Die Journalistin und Autorin Marlies Burghardt sprach mit der spirituellen Lehrerin Pyar über den tibetischen Weg des Dzogchen.

Es gibt verschiedene Wege, die zum Einen führen, und dem Suchenden stehen insofern viele Möglichkeiten offen. Einer dieser Wege ist Dzogchen, auch „die große Vollkommenheit“ genannt. Es hat seine Wurzeln in der tibetischen Bön-Kultur und im tibetischen Buddhismus. Dzogchen gilt als die spirituelle Essenz aller buddhistischen Lehren und zeigt den Weg der spontanen Befreiung auf, der den Menschen sein wahres Wesen jenseits der Dualität erkennen lässt. Dabei geht es nicht um eine Veränderung des Geistes von einer unvollkommenen in eine vollkommene Natur, sondern Dzogchen ist eine auf unmittelbare Erkenntnis zielende Lehre.

Der Legende nach war es der Bodhisattva Vajrasattva, der Dzogchen an die Menschen weitergab, an den Tibeter Garab Dorje. Und damit begann die Kette der Vermittlung von Meister zu Schüler. Die spirituelle Lehrerin Pyar, die in ihren Veranstaltungen immer wieder neue Fenster zum ewigen Urgrund öffnet, legt dabei seit einiger Zeit das Schwergewicht ihrer Vermittlung auf Dzogchen.

Marlies Burghardt: Pyar, du führst seit einiger Zeit ins Dzogchen ein. Was genau ist Dzogchen und was ist das Besondere daran?

Pyar: Dzogchen ist eine wunderbare uralte tibetische Tradition, und – vor allem – sie ist verblüffend direkt und einfach. Dzogchen ist ein Weg der Selbstbefreiung, der jeden sein wahres Wesen jenseits der Dualität erkennen lässt. Das, was wesentlich ist, ist nicht unerreichbar – wie es auch Rumi ähnlich sagt: „Gott ist näher als dein eigener Atem.“ Dozgchen hat zwei Beine, die Bön-Tradition, die vorbuddhistisch und schamanisch gefärbt ist, und den tibetischen Buddhismus. Der Tibeter Garab Dorje, der diese Übermittlung vom Bodhisattva Vajrasattva erhielt, hinterließ ein Testament für seine Schüler mit drei Sätzen, die illustrieren, worum es geht: 1. die direkte Einführung in die wahre Natur des Geistes durch den Meister oder die Meisterin, 2. den Umgang mit und die Beseitigung von Zweifeln, die immer auftauchen, und 3. dabei zu bleiben.

Du sagst: Jeder kann die Wirklichkeit erkennen, die wahre Natur unseres Geistes.

Ja, das Erkennen hat mit Resonanz zu tun, und die ereignet sich immer bei gleicher Wellenlänge. Das heißt: Wenn ich etwas schön finde, muss Schönheit auch in mir sein. Und wenn es in mir vorhanden ist, ist es erreichbar. Wir wissen oder ahnen die klare Natur des Geistes, daher auch die Sehnsucht. Die wahre Natur des Geistes ist klar, leuchtend und bewusst, ungetrübt von vorhandenen Gedanken und Emotionen. Da jedes Lebewesen diese klare Natur des Geistes in sich trägt, geht alles, was unserer Buddha-Natur entspricht, sofort in Resonanz mit unserem tiefsten Wesen. „Es ist ungeboren, bestehend seit Anbeginn, fortdauernd, jenseits von Raum und Zeit, gegenwärtig, unendliche Weite, Gleichmut, ohne Negatives abzulehnen noch Positives festhaltend…“, so sagt es ein uraltes tibetisches Lied.

Und die Erkenntnis ist immer möglich, jetzt, frisch und immer wieder erstaunlich. Das kennzeichnet auch den Unterschied zwischen intellektuellem Verstehen und mystischem Erfahren. Es geht beim Dzogchen also um Erkennen und Stabilisieren der Erkenntnis der ursprünglichen vollkommenen Natur des Geistes, der grundlegenden Gutheit jedes Menschen – da ist Klarheit, Bewusstheit, Mitgefühl, Freundlichkeit, Schönheit, Lachen… Diese grundlegende Gutheit wird aber oft aufgrund von dualistischer Verschleierung nicht als solche erkannt und wir bauen künstliche Trennungen auf, wo keine sind.

Das Wissen um die grundlegende Gutheit des Menschen – sowohl in mir, als auch im Anderen – und das Erkennen des dualistischen Geistes dürfte in Krisensituationen im Miteinander einiges relativieren und einfacher machen.

Ja natürlich. Es ist möglich, sich fest in die offene Weite des Geistes und die Wahrnehmung der grundlegenden Gutheit zu stellen und von dort aus zu agieren und zu kommunizieren. Das macht einen Riesen-Unterschied. Wir können tatsächlich alles, was uns begegnet, als die momentane spontane Manifestation des immer Einen erkennen. Wir sehen dann auch, dass die eigentliche Ursache von Leiden und Unzufriedenheit nicht in irgendwelchen Umständen oder inneren Zuständen zu finden ist, sondern immer auf der dualistischen Verschleierung des eigenen Geistes beruht. Welche Erleichterung! Denn so haben wir die Möglichkeit, wirklich Zufriedenheit zu erlangen!

Es geht also darum, den Urgrund zu erkennen, das Wirken des Lichts – aber gleichzeitig auch das, was uns davon trennt, im Auge zu haben.

Es liegt in der Natur des ursprünglichen Zustandes, sich zuerst als Licht und dann als Formen, Gedanken, Handlungen, Gefühle, also als das ganze Universum zu manifestieren. Man stellt sich das in Tibet so vor, als ob Licht durch einen Kristall scheint. Das Licht bricht sich und man sieht dann die Regenbogenfarben, die die verschiedenen Elemente repräsentieren – aber auch alle Weisheiten und alle Dummheiten. Es ist also nicht so, dass da der ursprüngliche Zustand wäre, der für sich allein existiert, und als Gegensatz dazu die „doofe“ Existenz, die auch für sich existiert. Und es geht auch nicht darum, von dieser „doofen“ Existenz zum ursprünglichen Zustand zu gelangen. Das funktioniert nicht, denn das eine ist nicht vom anderen getrennt.

Es ist vielmehr die Natur des Unveränderlichen, sich permanent in veränderlichen Formen, Gedanken, Gefühlen usw. zu manifestieren. Wenn wir uns daran erinnern, dass alles das spontane Spiel des ursprünglichen Zustandes ist und wir diesem wesentlichen Zustand, der allem innewohnt, verbunden bleiben, können wir das Sein in allen seinen Erscheinungsformen genießen! Wie gut!!! Es geht also darum, um diesen alles verbindenden Urgrund zu wissen. So kommen wir zu einem sich selbst befreienden und in sich vollkommenen Zustand. Das nennt man Dzogchen. Umgekehrt ist es so, dass wir immer wieder in eine Fehlwahrnehmung der Wirklichkeit geraten, in eine Verwirrung, in der wir das, was uns im Innen oder Außen begegnet, nicht mehr als Ausdruck des Einen wahrnehmen können. Sofort fangen wir an, zwischen Freund und Feind, zwischen Gut und Schlecht zu unterscheiden und sehen den Ursprung all dessen nicht mehr. Und schon sind wir wieder gefangen in dieser nagenden Unzufriedenheit… Erst verwickeln wir uns also in die dualistische Sicht, dann, wenn wir bereits verdunkelt sind, nehmen wir Unbehagen wahr, und durch die Verdunkelung projizieren wir auch noch und sagen „das/der/die ist schuld…“ und versuchen dann das, was wir als Grund für unsere Unzufriedenheit ausgemacht haben, zu verändern oder zu manipulieren.

Das aber hat im Allgemeinen keinen Erfolg oder funktioniert nur kurzzeitig. Trotzdem probieren wir es immer wieder. Das ist das ganze Problem. Wenn wir es merken, haben wir sofort die Möglichkeit innezuhalten und wieder unser Gewahrsein auf den Urgrund zu richten, zu erkennen, dass alles sich daraus erhebt – selbst unsere Fehlwahrnehmung und Verwirrung. AHHH…Erstaunen… Offenheit… Weite… Das heißt es, den Geist nach Hause holen.

Davon sprichst du oft – den Geist nach Hause holen. Was bedeutet das?

Ja, der Geist hat eine Heimat! Allein dieser Gedanke ist schon so wunderbar. Der Geist hat eine Heimat und darf dort ruhen. Die Heimat des Geistes ist mitten in uns, ist genau hier, genau jetzt. Ist genau da, wo die grundlegende Gutheit in unserem Herzen residiert und wo der Geist klar, offen, weit ist.

Beim Dzogchen ist ein wichtiger Punkt die Reinigung. Wie funktioniert das?

Der Bodhisattva Vajrasattva, von dem die Übermittlung des Dzogchen stammt, ist der Bodhisattva der Reinigung. Daher ist Reinigung jeder Art in diesem Kontext so wichtig. Für mich zeigt sich Vajrasattva überall, wo gereinigt und geputzt wird. Jeder Straßenkehrer und Müllmann, jeder Tellerwäscher und jede Putzfrau und ich selbst morgens beim Duschen sind Manifestationen von Vajrasattva. Vajrasattva heißt Diamantwesen und Vajrasattva repräsentiert auch die diamantene unzerstörbare Natur unseres Geistes – offen, klar, weit. Diese Haltung ist der grundlegende Schritt bei der Reinigung. Dazu kommen dann alle möglichen Übungen. Körperübungen, Atemübungen, Mantren, die uns alle helfen, unseren Körper, unsere Seele und unseren Geist von Verwirrung und Missverständnis zu reinigen. Denn Körper, Geist und Seele sind nicht getrennt. Wir brauchen alle drei. Es geht nicht darum, den Körper oder den Geist zu verlassen und irgendwohin „abzusegeln“.

Wichtig ist also beides – Reinigung und dabei in Verbindung mit dem Urgrund zu sein?

Es wird immer wieder Neues auftauchen, was uns zweifeln lässt oder uns verwirrt. Aber, was immer geht: mitten in der Welt, wie sie ist, und genau so, wie wir sind, uns dem Urgrund zu öffnen. Wir müssen damit nicht warten, bis wir Samsara oder uns selbst repariert haben. Sondern wir können bei Schwierigkeiten erst recht die Grandiosität des Urgrunds im Blick behalten und sie als solche erkennen. Das, was immer gut war, ganz, strahlend, lebendig, ungeboren. Wir können also den unruhigen Geist immer wieder heimholen zu dem, was wir sind.

Satsang mit Pyar in Berlin am 25.-27.1.2019
Ort: Bodhicharya Deutschland e.V.,
Kinzigstraße 25-29, 10247 Berlin
Zeit: Freitag 19.30 Uhr
Samstag und Sonntag jeweils 11 und 15 Uhr
Teilnehmerbeitrag pro Satsang 18 €
Info und Kontakt über Sundara unter Tel.: 0176-960 804 82 oder isabel.ziegelhoefer@gmx.de
www.pyar.de

Eine Antwort

  1. Anna schöbel

    Weihnachten ist für mich“ auf der Suche zu sein“ ,mich selber zu finden, bei mir ankommen. das kann ich nicht in der Zerstreuung und im Weinachtsstress.

    Antworten

Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar

Deine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.

*