Zwei Drittel des Planeten Erde sind von Wasser bedeckt, und doch leiden Millionen Menschen, zahllose Tiere und Ökosysteme unter Wassermangel. Der Grund liegt in einem falschen menschlichen Eingreifen in natürliche Abläufe. Eine noch kleine, aber global vernetzte Gruppe von Praktikern und Wissenschaftlern propagiert demgegenüber ein neues Wasser-Paradigma, das mit nur minimalen Interventionen auskommt. Die beste Garantie für Wassersicherheit sind demgemäß keine großen Staudämme, sondern einfachste, dezentrale Anlagen, die helfen, dass das Regenwassers langsamer versickert. Lokale Projekte aus verschiedenen Teilen der Welt zeigen bereits, wie ein anderer Umgang mit dem Wasser Wüstenbildung, Klimawandel und Kriege aufhalten könnte.

Von Leila Dregger

„Ich kenne die Ursache des Syrien-Krieges“, sagt der Mann mit dem ansteckenden Lachen und dem weißen Dhoti-Gewand. Es ist Rajendra Singh, 56, in seinem Land auch der „Wasser-Gandhi“ genannt. Im indischen Rajasthan initiierte der Doktor der Medizin eine Volksbewegung. Singh leitete die Bewohner verschiedener Dörfer dazu an, mehrere tausend (!) traditionelle, einfache, dezentrale Stauanlagen zu errichten, so genannte Yohads, die den Abfluss des Regenwassers verlangsamen. Das Ergebnis dieser schlichten Technik ist beeindruckend: Ein Gebiet von 6500 Quadratkilometern in der Nähe der Thar-Wüste wurde wieder fruchtbar, der Grundwasserspiegel stieg von 100 auf 12 und 13 Meter, 1000 Dörfer haben wieder Wasser, fünf versiegte Flüsse fließen wieder ganzjährig.

Die landwirtschaftliche Ernte hat sich verfünffacht, die Männer müssen ihre Arbeitskraft nicht mehr anderswo in Städten anbieten, um ihre Familien zu ernähren – und um Wasser zu holen, brauchen die Frauen nur noch bis zum Dorfbrunnen zu gehen. Die Einwohner schlossen sich zu Fluss – parlamenten zusammen und treffen alle Entscheidungen über Wasser und Abwasser gemeinsam. Bergbau und Abholzungsfirmen haben hier keine Chance mehr. Für seine Errungenschaften wurde Rajendra Singh der renommierte Stockholm-Wasserpreis verliehen, die britische Zeitung „Guardian“ wählte ihn zu einem der fünfzig einflussreichsten Menschen der Erde.

Seit Jahren bereist er die Welt und berät Menschen, Dörfer und Regionen in ähnlichen Situationen. Mit Blick auf Syrien ist er sicher: „Die Ursache des Krieges ist nicht Religion und nicht Terorismus, es sind die Staudämme des Euphrat in der Türkei.“

Missmanagement zwischen Euphrat und Tigris

Tatsächlich gibt es seit über vierzig Jahren Auseinandersetzungen um die Flüsse, die aus der Türkei nach Syrien und in den Irak fließen. In Trockenzeiten versiegen Euphrat und Tigris fast – mit dramatischen Folgen für die alten Agrarkulturen des Zweistromlandes. Die daraus folgende Not – so ist Rajendra sicher – führte zur zunehmenden Verunsicherung der Bevölkerung, zu Landflucht, Radikalisierung, Diktatur – und Krieg. Die Medien berichten fast nie über die seit Jahren anhaltende Dürre im ehemals „fruchtbaren Halbmond“, die den Ländern ihre ökonomische Stabilität entzieht. Sie ist nicht das Ergebnis einer Naturkatastrophe, sondern menschengemacht: Folge eines fatalen Wasser- und Landmanagements.

Doch dieses geschieht weltweit; Syrien ist dafür nur ein Beispiel. Sinkende Grundwasserspiegel und Wasserprivatisierung führten dazu, dass weltweit fast eine Milliarde Menschen keinen ausreichenden Zugang zu sauberem Trinkwasser haben. UNO-Sekretär Ban KiMoon sagte: „Die Kriege des 21. Jahrhunderts werden um Wasser geführt.“ Die Weltbank teilte die Welt bereits vor Jahren in wasserarme und wasserreiche Länder ein und schlussfolgerte daraus, dass die einen in Zukunft völlig von den anderen abhängig sein werden. Falsch und unnötig, meint Rajendra Singh. „Jede Region hat die Möglichkeit, ihre Bewohner mit ausreichendem Wasser zu versorgen.“

Den Regen zurückbringen

Rajendra ist Teil einer noch kleinen, aber global vernetzten Bewegung, die ein anderes Paradigma im Umgang mit Wasser propagiert und anwendet. Wasserbau-Ingenieur Michal Kravcik aus der Slowakei bringt es auf den Punkt: „Es geht bei einem gesunden Wasser-Management nicht darum, Wasser zu speichern, sondern den Regen zurückzubringen.“ Dabei sind die kleinen oder lokalen Regenwasserkreisläufe entscheidend: Es geht um das Wasser, das immer wieder abregnet, versickert, von Pflanzen aufgenommen wird und verdunstet. Diese Regenwasserkreisläufe sind ein Perpetuum mobile, sie erhalten und erneuern sich immer wieder selbst – vorausgesetzt, sie finden ausreichende Vegetation und offene Böden vor. Ursprünglich wurde diese „biotische Pumpe“ durch Wälder in Gang gehalten. Heute, angesichts von Entwaldung und Flächenversiegelung, verlangt es einfache, dezentrale, vielfach wiederholte Maßnahmen, um die Wasserkreisläufe wieder zu regenerieren: Regenwasser muss dort in den Boden eindringen können, wo es abregnet.

Der Meteorologe Prof. Millan Millan aus Valencia bestätigt durch jahrzehntelange Datenerhebung die Erkenntnisse des neuen Wasser- Paradigmas: Auf der Suche nach den Ursachen für veränderte Regenmuster Südeuropas stieß er auf die Zerstörung der kleinen Wasserkreisläufe durch Entwaldung, Flächenversiegelung, Städtebau, industrielle Landwirtschaft, Überweidung und Erosion. Geschieht dies in Schlüsselregionen wie etwa in Küstennähe, wird ein Regenwasserkreislauf, dessen Wasser zuvor viele hundert, sogar tausend Kilometer weit das Land gespeist hat, gleich an seiner Entstehung gehindert.

„Entwaldung und betonierte Touristenburgen an der Küste Spaniens sind die Ursache dafür, dass der Regen nicht mehr gleichmäßig auf der Iberischen Halbinsel fällt, sondern die Wolken stattdessen zurück aufs Meer getrieben werden“, sagt Prof. Millan. Damit sind sie auch eine der Ursachen für das Austrocknen von Quellen und Flüssen, das Ansteigen des Meeresspiegels im Mittelmeer und die Veränderung von Regenmustern in ganz Europa. Ja, im Rahmen des multivernetzten Wettergeschehens liegen die Ursachen für die häufiger werdenden Überschwemmungen in England und Deutschland unter anderem bei den Flächenversiegelungen in Spanien und Frankreich.

Natürliches Wassermanagement: loslassen und freigeben

Die große Erkenntnis lautet: Um Wassersicherheit zu haben, hilft es nicht, das Wasser zu stauen, einzusperren und zu kontrollieren. Im Gegenteil: Die größte Wassersicherheit erhalten wir, wenn wir es freigeben, das heißt verdunsten und versickern lassen. Es ist kein Wunder, dass diese Erkenntnis bei Landbesitzern, Regierungen, Lobbyisten oder Wasserkonzernen auf Ablehnung stößt. Worte wie „loslassen“ und „freigeben“ gehören nun mal nicht ins Vokabular der üblichen Sicherheitskonzepte. Das Speichern von Wasser in immer größeren Einheiten, die Privatisierung von Flüssen und Wasserrechten und der Verkauf von Wasser an Industrie und industrialisierte Landwirtschaft ist global ein einträgliches Geschäft. Aber eines, das große Regionen zur Wüste macht und Millionen von Menschen ihre Heimat nimmt.

Dabei gibt es viele Beispiele für gelungenes dezentrales Wassermanagement. Dem Wasseringenieur Michal Kravcik gelang es, ein großräumiges Beispielprojekt in der Slowakei zu initiieren: Mit der Bürgerinitiative „People and Water“ bauten Tausende von Menschen in 18 Monaten in 488 Dörfern und Städten in einer degradierten* Landschaft rund 100 000 kleine „Checkdams“** aus Steinen und Holz, die helfen, dass das Wasser weniger schnell abfließt und besser in den Boden einsickern kann. Die Aktion wurde von der damaligen Regierung finanziert und war ein großer Erfolg. Die Wasserhaltekraft der Region wurde erheblich erhöht, so dass der geplante Großstaudamm nicht gebaut werden musste. Eine Fortsetzung des Programms auf landesweiter Ebene wurde allerdings von der neuen Regierung der Slowakei im Jahre 2007 verhindert: Immer noch scheint die Staudamm-Lobby stärker.

Ein weiteres Beispiel stammt aus Australien, wo bereits in den 50er Jahren der Bauer und Ingenieur P. A. Yeomans das Keyline-System erfand: Durch das Anlegen vieler kleiner, parallel verlaufender Gräben auf den Höhenlinien eines Geländes mit Hilfe eines Spezialpfluges (Yeomans-Pflug) kann dessen natürlicher Wasserhaushalt außerordentlich verbessert werden. Selbst Starkregen fließt nicht mehr vollständig ab, sondern wird vom Boden aufgenommen. Das verringert die Erosion erheblich, in den Gräben bildet sich darüber hinaus neue, wertvolle Muttererde. Das System wird heute von Permakultur-Aktivisten und Landbesitzern weltweit angewandt. Vor allem in von Wüstenbildung bedrohten Gebieten zeigt es großen Erfolg.

Der Verhärtung der Erde entgegenwirken

Eine ganz andere, aber noch effektivere Idee kommt aus Afrika: Alan Savory, aufgewachsen in Zimbabwe, studierte die Weidemuster von durchziehenden Wildtierherden und ihren positiven Effekt auf die Wasserspeicherkraft von Grasland. Die vielen Nutztierherden hatten diesen Effekt nicht, im Gegenteil: Sie verhärten die Erde, und Regenwasser konnte nicht mehr eindringen. Savory entwickelte das Holistic Grazing Management (ganzheitliches Weidemanagement), ein durch flexible Zäune gesteuertes Weidesystem, das dem Weidemuster von Wildtierherden folgt: Intensiv, aber kurz. Da 40 Prozent der Landmasse des Planeten aus Grasland bestehen, könnte das Weidemanagement eine äußerst effiziente und kostengünstige Art sein, die globale Wassersituation zu verbessern.

Das Friedensforschungszentrum Tamera in Portugal wendet mit Erfolg eine andere Idee an: Unter Beratung des Öko-Visionärs und Bergbauern Sepp Holzer legt es seit 2007 eine ständig erweiterte Wasserretentionslandschaft an. Waldaufbau, Terrassierung und Gartenbau sowie zahlreiche Teiche, Seen, Gräben, angelegt ausschließlich mit natürlichem Material, verlangsamen das ablaufende Regenwasser und geben ihm Zeit, in den Erdboden einzusickern. Das Ergebnis ist weithin sichtbar: Ein Gelände von 150 Hektar, das umgeben ist von Baumsterben und Steppenbildung, bleibt heute ganzjährig grün und kann auch im Sommer die Gartenterrassen ohne Grundwasser bewässern.

Eine neu entsprungene Quelle führt ganzjährig Trinkwasser. Ingenieur Bernd Müller, in Tamera verantwortlich für den Bau der Wasserretentionslandschaft, berät auch Landbesitzer und Hilfsorganisationen in Krisengebieten wie Haiti, Bolivien oder Kenia. Er ist sich sicher: „Wenn wir unsere Erfahrungen auf ein größeres Gebiet hochrechnen, werden wir erkennen, dass es sich auch auf die Regenentwicklung auswirken wird.“

Globale Strategie für Wasser und Klima

Genau das haben die Vertreter des neuen Wasser-Paradigmas vor. Sie arbeiten an einer „Globalen Strategie für die Restaurierung der kleinen Wasserkreisläufe und des Klimas“. Bernd Müller: „Die Umsetzung eines ganzheitlichen Wasserkonzeptes mit Wasserretention und Mischwaldaufbau könnte auch krisengeschüttelten Regionen wieder Erleichterung bringen. Wenn Flüsse, Bäche und Quellen einer Region wieder fließen, wenn Regen wieder häufiger und gleichmäßiger fällt, dann wird sich nicht nur die bäuerliche Landwirtschaft wieder lohnen, auch andere Produktionsbereiche werden aufleben, und die Dörfer können sich wieder bevölkern.“ Auch für Syrien wäre dieses Vorgehen eine Rettung, meint Bernd Müller: „Der Wasserhaushalt des Landes ist nicht nur vom Flusslauf abhängig, sondern ebenso von der Landnutzung der Region, vom Wald, von der Landwirtschaft, vom Wassermanagement. Wenn die Menschen auf lokaler Ebene in Syrien ähnlich handeln wie die in Rajasthan, wenn sie an tausend Orten einfache Retentionsanlagen installieren und den Wald erneuern, dann wird der kleine Wasserkreislauf wieder in Gang kommen und der Wasserverlust des Euphrat kann ausgeglichen werden.“

Die Kernthesen des Globalen Aktionsplans

Wasser ist ein zu wenig beachteter Faktor für den Klimaschutz. Wenn jeder Bewohner des Planeten dafür sorgt, dass 100 Kubikmeter Regenwasser nicht mehr ungenutzt abfließen, sondern in den Erdboden einsickern können, kann der Klimawandel aufgehalten und die Ökosysteme weltweit regeneriert werden. Die Verwirklichung geschieht dezentral: Nicht Regierungen, sondern Gemeinden und Dörfer sind die Protagonisten dieser Strategie. „Wasserverantwortliche Dörfer“ könnten zu einer Bewegung werden, indem sie mit einfachsten Maßnahmen für ihre eigenen Lebensgrundlagen Sorge tragen. Die vielen Fallbeispiele verschiedener Regionen sollen zu ganzheitlichen Vorzeigemodellen gelungener Wasserretention aufgewertet werden.

Der Artikel erschien bereits in der Zeitschrift raum & zeit.

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