gesamte Branche beherrschte. Er wollte zeigen, dass man auch mit Anstand, Offenheit und Fairness gegenüber den Mitarbeitern Erfolg haben kann. Mit wenigen Mitarbeiter/innen, die den enorm kontrollierten und hochprofitablen Pharmamarkt aufbrechen wollten, verdiente Betapharm bereits nach vier Jahren rund 38 Mio €. Ohne „Werbegeschenke“ an Apotheker und Ärzte. Doch die „Seele des Unternehmens“ bestand noch allzu sehr aus Gegen-Intentionen – die Abwehrstrategien der Pharmariesen begannen zu wirken. An diesem Wendepunkt begegnete Peter Walter dem Bunten Kreis – eine gemeinnützige Nachsorgeeinrichtung, die sich für ganzheitliche Gesundheitskonzepte einsetzt. Zuerst gab Betapharm nur einen Teil seiner Umsätze an den Bunten Kreis ab. Doch Jahr für Jahr setzte sich die Seele des Helfen-Wollens, der Menschlichkeit in der Medizin, die Verbindung von Menschen als Heilmittel mehr und mehr im Unternehmen und seinem Leistungsportfolio durch. Betapharm wurde selbst Initiator von Nachsorgekreisen, Care-Systemen und sozialpolitischem Engagement.
Die Strahlkraft von 330 Mitarbeiter/innen – ihrem Traum einer menschlichen und für alle zugänglichen medizinischen Versorgung und ihrem Einsatz für die Verbindung von Menschen – fand ihre Resonanz und trotzt einem System, das seit Jahrzehnten von gigantischen Organisationen beherrscht wird.

 

Eine Seele ist nicht standardisierbar

Dieses Beispiel zeigt, dass eine spürbare Seele nicht unbedingt etwas mit „Rundum-Korrektheit“ zu tun hat. Dann müsste man die Pharmabranche in Frage stellen, wir müssten die starke Umsatzorientierung von Betapharm kritisieren oder bestimmte Produkte, die sie im Sortiment haben. Kein Mensch – und auch kein Unternehmen – kann alle Zusammenhänge zugleich überschauen und dabei sein Umsystem – Lieferanten – und Konsumentenverhalten – in der Seele berühren. Aber es kann dafür sorgen, einen Traum zum Ausdruck zu bringen, den Einzelne – meist Gründer und Führungskräfte – teilen und fördern. Und es kann sich in Resonanz mit Akteuren außerhalb des Unternehmens begeben, sein Portfolio und seine Prozesse ein Stück weit öffnen für die Entwicklung zusammen mit dem Umfeld.

Die Seele eines Unternehmens hat nichts mit dem Geschäftsmodell zu tun. Daher ist sie auch nicht „imitierbar“. Die Seele des Unternehmens hat auch nichts mit Leitbild-Workshops oder Teambildung zu tun. Die Seele eines Unternehmens ist auch nicht standardisierbar, denn die Seele des Unternehmens ist ein Resonanzprinzip, das bewusst wahrgenommen und entwickelt wird. Resonanz mit dem eigenen Traum (daher: persönlich) und Resonanz mit Menschen, die diesen Traum teilen und gemeinsam realisieren wollen. Geschäftspartner und Investoren, Mitarbeiter und Kunden, eine ganze Gesellschaft. Dieses Resonanzprinzip zu entwickeln, funktioniert nicht nach den bekannten Prinzipien der Strategie- und Organisationsentwicklung. Sie erfordert ein vollkommen verändertes Verständnis von Wirtschaft und systemischer Entwicklung, die bei Einzelnen beginnt und aus der Einsicht folgt, dass persönliche Integrität die Voraussetzung für Sinn ist und Sinn die Voraussetzung für Erfolg.

 

Woran erkenne ich die „Seele eines Unternehmens“?

Sie können sie erspüren. Mit Ihrer eigenen Seele. Und es gibt „Symptome“, die sie auch mit ihrer rationalen Wahrnehmung erkennen können:

  • nicht das Produkt, sondern Menschen stehen im Zentrum des Geschäftsalltags
  • Das Geschäftsmodell hat prägnante Eigenheiten – es realisiert etwas, das nicht-konform erscheint und sich erst seine – ganz spezifischen – Kunden zusammensammeln muss
  • Mitarbeiter, Lieferanten und Kunden sind über eine gemeinsame Vision verbunden. Und das ist überall erlebbar: in den Produkten, in der Art, miteinander zu kommunizieren, in Geschäftsabläufen und in der Position zum Umfeld
  • Die Grenzen zwischen „Arbeitnehmer“ und „Arbeitgeber“, „Mitarbeiter“ und „Führungskraft“ sind nicht so deutlich, wie in anderen Unternehmen: Der innere Zusammenhalt in Krisen ist überdurchschnittlich hoch, ein Stückchen des Unternehmensrisikos wird von jedem und jeder bewusst mitgetragen
  • Es gibt etwas, das ich „gelebte Instabilität“ nenne: der kontinuierliche Dialog, die Orientierung an Resonanz – nach innen und außen – erzeugen einen ständigen, fließenden Wandel. Ganz im Unterschied zu ge- oder besser: ver-festigten Strukturen.

All diese Aspekte spiegeln Authentizität und Verbundenheit wider und machen das Unternehmen lebendig – beseelt.

Ich fragte Sie eingangs aus Konsumentensicht nach der Seele des Unternehmens.
Wenn ich Sie aus Arbeitnehmersicht fragen würde, ob Sie lieber bei – sagen wir: der Telekom arbeiten würden oder bei einem Ableger von Pixelpark, die sich durch chaotische Organisationsstrukturen, ungebremste Innovations- und Kommunikationskraft, aber auch Instabilität einen Namen machten, bevor sie ihren Visionsträger Paulus Neef verloren: Würden Sie sich für Seele oder (vermeintliche) Sicherheit entscheiden?

Bitte vergessen Sie nicht: Die Seele eines Unternehmens – und die Seele unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems beginnt bei Einzelnen, ihrem Mut, zu ihrem Traum zu stehen, und ihrer Flexibilität, den eigenen Traum in die Dynamik eines Dialogs zu geben.

1. Bild: © bluemap-fotolia.com
2. Bild: © Yuri Arcurs-fotolia.com

Über den Autor

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Vor vielen Jahren wagte Evelin Rosenfeld als etablierter Coach einen großen Sprung, indem sie aus einem bewegten Leben zwischen Thailand, Teneriffa und Berlin auf einen verwilderten Berg ins tiefste Bayern zog und begann, dort ohne Maschinen 33.000 Quadratmeter Land in einen blühenden Permakulturgarten zu verwandeln. Harte körperliche Arbeit, unendlich viel neues Wissen, vor allem aber die Bereitschaft, ihre Komfortzone einmal mehr zu verlassen und sich ausschließlich mit ihren eigenen Kräften ins Leben zu werfen, brachten ein kleines Unternehmen hervor, in dem Kostbarkeiten wie Reindestillate, Kräutertabak und Rohdrogen geschaffen werden. Mit ihrer Firma Wild Natural Spirit macht sie Mut, all die Hilfsmittel und Stützen der rationalisierten Welt fallen zu lassen und sich in die Obhut purer Natur zu geben.

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Evelin Rosenfeld
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