Von Dr. med. Ludwig Janus

Als Psychotherapeut macht man die Erfahrung, dass allerfrühste Erfahrungen vor, während und nach der Geburt unser Gefühl für uns selbst und unseren Bezug zur Welt zutiefst vorprägen, unter ungünstigen Bedingungen als Ängstlichkeit und misstrauische Feindseligkeit. Und gleichzeitig hängen diese anfänglichen Lebensbedingungen von Mutter und Kind in elementarer Weise von den gesamtgesellschaftlichen Bedingungen ab. Diese beiden Dimensionen unseres Lebens stehen also in inniger Wechselwirkung. Nun haben wir von unserer Geschichte her die Situation, dass es durch die Erfindung von Ackerbau und Viehzucht zu einer enormen Bevölkerungsvermehrung und zur Entwicklung ganz neuartiger Gruppen von mehreren 10.000 Menschen kam, die sich untereinander nicht kannten, weshalb sich Subgruppen gegeneinander bekämpften. Die „Lösung“ war, den Zusammenhalt durch männliche Hierarchien und Gewalt herzustellen. Das war der Beginn der patriarchalen Kriegerkulturen, wie wir sie paradigmatisch aus der Ilias kennen. Eine problematische Folge war die Abwertung der Frauen und die Verschlechterung der frühen Mutter-Kind-Bedingungen. Die Abwertung der Frauen beeinträchtigte die primäre Sicherheit des werdenden Kindes. Das hatte eine gesamtgesellschaftliche Aggressivierung zur Folge, wie wir sie aus unseren historischen Gesellschaften kennen. Erst mit der Aufklärung und der Emanzipation beginnen wir aus diesem verhängnisvollen Teufelskreis heraus zu wachsen. Gewalt war nicht mehr die Lösung, wie das in unserer Gesellschaft bis 1945 selbstverständlich war und heute noch in der russischen Gesellschaft selbstverständlich ist. Ich will nun diese Zusammenhänge in einzelnen Abschnitten darstellen, zunächst in einer sehr allgemeinen Weise, die man dann natürlich auf die jeweiligen individuellen Bedingungen beziehen muss.

Die Bedeutung der Verletzlichkeit des Ungeborenen und in der Säuglingszeit

Das Kind lebt vor der Geburt mit seiner Mutter in einer ganzheitlichen Verbundenheit. Alle Beeinträchtigungen oder Mängel, denen die Mütter ausgesetzt ist, haben direkte Auswirkungen auf das Kind. Das heißt, dass früheste Traumatisierungen vor, während und nach der Geburt das basale traumartige Bewusstsein und Verhalten zutiefst verformen im Sinne einer basalen Fokussierung auf „Fight and Flight“ oder primäre Angst und primäres Misstrauen und eine primäre Aggressionsbereitschaft. Das symbiotisch Ich vor der Geburt setzt sich als traumartige mystische Einheit zwischen Kind und elterlicher Welt fort. Wegen der fehlenden Reife des präfrontalen Kortex hat das Kind noch keine Möglichkeit, Schwierigkeiten oder Belastungen reflexiv zu bearbeiten. Sie werden so zu emotionalen basalen Prägungen. Erst dem Laufenlernen mit anderthalb bis zwei Jahren wird eine gewisse Autonomie und Orientierungsfähigkeit erreicht. Davor sind wir auf eine einfühlsame und vermittelnde Begleitung durch die Eltern angewiesen, um unser seelisches Gleichgewicht zu wahren. Ein Mangel in dieser Beziehung hat die Folge, dass wir lebenslang nach einer solchen Schutzperson suchen und dies wiederum ist der Hintergrund für die hörigen Abhängigkeiten in unseren historischen Gesellschaften. Wir müssen uns in diesem Zusammenhang klar sein, dass sich erst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts ein öffentliches Bewusstsein für die basalen Beziehungsbedürfnisse des neugeborenen Kindes und erst in den letzten Jahren für die des werdenden Kindes entwickelte.

Die gesellschaftliche Dimension der frühen Traumatisierungen

Darum leben anfängliche Beeinträchtigungserfahrungen gefühlsmäßig als feindliche oder ängstliche Lebenseinstellungen in uns fort. Deshalb wird später das Bedürfnis nach Macht als Kompensation von Ohnmachts- und Unwerterfahrungen so wichtig, und zwar sowohl in der Familie wie auch auf der gesellschaftlichen Ebene. Auf dem Hintergrund dieser Bedingungen kann es bei Schwierigkeiten eine Lösung nur durch Gewalt geben, weil man sich beständig in einer tödlichen Bedrohung oder einem Überlebenskampf befindet. Die traumatischen Frühbe-dingungen waren im emotionalen Erleben, das in hintergründiger Weise durch das noch wirksame traumartige Erleben der frühen Entwicklung bestimmt wurde, immer noch präsent und bestimmten die Wahrnehmung und Verhalten. Der frühe Mangel wird als Selbsthass verinnerlicht, der dann die Ursache für den Fremdhass ist. Der Feind war der eigene „böse Junge“ oder sogar der Untermensch, als den man sich dem autoritären Vater gegenüber erlebt hatte. Diese Zusammenhänge prägen noch wesentlich die Dynamik des Ersten und Zweiten Weltkriegs, wo mittelalterlich geprägte Kaiser und moderne Diktatoren in Gewalt und Bedrohung die einzige Handlungsoption bei Schwierigkeiten sahen. Deshalb geht es bei den Kriegshandlungen nicht eigentlich um Kämpfe, sondern eben um Mordaktionen, um die eigene Vernichtung abzuwenden.

 

 

Krieg traumatisiert auch die ungeborenen Kinder

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Solche tiefen Traumatisierungen durch die mangelnde Einfühlung in die Kinder vor, während und nach der Geburt und durch die gewaltgeprägten Erziehungspraktiken – eine Tracht Prügel hat noch niemandem geschadet-, wozu in unserer Geschichte noch die Traumatisierungen der überlebenden Soldaten im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg kamen, prägten die deutsche Gesellschaft und führten zu der Naziherrschaft, in der ich noch meine ersten Lebensjahre verbrachte. Sie prägen in ähnlicher Weise die heutige russische Gesellschaft, wesentlich durch die russische Gewaltgeschichte, was man mit dem Ausdruck von der Leidensfähigkeit der russischen Menschen verbrämte, aber auch durch die ungeheuerlichen Gräueltaten des deutschen Vernichtungskrieges.

Überlegungen zum aktuellen Kriegsgeschehen in der Ukraine

Und damit komme ich zu dem aktuellen Kriegsgeschehen: Putins Eltern lebten im von der deutschen Armee praktizierten Vernichtungskrieg durch Aushungern der Bevölkerung Leningrads, dem die Hälfte der Bevölkerung zum Opfer fiel. Putins Mutter soll dem Tode nahe gewesen sein, Putins Vater verlor fünf ältere Brüder und hatte eine schwere Kriegsverletzung. Beide Eltern waren also schwer traumatisiert und wir wissen heute, dass dies transgenerational an die Kinder weitergegeben wird. Diese Traumatisierung Putins steht in elementarer Wechselwirkung mit der schweren Traumatisiertheit der russischen Gesellschaft, einerseits aus ihrer Geschichte von Gewaltherrschaften, andererseits durch das Kriegsgeschehen. Durch den Sieg im „vaterländischen Krieg“ sind diese traumatischen Zusammenhänge in der Wahrnehmung der russischen Gesellschaft weitgehend verdeckt und können sich deshalb unmittelbar in Reinszenierungen tranceartig wiederholen.

Man kann es auch so sehen, dass die Vorgänger Putins aus der Erfahrung des Überfalls durch die deutsche Armee noch aus der unmittelbaren Lebenserfahrung um die Schrecken des Krieges wussten, während Putins selbst diese Erfahrung nicht mehr hatte, aber aus der unbewussten Weitergabe der Traumatisierungen Eltern reagiert. Dazu passt, dass er mit seiner “Spezialoperation“ angeblich den von den ukrainischen Faschisten geplanten Genozid an der russischen Bevölkerung verhindern will. Real wurde der Genozid an der russischen Bevölkerung von den deutschen Faschisten geplant und ausgeführt.

Krieg als destruktiver Transformationsprozess

Dazu kommt noch ein weiterer Gesichtspunkt: zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommt es typischerweise dann, wenn die Mehrheit der Bevölkerung durch frühe Traumatisierungen und ungünstige Lebensbedingungen in ihrer Entwicklung zum verantwortlichen Erwachsenen blockiert ist. Dann löst ein technischer und kultureller Fortschritt mit der damit verbundenen Notwendigkeit zu einer inneren Reifung und Transformation elementare Ängste und aggressive Affekte aus der Anfangszeit des Lebens aus, die dann im Kriegsgeschehen reinszeniert werden. So ist der wirtschaftliche und kulturelle Aufschwung Anfang des 20. Jahrhunderts und die damit verbundene Notwendigkeit einer liberaleren und verantwortlicheren Identität ein Hintergrund für den Ersten Weltkrieg, weil die noch mittelalterlichen Herrschaftsstrukturen und die damit verbundenen autoritätsorientierten Mentalitäten in Mitteleuropa überwunden werden mussten, was nur über die militärische Niederlage akzeptierbar war. Auch die demokratischen Struk-turen der Zwanziger Jahre waren für die Mentalität der konservativen Mehrheit so etwas wie eine tödliche Bedrohung ihrer Lebensform, einer Lebensform, die aber nicht mehr zu den in einer modernen Gesellschaft erforderlichen Fähigkeiten zu einem selbstverantwortlichen Handeln passten. In diesem Sinne kann man die beiden Weltkriege und auch das jetzige Kriegsgeschehen in der Ukraine als aggressiv entgleiste Initiationsprozesse verstehen.

Wegen der Unreife bei der Geburt sind wir in elementarer Weise von den Eltern abhängig und benötigen ihren Schutz und ihre Bestätigung, um ein kohärentes Selbstgefühl entwickeln zu können. Daraus folgt, dass die Gesellschaften sich um Bedingungen bemühen müssen, unter denen eine solche begleitete und unterstützte Entwicklung der Kinder zu reifen Jugendlichen und Erwachsenen möglich ist. Das Wissen dazu ist heute vorhanden. Damit kann es auch möglich sein, die mit Veränderungen verbundenen Ängste und Schmerzen innerlich zu verarbeiten.

Die Rolle von frühen Traumatisierungen wird immer noch gravierend unterschätzt. Das hier vorgetragene entwicklungspsychologische und psychohistorische Wissen soll die hier wirksamen Kräfte weiter unterstützen können. Dabei ist wichtig, dass zur wirklichen persönlichen Reife sowohl ein integratives Erleben der eigenen Lebensgeschichten gehört, wie auch ein Verständnis der kollektiven Geschichte der Mentalitäten, deren Verarbeitung auch eine große innere Anstrengung erfordert. Zurzeit dominiert mehr ein Wissen zu den äußeren geschichtlichen Geschehnissen, während das Wissen um die innere Dynamik der geschichtlichen Identitätsentwicklung zur Zeit noch ganz auf die psychohistorischen Gruppen beschränkt erscheint. Dadurch besteht aber gegenüber dem aktuellen Kriegsgeschehen in der Ukraine die Gefahr, dass die westlichen Staaten in ein Gegenagieren kommen, weil eigene traumatische Verformungen der Affektivität wieder belebt werden und man gefühlsmäßig in den Sog des Kriegsgeschehens hineingezogen wird, während es gerade darauf ankommt über die Einsicht in die geschilderten Hintergründe des Geschehens dieses in einer besonnenen und umsichtigen Weise zu begleiten und konstruktive Aspekte zu unterstützen. Hierfür wäre die Einrichtung eines Thinktanks mit psychohistorischer Kompetenz zur Beratung der Politik dringend zu fordern.

Wie dringlich das ist, zeigt die Beobachtung, dass nicht vor zu langer Zeit der amerikanische Präsident Reagan in tranceartiger Weise einige Staaten, wie dies Phantasierollenspielen üblich ist, als „Schurkenstaaten“ kategorisieren konnte, gegen die man unnachgiebig vorgehen müsse. Aus diesen Trancen führten die USA mehrere Kriege, wie dies Putin heute mit der trancehaften Wahrnehmung der Ukraine, die an der russischen Bevölkerung einen Genozid verüben will. Die vorgeschlagenen Thinktanks könnten solche Trancen wahrnehmen und reflektieren und vor allem reflektieren, wie man sinnvoll mit Gesellschaften umgeht, die sich in solcher Trance befinden. Ich sehe nicht, wie das ohne die hier vorgetragene Einbeziehung psychologischer und psychohistorischer Aspekte gehen soll.

Ergänzende Informationen: Link zu dem ausführlichen Artikel „Warum Krieg?“ mit allen Angaben zur Literatur in der Y-Zeitschrift für atopisches Denken: https://www.ypsilon-psychoanalyse.de/tribuene/84-warum-krieg; ebenfalls speziell zur Ukraine: Janus L (2022) Überlegungen zu den psychologischen und psychohistorischen Hintergründen des Krieges in der Ukraine und von Kriegen allgemein. Dynamische Psychiatrie Vol. 55, Heft 5-6: 251 – 262.

Weitere Informationen über die folgenden Webseiten: www.Ludwig-Janus.de, www.praentalpschologie.de, www.psychohistorie.de, www.isppm.de, www.psychohistory.com und www.birthpsychology.com.

Verfasser: Dr. med. Ludwig Janus, Psychoanalytischer Psychotherapeut, Pränatalpsychologe und Psychohistoriker aus Dossenheim, E-Mail: janus.ludwig@gmail.com

 

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