„Bewahre immer einen heiteren Geist“: Das ist einer der vielen Leitsätze aus dem Sieben-Punkte-Geistestraining, das Atisha, ein Meister des 11. Jahrhunderts, von Indien nach Tibet brachte. Die spirituelle Lehrerin Pyar schrieb zu diesem Thema vor mehreren Jahren das Buch „Bodhichitta – das erwachte Herz: das Sieben-Punkte-Geistestraining für Weisheit und Mitgefühl“, in dem sie die Texte dieses Trainings für Menschen aus dem Westen verständlich macht. Genau das greift sie jetzt auch in ihren Satsangs und Retreats wieder auf. Es geht darum zu lernen, wie wir mit uns selbst und unseren Mitmenschen auch in schwierigen Situationen umgehen können, um zu mehr Frieden, Weisheit und Mitgefühl zu gelangen. Die Journalistin und Buchautorin Marlies Burghardt sprach mit Pyar über die zentralen Punkte des Trainings.

 

Pyar, viele von uns verbinden mit dem heiteren Geist den Dalai Lama, der ihn wunderbar ausstrahlt. In ­guten Zeiten ist das auch für uns ­sicher nicht schwer, aber wenn’s ­kritisch wird …
Für mich ist das ein zentraler Aspekt. Wichtig dabei ist, dass diese Heiterkeit keine Maske ist, die über Kummer, Angst oder Sorgen gelegt wird, sondern dem Mut entspringt, die Heiterkeit, die immer in der Tiefe unseres Herzens wohnt, durchscheinen zu lassen, auch wenn es kritisch wird oder die Zeiten schlecht sind. Jeder von uns erlebt gute Zeiten und Zeiten des Kummers, der Sorge oder der Angst. Die Kunst ist, sich auch in den unangenehmen Phasen unseres Lebens wieder und wieder dessen zu erinnern, was als grundlegende Gutheit und Klarheit immer und unzerstörbar in der Tiefe unseres Wesens strahlt. Dieses Erinnern, dieses „Trotzdem“, dieser Mut ist das Bewahren. Ähnlich wie wir auch an einem nebligen Novembertag wissen, dass die Sonne scheint und dass sie auch wieder durch die Wolken brechen wird. So kann es uns gelingen, dass die Kraft der tiefsten Heiterkeit durch die Wolken des Kummers hindurchbricht und unser Lächeln so echt und tragend wird, wie wir es vom Dalai Lama kennen und schätzen, der ja in seinem eigenen Leben genau wie wir alle auch schwere und kritische Zeiten erlebt hat.

Der Titel deines Buches heißt: „Bodhichitta – Das erwachte Herz – Das Sieben-Punkte-Geistestraining für Weisheit und Mitgefühl“. Was hat es mit diesen beiden Themen auf sich?
Weisheit und Mitgefühl sind die beiden Flügel, mit denen wir fliegen können. Weisheit ohne Mitgefühl wäre kalt und unmenschlich. Mitgefühl ohne Weisheit wird leicht zur Dummheit oder Selbstausbeutung.

Ein Satz des Geistestrainings sagt: „Betrachte Phänomene als Träume.“ Könnte das nicht zu Abgehobenheit führen, zur Abwertung des alltäglichen Lebens?
Ja, das könnte es, wenn dieser Satz einzeln und isoliert betrachtet würde. Die Weisheit sagt: Alle Phänomene sind vergänglich wie Träume. Und alle Phänomene entspringen dem Unvergänglichen und erhalten so ihre Würde und ihren Wert, denn das Unvergängliche strahlt und tanzt im Vergänglichen. Wir können also die Phänomene nicht abtun, nur weil sie vergänglich sind.

Zum Thema Mitgefühl empfiehlst du unter anderem die Praxis von Tonglen, das jeder sowohl für sich selbst als auch für andere Menschen machen kann. Wie geht Tonglen? Du warnst in dem Zusammenhang ­davor, Mitgefühl mit Mitleid zu verwechseln …
Tonglen heißt übersetzt „austauschen“. Es ist eine meditative Mitgefühls-Praxis. Beim Einatmen nimmt man dabei unangenehme Gefühle, die einen erreichen, in sein Herz hinein und atmet aus, was auch immer an Schönem in uns ist. Das macht man zunächst mit sich selbst und dann kann man die Praxis auf andere ausweiten. Diese Praxis verleiht den Mut, die künstliche Grenze zwischen uns und dem Anderen aufweichen zu lassen, den Mut, Unangenehmes einzulassen, und gibt und stärkt die Zuversicht, dass da immer noch Schönes ist, das man ausatmen kann. So erkennt man tiefer und tiefer das, was immer größer ist. Das bedeutet nicht, dass man in Mitleid zerfließt oder gar in den Film des Anderen einsteigt, sondern dass man sich der eigenen Größe und Weite bewusst wird und dem Gefühl der Hilf­losigkeit angesichts von Leiden entkommt.

Auf dem Weg zu Weisheit und Mitgefühl scheinen die sogenannten drei Gifte – Gier, Hass, Unwissenheit/Gleichgültigkeit – Hauptfaktoren zu sein, die zum Leid führen und insofern vom Weg ­trennen …
Gier, Hass und Verblendung sind wie Krankheiten unseres Geistes und hinterlassen Wunden in unserer Seele. Positiv formuliert würde ich sagen: Die wichtigste Medizin ist die Einsicht in unser wahres Wesen. Die Einsicht in die grundlegende Gutheit unseres Wesens und die klare Natur des Geistes und die Erfahrung der Wirklichkeit der unend­lichen Bezogenheit. Diese Einsicht will sich dann ganz natürlich in liebevoller Zuwendung, Klarheit und Kreativität äußern.

In Satsang geschieht Begegnung mit dieser Wirklichkeit. Wir begegnen uns selbst in unserem Menschsein und in unserer tiefsten Natur, der Buddha­natur. Wir begegnen dem ganz Großen, das immer strahlend, unveränderlich und ewig ist. Manche nennen es Gott, manche Leerheit, manche Selbst. Und wir begegnen einander in unserem Menschsein mit allem, was dazu gehört an Schönheit und Nicht-so-Schönem und begegnen einander als Buddhas. In diesem für mich immer wieder staunenswerten Begegnen und Verbinden in Satsang ist tiefe Heilung möglich. Denn Heil-Sein heißt Ganz-Sein und ­erfordert, das wieder zu verbinden, was getrennt war oder erschien.

Interessant der Satz „Sei nicht so berechenbar“, der anklingen lässt, dass es beim Geistes­training nicht um „stumpfe“, moralisierende ­Regeln geht.
Moral bedeutet für mich, sich stur an Regeln zu halten. Ethik oder Tugend bedeutet, aus Einsicht im Sinne und zum Wohle des Ganzen zu handeln. Moral ist in meinen Augen eine manchmal durchaus notwendige Krücke, solange Einsicht und Ethik noch nicht ausreichend entwickelt sind. Und du hast völlig Recht, ein moralischer Mensch ist leicht berechenbar. Tugend und Ethik sind lebendig, nicht starr. Sie zeigen sich im direkten Bezogensein, in Verbindlichkeit miteinander und sind daher nicht so leicht berechenbar.

Gibt es einen Kernaspekt des Geistestrainings für dich? 
Ja, ein ganz wichtiger Punkt im Geistestraining ist: „Widrige Umstände in den Bodhipfad verwandeln“. Da ich selbst und meine Familie im letzten Jahr mit widrigen äußeren Umständen umzugehen hatten und ich auch von vielen Freunden und Schülern hörte, dass es ein besonders schwieriges Jahr für sie war, finde ich es wichtig zu erkennen, dass jede Situation geeignet ist, in den Pfad der Liebe und Wahrheit umgewandelt zu werden. Das ist wie bei einem Komposthaufen. Was wir zunächst als Abfall betrachten, können wir bei richtiger Behandlung in kostbaren ­Humus für unsere Entwicklung verwandeln. Und das finde ich wunderbar!


Abb: © Jutta C. Beyer – Fotolia.com

Satsang mit Pyar am 7.-9.2.2014 bei Kreuzberg-Yoga, ­Lübbener Str. 9, 10997 Berlin,
Fr, 19.30 Uhr, Sa u. So jeweils 11 und 15 Uhr.
Teilnehmerbeitrag: jeweils 15 €.
Infos bei Sundara: Tel: 0176-96 08 04 82,
www.pyar.de

 

Weitere Bücher von Pyar:
Reise ins Nichts – ­Geschichte eines ­Erwachens, ­Kamphausen 2000

Poesie der Stille – Tanz des Lebens, Kamphausen 2002

Hütet das Feuer – ­Jesus als radikalen Weisheitslehrer ­entdecken,
­Kamphausen 2006

Satsang – die ­spirituelle Suche nach Wahrheit und ­Erkenntnis,
Kailash 2006

WIR – Wege zur ­Verbundenheit,  ­Kamphausen 2009

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