Was bedeutet es, aus der eigenen inneren Wahrheit heraus zu leben? Und was kann man tun, um das zu erreichen? Ein Interview von Susanne Homann mit Gundula Liebisch, die die Methode  Arbeit mit dem Wesenskern entwickelt hat.

Wie einfach wäre doch unser Leben, wenn es nur eine Wahrheit gäbe! Oder gibt es die vielleicht sogar? Gibt es eine tiefe innere Wahrheit, die uns lenkt und leitet, auf die wir bauen können, die uns nicht verlässt und uns Sicherheit gibt, die völlig unabhängig ist von Prägungen und Vorstellungen? Von unseren Konditionierungen, von Religion oder Kultur? Ja, es gibt sie! Wer diese Wahrheit dank der Arbeit mit dem Wesenskern einmal in sich entdeckt hat, steht mit beiden Beinen fest auf dem Boden seiner Realität und wird von ihr wie von einer unsichtbaren Hand ständig geführt.

Gundula, wenn ich fünf Menschen um Rat frage, bekomme ich oft fünf verschiedene Antworten, die sicher alle aufrichtig gemeint sind. Aber wie finde ich die für mich richtige Antwort?

Das kommt darauf an. In der Regel sind die meisten Menschen leider nicht mit ihrem tiefsten Inneren verbunden. Mit dem Teil, der alles weiß. Aber jeder Mensch trägt dieses ursprüngliche Naturell – so nenne ich es – in sich. Man könnte es auch als seine „Essenz“ bezeichnen. Das ist das, was jedem Menschen zu eigen ist, aber oft eben leider nicht entdeckt. Dazu kommt, dass dieses ursprüngliche Naturell in den meisten Fällen verfälscht wird durch frühkindliche Prägungen und Konditionierungen, zum Beispiel durch Familie, Kindergarten und Schule, später durch andere Erwachsene oder eben auch durch Religion und Kultur.

Aber wie finde ich dann heraus, was MIR wirklich entspricht, was für MICH wahr ist, damit es mir gutgeht?

Das Wichtigste ist erst einmal, dass ich das auch wirklich herausfinden möchte. Zu viele von uns sind in ihren Vorstellungen gefangen und tun – zum Teil über Jahrzehnte – Dinge, von denen sie glauben, dass sie zu ihnen gehören oder ihnen entsprechen. Wenn ich den Mut habe, auf das Wissen, die Wahrheit meiner Essenz zurückzugreifen, ihr zu vertrauen, werde ich Stück für Stück mehr an sie herankommen. Sie zeigt sich mir dann. Und dann kann ich beginnen zu hinterfragen: Ist das wirklich der Beruf, der mir entspricht? Aus MIR heraus? Bin ich am richtigen Wohnort? Lebe ich in einer Partnerschaft, die mir wirklich entspricht? Das Unglück vieler Menschen, mit denen ich seit über zehn Jahren arbeite, kommt daher, dass sie leider überhaupt nicht (mehr) hinterfragen, ob sie einen Zugang zu ihrem ursprünglichen Naturell haben, ja mehr noch, dass sie gar nicht wirklich darum wissen, dass es dieses Naturell gibt.

Wie kann ich denn mein Naturell, meine Essenz erkennen?

Über das Gefühl. Über das ureigene innere Gefühl, welches mit dem Körper verbunden ist. Die meisten Menschen sind jedoch von ihrer Physis abgeschnitten. Sie spüren weder wirklich ihren Körper noch ihre wahren Gefühle. Dadurch geben sie weder ihrem reichen Gefühlsraum noch ihrer Physis, dem „Tempel unserer Seele“, die notwendige Bedeutung, den Wert, der ihnen zukommt – selbst wenn sie regelmäßig Sport treiben oder sich um ihre Schönheit kümmern. Um seine Essenz zu erkennen, ist es notwendig, dass man wieder zu fühlen beginnt. Das hat nichts mit Gedanken oder Mentalem zu tun. Auch nicht unbedingt mit etwas Energetischem, auch wenn dies sicher eine Rolle spielt. Es geht um ein tiefes inneres Gefühl, etwas, was ganz mit mir verbunden ist. Mit mir als dem Menschen, der ich jetzt bin, in diesem Körper. Dort muss man ansetzen. Insbesondere am Becken, denn dort ist das Naturell verankert. Weil sie glauben, dass dieses Naturell nicht in Ordnung ist, halten die meisten Menschen dort besonders fest, haben dort auch die stärksten Ängste.

Wie kann ich dieses Naturell befreien, ganz praktisch?

Körperarbeit ist hier ein guter Ansatz, denn sie hilft, den Körper zu öffnen. Aber es sollte eine Arbeit sein, die wirklich tief geht, die den Menschen ganz erreicht. So kommt er langsam an seine – verdrängten – Gefühle heran. Und wenn diese Gefühle auch von dem behandelnden Therapeuten ernst genommen werden, fühlt sich der Mensch gesehen und erkannt. Dann beginnt er, seinen Empfindungen ganz langsam wieder mehr zu vertrauen. Dadurch kommt er in Kontakt mit sich selbst, seiner Essenz und seiner inneren Wahrheit. Das ist für viele eine unglaubliche Erleichterung, oft eine regelrechte Befreiung.

Aber warum machen Menschen dann überhaupt erst zu und unterdrücken damit ihre Wahrheit?

Die meisten von uns glauben – und das ist ganz tief verankert, leider – sie müssten ihr wahres Naturell verbergen. Sie haben oft schon sehr früh gelernt, dass es keinen Platz hat, nicht sein darf, nicht erwünscht ist. So haben sie begonnen, eine Rolle zu spielen – und natürlich eine, von der sie gespürt haben, dass sie in allen Lebensbereichen gut funktioniert. Für viele ist diese Rolle sogar schon zu einer Identität geworden. Das ist sehr tragisch, denn so begegnet man sich nicht mehr von wahrem Naturell zu wahrem Naturell, sondern von Rolle zu Rolle, von Maske zu Maske. Und man hat – wie eben schon erwähnt – sogar Angst vor dem Wahren. Und das geht in alle Bereiche hinein: in die Partnerschaften, Familien, Firmen und Betriebe, ja bis in die Politik.

Wie sähe das zum Beispiel in einer Partnerschaft aus?

Nehmen wir eine Frau, die sich einen Partner wünscht. Wenn sie ihr natürliches Naturell nicht kennt oder verbirgt, wird sie nach einem Partner Ausschau halten, der dies ebenso tut. Das heißt, ihre Maske trifft auf die Maske des Mannes. Wenn eine Partnerschaft beginnt, versuchen beide, ihre Masken aufrechtzuerhalten. Das schafft mit der Zeit großes Leid, denn die Wahrheit beider Personen kann nicht leben. So versiegt die Liebe oder zeigt sich erst gar nicht richtig, denn Liebe ist immer mit der Wahrheit verbunden, ja, sie basiert auf ihr.

Und was wäre im besten Falle möglich?

Wahrheit, Glückseligkeit und Liebe – wenn beide ihr wahres Naturell zeigen und leben. Dann geht es auch nicht mehr darum, ob man „zueinander passt“, sondern dass die Essenzen resonieren. Geschieht das, gibt das Auftrieb, Inspiration, Kraft und Energie im Miteinander. Man lässt den anderen, so wie er wirklich ist, und zeigt sich selbst ebenso. Und wenn man spürt, dass sich die Beziehung verändern muss oder dass die gemeinsame Zeit vielleicht zu Ende geht, dann spüren es beide. Dann gibt es auch kein Leid, dieses ewige Hin und Her, dieses unbedingte Festhalten aneinander, sondern beide spüren die Wahrheit. Das wird beiden gut tun und lässt sogar Liebe in einer Trennungssituation fließen. Das fühlt sich wunderbar an, sehr leicht und frei.

Hilft die Verbindung zur inneren Wahrheit auch im Bereich der Gesundheit?

Unbedingt, ich würde sogar sagen, sie ist essentiell wichtig dafür. Denn was passiert mit einem Menschen, der seine innere Wahrheit verdrängt? Er arbeitet gegen seine wahre Natur, und das ist fatal. Wir wissen, dass in jedem Menschen Energie fließt, pure Lebensenergie. Wenn diese Energie nicht frei fließen kann, fängt sie an zu stauen. Es entwickeln sich Blockaden, diese führen oft zu Schmerzen. Dann werden leider oft die Schmerzen durch Medikamente unterdrückt, damit man sich besser fühlt, aber damit fließt die Energie noch nicht. Es wäre viel wichtiger herauszufinden, warum und wo die Energie blockiert ist. Das heißt: In welchem Bereich bin ich mit meiner inneren Wahrheit nicht im Einklang? Und hier sind wir wieder bei den Gefühlen. Krebs ist meines Erachtens die stärkste Unterdrückung der Lebensenergie, hier wird die eigene nicht gelebte Wahrheit am stärksten sichtbar. Wenn diese Menschen gelernt hätten, zu fühlen und damit auf sich zu hören, wären viele solche Diagnosen vermeidbar oder zumindest erste Blockaden schon im Vorfeld viel besser erkennbar.

Das bedeutet, sich immer und in jeder Situation ganz ernst zu nehmen?

Unbedingt! Vor allem die Gefühle. Sich immer wieder zu fragen, ob das, was man tut, wirklich der inneren Wahrheit entspricht. Und dann Dinge langsam verändern, richtigstellen. Für SICH. Und keine Angst davor haben. So viele Menschen haben Angst vor Veränderungen und bleiben in ihren Sicherheitszonen. Dies ist verständlich, nur bringt es sie nicht weiter. Hier möchte ich Mut machen: Veränderungen sind nichts Schlimmes, sie können Spaß machen. Sie machen das Leben leichter und viel erfüllender.

Wie kannst du da so sicher sein?

Weil ich es selbst erlebt habe. Ich habe vor Jahren in einer Körperarbeit, in der ich ganz tief mit mir verbunden war, plötzlich mein wahres Naturell, mein Wesen, meine Essenz gesehen, und erkannt, dass ich ganz anders bin, als ich zu sein dachte. Das hat mich sehr erschreckt, weil ich das Gefühl hatte, ich verliere meine Identifikation, meinen Anker, alles. Es hat mich zutiefst bedroht, aber ich hatte den Mut, weiter zu gehen, Schritt für Schritt. Und heute kann ich sagen: Es hat sich gelohnt. Kann man erkennen, dass ein Mensch seine innere Wahrheit lebt, mit ihr verbunden ist? Ja, denn er wird eine ganz positive Ausstrahlung haben, ehrlich und wahr. Er handelt und lebt authentisch – und das spürt man. Und für jeden, der sich so etwas wünscht, ist es eine Freude, solch einen Menschen um sich zu haben, denn er steckt an und macht Mut, selbst auch so zu sein und zu leben.

Kann denn eine Gesellschaft, in der jeder seiner Wahrheit folgt, funktionieren?

Natürlich, gerade dann erst richtig. Dann käme überhaupt erst ein Fluss hinein. Viel Überflüssiges würde wegfallen, alles Materielle bekäme einen wirklichen Wert und Beziehungen würden erblühen. Wenn das von Anfang an gelehrt und gelebt würde, dann hätten wir eine andere Welt …

Vortrag „Die Bedeutung der inneren Wahrheit für Gesundheit und Wohlbefinden“
Mi, 22.11.2017, 19.30 Uhr Ort: Bodhicharya Deutschland e.V., Kinzigstr. 25-29, 10247 Berlin. Der Eintritt ist frei. Referentinnen: Gundula Liebisch, Dr. Lydia Koch, Fachärztin für Innere Medizin und Kardiologie, AMW-Therapeutin

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