Virtuelle Welten, Chats, Online-Spiele und „Second Life“ …

Chatrooms – Soziale Abgrenzung oder Chance auf Kontakte?

Als sich das Internet im vergangenen Jahrzehnt langsam ausbreitete und “Chatrooms” – virtuelle Welten und Räume, in denen man per Textkommunikation Gespräche mit Menschen auf anderen Kontinenten (oder Leuten im Nebenraum) führen kann – auf dem Vormarsch  waren, war das Gejammer groß.  Die Kommunikation unter den Menschen würde abnehmen, bald säße man nur noch einsam und realitätsfern vor der Maschine, ohne Kontakt zur Außenwelt, und würde nur noch Cybersex betreiben, statt echte Haut und echtes Fleisch zu spüren … Inzwischen dürfte klar sein, dass diese Schreckensvisionen so nicht eingetroffen sind (genauso wenig wie in den Generationen davor, als man sich empört Ähnliches über die Käufer von Fernsehern zuraunte – nach der Erfindung des Radios wird es wahrscheinlich ebenso gewesen sein).

„MMORPG“: Online-Spiele und „Ego-Shooter“ – Förderung von Gewaltbereitschaft?

Ähnlichen Argumentationsketten sehen sich die Online-Spiele, so genannte MMORPGs (Massive Multiplayer Online Role-Playing Game = Massen- Mehrspieler-Online-Rollenspiel) gegenüber. Deren Konzept ist relativ simpel: Der Spieler loggt sich mit seinem Avatar (Spielfigur) auf dem Server ein. Hier sind gleichzeitig Tausende anderer Menschen in einer fantasiereichen Spielwelt online. Die meisten MMORPGs, wie zum Beispiel in den Anfängen Ultima Online oder heutzutage World of Warcraft, sind darauf hin angelegt, dass man seinen Avatar ausbaut. Je mehr Zeit man online in diese virtuellen Welten investiert, je mehr man den Avatar trainiert, desto stärker, toller und unbesiegbarer wird er. Die Spielzeit und besondere Spielaktionen laufen weiter, auch wenn man selbst nicht (mehr) online ist, so dass einige ihr Leben um diese Spielzüge und -zeiten herum zentrieren.

Manche erleben so eine regelrechte Spiel- bzw. Internetsucht und vernachlässigen Freunde, Partner und Beruf. Beim Versuch, auszusteigen, bauen sich Entzugserscheinungen auf. Die Frage stellt sich, ob Online-Spiele bei suchtanfälligen Jugendlichen einen ähnlichen Stellenwert einnehmen könnten wie Alkohol, Drogen und Zigaretten. Die Forschung steckt hier anscheinend noch in den Kinderschuhen.

Allerdings sind die Auswirkungen von Online-Rollenspielen oder auch von Ego-Shootern (“Schießspiele”) nicht ganz so gravierend und häufig wie von Politikern und Presse oft medienwirksam in Szene gesetzt. Wahrscheinlich kann hierdurch wirklich Realitätsferne oder Gewaltbereitschaft gefördert werden, der zu ahnende Prozentsatz scheint im Vergleich zu unserem realen Leben allerdings eher gering. In der Realität werden Gelder für Sozialarbeiter, Street-Worker oder erfolgreiche Erziehungsprojekte (zum Beispiel die Musical-Projekte in Berlin) gestrichen und Kindern aus schwierigen Verhältnissen keinerlei Perspektiven geboten.

 Fantasy-Spiele oder Ego-Shooter haben zum Beispiel immer einen festen, vorgegebenen Rahmen, in dem das Spielgeschehen abläuft. Ein Rahmen, der meist nach dem simplen Prinzip “Räuber und Gendarm” abläuft – und mal ehrlich: wer von uns hat das nicht ebenfalls als Kind gespielt? “Peng! Du bist tot …!”  Oder, um auf DEN Kinderbuchautor schlechthin zurückzugreifen, Erich Kästner: selbst Emil und seine Detektive haben sich geprügelt. Die Jungs aus dem fliegenden Klassenzimmer zettelten eine Art Krieg mit der Nachbarschule an. In der Steinzeit werden die Kinder sich wohl gegenseitig den Mammutknochen geklaut haben. Jetzt läuft es nur in einer anderen Nische der Realität ab. Den perfekten Vorort oder tollen Kiez, wo man früher mit Horden von Kindern über die abenteuerlichen Hinterhöfe vagabundierte, seine Geheimnisse hatte und Mutproben ablegte, gibt es eben heute so gut wie nicht mehr. Genauso wenig wie Initiationsriten, an denen sich Heranwachsende ausprobieren und Erfolg und Anerkennung in der Gemeinschaft erhalten können. Vielleicht füllen diese Spiele genau diese Lücke?

 

 

Second Life – hoch gepushte New-Economy-Blase?

Second Life

Das neueste Produkt der schön glitzernden Online-Welt trägt den Namen “Second Life” – das zweite Leben. Und genau das, was versprochen wird, erfüllt sich. Wie im echten Leben benötigt man dringend Bargeld, um in dieser Welt zurechtzukommen, toll auszusehen oder sich überhaupt eine Wohnung mieten zu können. Als Newbie (Neuling) lernt man schnell, dass Aussehen in dieser 3D-animierten Welt mehr als in der realen Welt zählt, und man einen zeitaufwändigen Job aufnehmen muss, wenn man sich zum Beispiel das schöne “Flexhair” als Kopfschmuck leisten und sich nicht als “billig” outen will. An der Hautfarbe, den Gesichtszügen, der Kleidung, den Körperanimationen oder dem Haarstyle zeigt sich, was man hat. Alles scheint sich darum zu drehen, Geld in die Finger zu bekommen, um zu kaufen, zu kaufen, zu kaufen. Wer kein reales Geld ausgeben möchte oder kann, um es in die virtuelle Währung zu wechseln, der muss sich eben als Türsteher oder Gogo-Tänzer in riesigen glitzernden Spielhöllen oder gähnend leeren Konsumtempeln verdingen.

Interessant ist, dass man den Avatar den persönlichen Eigenschaften nachmodellieren kann – anscheinend sitzen allerdings nur schöne Menschen vor dem heimischen PC – zumindest, wenn man nach den teuer aufgestylten Figuren mit Model-Maßen geht, die zickig über menschenleere Boulevards stöckeln.

Second Life In den vergangenen Monaten hat ein unglaublicher Hype diese virtuelle Welt begleitet. Für die großen Firmen gilt es als hip und ultramodern, virtuelle Filialen in “SL” zu führen und ein paar Pixel mit ihrem Markennamen darauf zu verschachern. Mir als Newbie ist schnell langweilig… alles ist irgendwie zu groß, zu leer, zu nichtssagend und die vereinzelt getroffenen durchgestylten Wesen – bis auf eine Ausnahme – einfach zu unfreundlich. Wenn ich denn überhaupt mal was sehe und das anfällige System nicht gerade wieder zusammengeklappt ist. Wie auch schon früher bei Chatrooms oder anderen Spielen gibt es auch hier Menschen, die behaupten, SL sei “ihr Leben”. SL scheint allerdings – in meinen Augen –  nichts anderes zu sein als ein unglaublich übertriebener Medien-Hype um einen monströsen Chatroom mit 3D-Animation, in dem sich der Großteil zu Tode langweilt …

 

Die Unschuld des Mediums?

Virtuelle Welten

Ich denke nicht, dass man das Hohe Lied auf das Medium Internet kritiklos singen sollte, dazu ist es einfach zu vielfältig und zu vielschichtig. Es kann in Einzelfällen Isolierung unterstützen, es kann Menschen mit psychischen Problemen eine Plattform bieten – auch um andere Benutzer zu drangsalieren und zu terrorisieren. Es kann Realitätsferne oder Gewaltbereitschaft fördern. Aber das Netz kann ebenso ein sicherer Hafen sein. In spezifischen Internet-Foren kann man Gleichgesinnte finden, sich über  Probleme, Wünsche, Interessen, Ängste austauschen. Es können sich enge Freundschaften entwickeln, die sich – wie in meinem Fall – über hunderte Kilometer und über fast zehn Jahre hinweg halten, und immer öfter finden Lebenspartner über dieses Medium zusammen.

Wenn wir virtuelle Welten verteufeln wollen, einen Grund suchen, warum Kinder und Jugendliche aus ihrem Leben aussteigen und sich auf ein Fantasy-Spiel einlassen, warum sie Aggressionen ausleben und zu verrohen scheinen, dann  müssen wir uns auch vor Augen halten, dass das Internet mit all seinen Angeboten wahrscheinlich nur eine Saat aufgreift, die in unserer eigenen Gesellschaft gelegt wurde. Hysterisch gellende Rufe nach Abschaffung sind da ein wenig simpel. Gewalt ist kein Novum unserer Zeit, sondern menschliche Geschichte und Natur. Mit nichts anderem beschäftigt sich schon der Sündenfall in der Bibel. Gewalt ist nicht spontan mit einem Video-Spiel über unsere unschuldige Existenz hereingebrochen. Sie war – und ist – schon immer ein Teil von uns. Wie wir mit ihr umgehen und in welche Kanäle wir sie leiten, daran muss sich unsere Gesellschaft und unsere hoch gelobte Zivilisation messen lassen.


Screenshots: © Linden Lab®

Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar

Deine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.

*