Innenwelten – die Kolumne von Ronald Engert

Auf einer Pilgerreise in Indien an die heiligen Stätten des Krishna-Lilas (des göttlichen Spiels) in Vrindavana machte ich die Erfahrung, was materialistisches Bewusstsein und was spirituelles Bewusstsein ist.

Die Pilgerreise ging über vier Wochen und führte täglich zu verschiedenen heiligen Orten, die wir entweder zu Fuß oder per Bus erreichten. In jedem Fall waren es aber lange, beschwerliche Wege durch staubige und teilweise schmutzige Gegenden.

Nordindien ist ein armes Land, und nur wer schon einmal dort war, weiß, dass man es nicht mit dem wirtschaftlich entwickelten Westeuropa vergleichen kann. Die Pilgerreise  war entsprechend anstrengend und entsagungsreich, denn karge Unterbringung, karge Verpflegung, frühmorgendliche Kälte, die im Laufe des Tages von starker Hitze abgelöst wurde, klapprige Busse, die über Staubpisten mit Schlaglöchern holperten, offene, stinkende Abwasserkanäle, Moskitos, Verkehrslärm und die Abgase von uralten Fahrzeugen und Generatoren machten es schier unmöglich, eine angenehme, genießbare Situation zu finden. Es gab nichts zu genießen, kein schöner Strand, kein gutes Essen, keinen bequemen Schlafplatz, kaum unberührte Natur, kaum frische, saubere Luft, keine Ruhe.

Auf der Pilgerreise ging es aber nicht ums Genießen, es war kein Urlaubstrip. Es ging um spirituellen Fortschritt, um Erleuchtung und Transzendenz.

Zunächst wollte ich meine unabhängige Genießerhaltung nicht aufgeben, diese Haltung des Egos, das die Objekte beurteilt und annimmt oder ablehnt – gut oder schlecht, genießbar oder ungenießbar. Das ging eine Weile, aber ich musste immer mehr leiden, weil es keine genießbaren Sinnesobjekte gab und die Sinne nicht befriedigt werden konnten. Ich sah nur die materiellen Bedingungen und die waren praktisch ungenießbar. Ich wurde krank, bekam Fieber, Schweißausbrüche, Magen-Darm-Probleme. Mein Geruchssinn wurde überempfindlich.

Der Weg durch die Stadt führte an einer Kloake vorbei, ich musste mich fast übergeben von dem Geruch. Überall nahm ich nur noch Kloaken, Abgase, Kot, Müll, Lärm und Menschenmassen wahr. Der reinste Horror. Mein Glaube an Krishna existierte nicht mehr. Ich hatte keine Beziehung mehr zu ihm, ich empfand ihn als grausamen Gott. Ich war aber doch mit spirituellen Motiven aufgebrochen und hatte den weiten Weg ins heilige Land gemacht. Warum machte er es mir so schwer?

Am nächsten Morgen blieb ich der Pilgerfahrt fern und wollte auf eigene Faust los, um mir einen schönen Tag zu machen. Ich begab mich zum Govardhana-Hügel um spazierengehen. Dort ist eine schöne unberührte Natur, wenig Menschen, kein Verkehr, keine Umweltverschmutzung, kein Lärm – hier schien das Genießen wieder möglich, wenn auch in sattva-guna, in der Erscheinungsweise der Tugend. Aber ich hatte mich geirrt. Eine Horde bettelnder Kinder umringte mich, redete auf mich ein, zerrte an meinen Kleidern, verfolgte mich. Ich war gereizt, wollte nichts geben. Es wurden immer mehr, bis ich umkehren musste.

Govardhana ist ein heiliger Berg, der heiligste Ort Krishnas. Diese spirituellen Orte lassen sich nicht ausbeuten, lassen sich nicht in der materialistischen Konsumhaltung genießen. Man muss zu ihnen beten und sie verehren, das eigene Ego zurückstellen und sich hingeben. Dann offenbart sich Gott und gibt ewiges Sein, Wissen und Freude.

An einem derart spirituellen Ort kommen alle schlechten Charaktereigenschaften und alle Vergehen deutlich an die Oberfläche. Man kann nichts vertuschen und sich selbst nichts vormachen. Ich sah in meinen eigenen Abgrund, sah meinen Egoismus, meine ausbeuterische Haltung, meine Genusssucht und meinen Neid auf Krishna. Meine ganze Identität schien auf selbstischen Konzepten zu beruhen. Es gab keinen Funken von spirituellem Bewusstsein.

Ich kehrte also um und begab mich in unseren Tempel. Ich wusste, dass es so nicht weitergehen konnte. Mein Ego war in die Ecke getrieben worden. Es wehrte sich noch dagegen, zu sterben, aber es gab keinen Ausweg mehr. Keinen Ort, nirgends. Eine Ahnung meldete sich wieder: seva (Dienst). Nur wenn ich anfangen würde zu dienen, den Gottgeweihten und Krishna Dienste darzubringen, hätte ich eine Hoffnung, auf die spirituelle Ebene zu kommen.

Als ich im Tempel ankam, war ich völlig genervt und verzweifelt. Die Devotees dort waren mir fremd, ich fühlte mich fremd, niemand beachtete mich. Ich traf aber einen deutschen Freund und vertraute mich ihm an. Er machte einen sehr banalen Vorschlag: „Hilf uns doch einfach, nach dem Mittagessen den Boden zu wischen.“

Ich wischte also nach dem Essen mit den anderen den Boden des Speisesaals. Und da kam der Umschwung. Plötzlich erfuhr ich die Transzendenz, das Jenseits von der materiellen Bedingtheit. Plötzlich ging es mir super gut. Alles war wie ausgewechselt. Die anwesenden Menschen schauten mir in die Augen und lachten mit mir. Es wurde mir warm ums Herz und ich war ganz ruhig und glücklich. Bhakti-devi, die Göttin der transzendentalen Liebe, war da und gab mir ihre Barmherzigkeit.

Bhakti funktioniert nur, wenn man sich hingibt. Im heiligen Land ist das real, man kann nicht so tun als ob, es ist keine mentale Simulation möglich. Entweder man tut es, oder man leidet. Man leidet, weil es keinen Ausweg, kein Ausweichen gibt. Es gibt nichts zu genießen, denn dieser Ort schützt sich durch diese ungenießbar erscheinenden Umstände. Als ich den Berg Govardhana genießen wollte, hat er durch die Kinder sofort abgeblockt.

Erst als ich die Genießerhaltung aufgab, kam Bhakti-devi, trug mich und gab mir Freude, Kraft, Liebe. Nun passte alles. Alles fügte sich, ich bekam ein Gefühl des inneren Friedens, meine Seele war glücklich.

Von da ab berührten die Umstände mich nicht mehr. Ich fühlte Hitze, Hunger, Unbequemlichkeit, Müdigkeit, Lärm und Gestank nicht mehr, oder wenn, dann störte es mich nicht. Die Sinneseindrücke und die Frage, ob sie angenehm sind oder nicht, wurden unbedeutend.

In bhakti spielt das alles keine Rolle. Es ist die totale Freiheit. Bhakti, die liebevolle, dienende Hingabe, ist besser als Genießen, es ist die größere Freude, und man ist unabhängig von den äußeren Umständen, die ja alle auf Sinneswahrnehmung beruhen.

In bhakti passieren andere Dinge, andere Fügungen, plötzlich ist Raum für Begegnungen, für „Zufälle“. Es kommt ein starkes Gefühl der Kraft. Luzides Hören und Sehen, gesteigerte Konzentrationsfähigkeit, Unabhängigkeit von Essen und Schlafen, Offenbarungen aus der Seele stellen sich ein. Ein immer wiederkehrendes Symptom ist die ekstatische Glückseligkeit, ein Glücksgefühl, wie man es aus der körperlichen und mentalen Ebene gar nicht kennt, begleitet von Tränen der Freude und weiteren ekstatischen Symptomen, die sich auf höheren Stufen manifestieren können, wie stockende Sprache, aufgestellte Körperhaare, Zittern, Erbleichen, unkontrolliertes auf dem Boden Wälzen und Ohnmacht.

Nach dem Vortrag des spirituellen Meisters berührte ich seine Füße mit meiner Stirn. Sofort durchfuhr mich ein elektrischer Schlag und ich war in Glückseligkeit. Ich stellte mich draußen an die Stelle, wo er vorbei kommen sollte. Als er kam, blickte er mir in die Augen. Den Devotee vor mir fragte er noch, wie es ihm ginge, mich blickte er nur an, bei uns war alles klar. Ich war drin. Endlich bhakti, endlich Gnade.

Alles war plötzlich gut. Ich weinte vor Glück. Schloß die Augen, stand da, genoß den Zustand.

Ich war nicht mehr müde oder hungrig. Die äußeren Umstände veränderten sich, sie dienten bhakti. Ich war ekstatisch, glücklich, hellwach. Ich stand da, lange. Laute Musik dröhnte von drinnen, aber ich genoß es. Kein Problem. Nur Wohlgefühl, Weite, Glück.

Ich legte mich auf dem Dach des Tempels zu einem Mittagsschlaf hin. Ich hatte nur ein dünnes Tuch, das ich auf den nackten Beton legte. Vom Nachbargrundstück dröhnte Baustellenlärm, Gehämmer, elektrische Schleifmaschinen, Bohrmaschinen. Ich fühlte mich vollkommen ungestört. Mein Körper begann zu schlafen und sich zu erholen, aber mein Bewusstsein war wach und bekam alles mit. Später war ich unten im Hof und sprach mit einem Devotee. Auf seiner Stirn sah ich seine ganze Vergangenheit und Zukunft, seine Inkarnationen.

Ich ging vor den Tempel –  eine Straße mit grauenhaft viel Verkehr und Abgasen. Diesmal nahm ich die Straße wahr wie eine gemütliche Landstraße oder wie ein ruhiges Wohnzimmer. Menschen kamen auf mich zu und sprachen mit mir, die mich vorher nicht beachtet hatten. Es war alles gut.

Ich führte nun täglich seva aus. Von da ab wurde es jeden Tag besser, das tiefe, innere Wohlgefühl nahm zu. Die ganze Gegend erschien mir nun in einem ganz anderen Licht. Nichts war mehr übrig von meiner kritisierenden, selbstmitleidigen, mit meinem Schicksal hadernden Stimmung, von meiner Genießerhaltung und meinem Versuch, mit dieser Reise mein Ego zu befriedigen.

Ich hatte nach bunten Glasscherben gesucht – und Juwelen gefunden.

 

 

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