Im Südosten vor den Toren Berlins, am Weinberg von Gräbendorf mitten im Naturpark Dahme-Heideseen, wurde ein gemeinnütziger Kompassgarten gegründet.

Von Lothar Gütter

Der fruchtbare, tonhaltige Mergelboden des ehemals königlichen Weinbergs sowie der seit über zwanzig Jahren über mehrere hundert Hektar praktizierte biologische, pestizidfreie Ackerbau rings um den Garten bieten ideale Voraussetzungen für ein tiefenökologisches Experiment. Die achteckige, symbolträchtige Grundstruktur des Kompassgartens mit einem Durchmesser von hundert Metern und 96 trapezförmigen Gartenflächen wurde seit dem Frühjahr 2016 bereits angelegt und ist im Luftbild eindrucksvoll erkennbar.

Zwei Jahre Entwicklungszeit und manche Auseinandersetzungen waren notwendig, um die vertraglichen und organisatorischen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass dieses anspruchsvolle Projekt auf solider gemeinschaftlicher Basis in Form eines gemeinnützigen Vereins in die Tat umgesetzt werden kann. Nun freut sich unser tiefenökologisches Gartenexperiment („Global denken – lokal handeln“) auf Gärtnerinnen und Gärtner, die bei der kreativen Gestaltung in gemeinschaftlicher Atmosphäre mitwirken möchten.

Vielfalt in Verbundenheit

Der achteckige Kompassgarten erinnert in Form und Gestalt an die Anfänge menschlicher Zivilisation. In früheren Zeiten, als es noch keine Kompasstechnik gab, orientierten sich die Menschen am Sternenhimmel. Der hell leuchtende Polarstern oder auch unser Nachbarplanet Venus bildeten das Leitsystem am Firmament. In der sumerischen Keilschrift hat sich der achtstrahlige Stern, die Venus, in Gestalt der Göttin Innana als Zeichen für die göttliche Liebe sedimentiert. Die aus diesem achtstrahligen Stern hervorgehende geometrische Figur des Oktogons findet sich in allen Kulturen der Welt als universales Symbol für den Aufbruch zur Vollkommenheit und die universale Einheit in der Vielfalt der Erscheinungen – so im nordamerikanischen Medizinrad, im buddhistischen Rad des achtfachen Weges („Dharma Chakra“), im hinduistischen Lakshmi-Stern, dem keltischen Jahreskreis oder der vielfältigen oktogonalen sakralen Baukunst in Judentum, Christentum und Islam.

Diese kulturübergreifende Symbolik des nach Vervollkommnung strebenden, zirkulär organisierten Oktogons weist unser Gartenprojekt als einen – bildlich gesprochen – Akupunkturpunkt zur Heilung der Erde aus. Alle 96 Teilgärten sind trapezförmig zum Zentrum der Gartenanlage ausgerichtet. Wir wollen mit dem Kompassgarten Verbindung schaffen und Getrenntheit überwinden. Mit dem im Internet sichtbaren Luftbild in der Landschaft setzen wir ein eindrucksvolles lokales Zeichen für globale Verbundenheit und Verantwortung – und die täglichen Nachrichten über den Zustand unseres Planeten und der Biosphäre bestärken uns in diesem gemeinsamen Schritt, global verantwortlich zu denken und lokal zu handeln. Es geht uns um gemeinsam gelebte und erlebte Nachhaltigkeit. Aus tiefenökologischer Sicht sollte unser tägliches Handeln so gestaltet sein, dass wir die Lebensgrundlagen unserer Kinder und Kindeskinder bewahren. Im Zeitalter zunehmender Digitalisierung geschieht dies durch Erdung und Rückführung in den Kreislauf der Natur als der Basis alles Lebendigen.

Wiederverwurzeln

Nach den Erkenntnissen des Quantenphysikers und Philosophen Hans-Peter Dürr gibt es keine abgegrenzte Materie oder Energie, sondern einzig Verbindung in der Welt. Und diese Verbindung wird durch unser aktives Bewusstsein nicht nur wahrgenommen, sondern auch von uns als Subjekt selbst hervorgebracht. Wir alle sind Schöpfer unserer Wirklichkeiten. Beim Ackern und Gärtnern lässt sich diese Tiefenerfahrung der Verbundenheit hautnah und mit allen Sinnen erleben. Die Berührung der Hände mit dem Erdreich hat unmittelbar inspirierende Wirkung. Der in digitalen Ersatzwelten verlorene Mensch der Großstadt erlebt und erinnert sich an das Elementare – denn aus der Erde sind wir hervorgegangen und wir werden in die Unschuld der Erde zurückkehren. Erdung ist daher eine der zentralen Forderungen für nachhaltige Bildung.

Im Zeitalter zunehmender Digitalisierung und lähmender Reizüberflutung stellt sich der Gang aufs Land gewissermaßen als ein Akt der Befreiung dar. Back to the roots – wir dürfen uns wiederverwurzeln und unsere entgrenzten Gedankenwelten rückführen in die Geborgenheit der Natur. Die digitale Technik liefert uns wiederum wichtige Informationen und Kommunikationsnetze, um unser lokales Nachhaltigkeitsprojekt in die Welt zu tragen. Wir nutzen eine Gärtner-App, um uns über die Vielfalt der Gartenwelt zu informieren. Erdung und digitale Kommunikation können sich so auf schöpferische Weise ergänzen.

Gärtnern mit dem I Ging

Das Oktogon findet sich auch im Jahrtausende alten I Ging, dem „Buch der Wandlungen“, dem eine universalistische Philosophie zugrunde liegt. Die Lebensenergie Chi – im Zentrum des Gartens als Drachenbaum dargestellt – teilt sich dualistisch in Yin und Yang und dann weiter in die vier Himmelsrichtungen, die sich wiederum in acht Trigramme auffächern: Himmel, Erde, Wasser, Berg, Donner, See, Wind und Feuer. Jedes der acht Trigramme gliedert sich wiederum in insgesamt 64 Hexagramme, die – europäisch betrachtet – einer Kompassrose ähneln. Die 64 Hexagramme stehen für die in Trennung befindlichen Seinszustände, die jedoch in der Tiefe immer universal verbunden sind. Wer mag, wirft mit Münzen oder Stäben ein I-Ging-Orakel und erhält so ein Lebensthema, mit dem man nun ein Gartenjahr beschäftigt ist. Im I Ging geht es immer darum, das universale Fühlbewusstsein zu entdecken, das uns die Verbundenheit allen Seins in der Verschiedenheit sinnbildlich vor Augen führt.

Das Hexagramm 11 („Thai – der Frieden und die Durchdringung“) beispielsweise erinnert uns daran, dass wir trotz allen Streits und Zwiespalts in der Tiefe unseres Wesens von Frieden und Liebe durchdrungen sind. Gärtnern im Kompassgarten ist ein tiefenökologischer Erkenntnisprozess. Wir arbeiten mit Kopf, Herz und Hand und stellen uns den Herausforderungen auf der Suche nach Verbundenheit. Denn Trennung ist in der Tiefe immer getragen vom Wunsch nach wirksamer Begegnung in Frieden und Liebe.

Bewahrung der Vielfalt

Der Kompassgarten am Weinberg von Gräbendorf soll sich zu einem nachhaltigen Lern- und Erfahrungsraum entwickeln, der vor allem auch von Kindern und Jugendlichen genutzt wird. In pädagogischer Hinsicht stellt der Kompassgarten ein Raum-, Zeit- und Handlungskontinuum dar. Er ist Kompass und Kalender zugleich. Die acht Himmelsrichtungen ergänzen sich mit den acht kosmischen Jahresfesten. Und als Handlungsraum fungiert die rotierende Acht-Felder-Wirtschaft mit sieben Pflanzenfamilien und einem Kompostbereich: Wurzelgemüse, Kohl, Blatt – gemüse, Salate, Tomaten und Paprika, Kräuter und Kürbisse/Gurken/Zucchini werden ergänzt durch einen achten Bereich, wo Humus und Terra Preta (Schwarzerde) hergestellt werden. Das unserem gemeinnützigen Verein zur Verfügung stehende Land wird seit über zwanzig Jahren biologisch und pestizidfrei bewirtschaftet. Beim vorgefundenen Erdreich handelt es sich um mineralreichen Geschiebemergel mit Bänderton und märkischem Sand, der von unserem Team durch selbstproduzierte Terra Preta aus Pflanzenkohle und Teichschlamm angereichert werden soll.

Gemeinsam gärtnern

Unsere 64 GärtnerInnen verfügen im äußeren Ring über einen eigenen Hexagramm-Garten mit einer Größe von zirka 35 Quadratmetern. Hier kann sich jeder individuell gärtnerisch betätigen. Die 64 GärtnerInnen sind in acht Trigramm-Gruppen organisiert und übernehmen im mittleren Ring des Kompassgartens Patenschaften für seltene alte Gemüse- und Kräutersorten. In den Supermärkten finden sich nur noch ganz wenige, standardisierte Gemüsesorten, die zur Weiterzucht meistens nicht geeignet sind. Wir bauen nur alte, samenfeste Sorten an – mit dem Ziel der Weiterverbreitung. Wer weiß schon, dass ein einziger geschossener Kopfsalat Tausende neue Samen hervorbringt? Ein Achterteam im Trigramm Erde beispielsweise züchtet mehrere Dutzend alte, samenfeste Tomaten-, Paprika- und Chilisorten. Die Ernte steht dem Gärtnerteam zum größten Teil zur Eigennutzung zur Verfügung. Einzelne Pflanzen werden dazu verwendet, die Samenkerne zu ernten und in unserer Sämereienbank zu hinterlegen. Tüten mit Sämereien und vorgezogene Pflanzen wiederum werden an interessierte Menschen weitergegeben. So leisten wir unseren regionalen Beitrag für die Erhaltung der globalen Artenvielfalt.

Außerschulische Lernstätte

Die Idee des Kompassgartens hat auf einem Berliner Schulhof bereits ihren formvollendeten Ausdruck gefunden. Im letzten Jahr wurde für den Kompassgarten der KreativitätsGrundschule in Berlin-Karlshorst die renommierte Peter- Joseph-Lenné-Medaille für Gartenbau und Gartenkunst verliehen und ein Preis für den schönsten Schulgarten Berlins vergeben. Was die Kinder und Jugendlichen auf dem Schulhof in Karlshorst bereits in kleiner Form erleben dürfen, können sie nun in viel größerer und weiterer Form in unserem Kompassgarten am Gräbendorfer Weinberg zu außerschulischen Projekttagen erleben. Raus aus dem Klassenzimmer heißt die Devise – im organischen Erfahrungsraum der Natur können wir unseren Kindern und Jugendlichen erlebte und gelebte Nachhaltigkeit hautnah vermitteln. Und die Erfahrung zeigt uns, dass im lebendigen Lernraum Natur auch echte und selbstwirksame Erfahrungen stattfinden können, die das traditionelle Lernen auf der Schulbank mit Buch und Arbeitsblättern unendlich bereichern. Als „Grünes Klassenzimmer“ und zukünftige Lehrerfortbildungsstätte bietet unser Kompassgarten fächerübergreifendes und projektorientiertes Arbeiten in vielen Facetten an.

Anreise: Mit dem PKW A113 Richtung Dresden, Abfahrt Bestensee, B 246 Regionalexpress bis Zeesen (stündlich) im ABC-Netz, Weiterfahrt mit Fahrrad oder Bus 724 bis Gräbendorf, Schwarzer Weg 1

Der gemeinnütziger Verein sucht noch Mitwirkende. Die Orientierung am I Ging geschieht auf freiwilliger Basis und ist nicht verbindlich. Aktionstage zum Kennenlernen immer samstags und sonntags von 10-18 Uhr Anmeldung über info@kompassgarten.de

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