Letzten Herbst trafen sich im Friedensforschungszentrum Tamera in Portugal über 80 Menschen aus 30 Ländern unter dem Thema Defend the Sacred – das Heilige verteidigen. Aktivisten aus Befreiungsbewegungen, Indigene verschiedener Kulturen, Friedensarbeiter aus Slums, Flüchtlingslagern und Krisengebieten; Denker, Bürgerrechtler, Gemeinschaftsgründer – was haben sie gemeinsam?

von Leila Dregger

Sie alle haben eine Wahl getroffen. Jeder Einzelne von ihnen hat an irgendeinem Punkt des Lebens den vorgezeichneten Weg und die vorherrschende Meinung verlassen, um sich radikal für das einzusetzen, was ihnen heilig ist: das Wasser, das Leben, den Frieden. Und sie alle sagen jetzt: Wir schaffen es nicht allein. Sie kamen nach Tamera, um eine globale Allianz zu bilden, eine planetarische Gemeinschaft für den Schutz des Lebens auf der Erde.

Das gilt für Ladonna Brave Bull Allard, die Initiatorin der Proteste in Standing Rock, bei denen am Ende 30.000 Menschen in Protestcamps zusammenlebten. Mit Gebet, Zeremonie und Gewaltfreiheit hatten sie versucht, die geplante Pipeline durch ihre heiligen Stätten und unter dem Missouri aufzuhalten. Mit ihrem Slogan Defend the Sacred erreichten sie die Herzen von Menschen aus der ganzen Welt. Oder für Ati Quigua, Indigenen-Sprecherin vom Stamm der Arhuacos aus dem Hochplateau der Sierra Nevada de Santa Marta in Nord-Kolumbien, einer reichen Kulturtradition mit ungebrochenem Wissen über die Balance von weiblicher und männlicher Quelle. Es gilt auch für die Vertreter der Favela da Paz aus Brasilien, die sich über den eigentlichen Reichtum der Slums bewusst werden: Kooperation und Gemeinschaft. Oder für Rajendra Singh, den Arzt und Wasseraktivisten aus Rajasthan, der eine Volksbewegung für dezentrales Wassermanagement initiierte und damit die Wüstenbildung einer ganzen Region umkehrte und elf Flüsse sowie 2000 Dörfer wieder zum Leben erweckte.

Ebenso für den Palästinenser Saad Dagher, der eine ökologische Alternative für die Westbank aufbaut und in seine Friedensarbeit auch Wildschweine einbezieht – ein großes Tabu sowohl für die islamische als auch jüdische Welt. Da Schweine sowohl in Israel sowie in Palästina als unrein gelten, wurden Wildschweine im Grenzgebiet zur Kriegswaffe. Israelische Siedler jagen Wildschweine über die Grenze, wo sie die Felder palästinensischer Bauern verwüsten. Da die Bauern keine Waffen tragen dürfen, versuchen sie, sich mit Zäunen und Gift gegen die Wildschweine zu wehren, bisher ohne Erfolg. Der Ökologe Saad Dagher leistet Aufklärungs- und Friedensarbeit und zeigt in seiner eigenen Farm, wie man Wildschweine auch friedlich lenken kann, indem man ihr Lebensrecht anerkennt und ihnen Ausweichbiotope anbietet. Die Tiere nehmen das Angebot an und verwüsten seine Felder nicht. Mit Freundlichkeit statt Wut behandelt, sinkt auch die Vermehrungsrate der Wildschweine – ein bekanntes Phänomen in der Wildtierwelt. Auch Michael Lerner hat sich der Allianz für die Bewahrung des Heiligen angeschlossen. Der amerikanische Rabbi erhebt seine Stimme gleichermaßen für Sozialismus, Gerechtigkeit und Systemwechsel wie auch für die Werte ursprünglichen Judentums. Und schließlich gibt es da auch noch Yaeli Ronen, israelische Regisseurin in Berlin, die großes Theater mit internationalen Flüchtlingen und Roma macht.

Hilfe in der Bedrohung

Diese Liste könnte lange weitergehen. Jeder Teilnehmer, jede Teilnehmerin dieses Treffens könnte ein eigenes Programm füllen mit Erfahrung, Wissen und Engagement an den oft verschwiegenen Schmerzpunkten globaler Gewalt. Einige kamen mit einem akuten Ruf nach Schutz und Hilfe. Zum Beispiel Dona Brigida Gonzales und zwei weitere Vertreter der Friedensgemeinde San José de Apartadó in Kolumbien. Seit über zwanzig Jahren bilden deren Bewohner – einfache Kleinbauern – inmitten eines ausweglosen Konfliktes eine Säule der Hoffnung und Vergebung. Sie leben mit etwas, was man einen Konflikt niedriger Intensität nennt – eine Art Dauerbürgerkrieg, der seit Jahrzehnten Kolumbien zerrüttet. Bewaffnete Gruppen, Banden, Guerilla, Paramilitär und Militär bekämpfen sich. Keiner weiß eigentlich mehr richtig, worum es geht, aber es gibt viele verschiedene Interessen, zwischen denen die einfache Bevölkerung und fünf Millionen Binnenflüchtlinge zerrieben werden. Über 300 Mitglieder der Friedensgemeinschaft wurden in dieser Zeit ermordet, und die Bedrohung hört nicht auf. Sie bitten um internationale Begleitung, den wirksamsten Schutz, den sie bisher bekommen konnten. Auch Joshua Konkankoh aus Kamerun, der der Jugend in seinem Land eine andere Zukunft bieten will, kommt mit einem Hilferuf: Sein Ökodorf und die ganze Region sind mordenden Militär- und Rebellengruppen wehrlos ausgesetzt. Bisher konnte er sein Dorf mit seiner friedlichen Autorität schützen, doch es braucht eine nachhaltige Lösung.

Globale Allianz

Durch all diese kleineren und größeren „Brandherde“ erhielt die gemeinsame Frage der Teilnehmer eine große Dringlichkeit: Wie entsteht eine globale Allianz, deren Macht größer ist als die Gewalt eines globalen Systems, das überall dasselbe ist? Wie formen wir unter so unterschiedlichen Menschen und Gruppen eine tiefe Basis des Vertrauens, die hält, auch wenn wir wieder auseinandergehen? Wie unterstützen wir uns, wenn wir oder unsere Arbeit bedroht werden? Können wir trotz aller Unterschiede eine gemeinsame Vision für eine nachkapitalistische Welt sehen und Strategien für ihre Verwirklichung finden? Wie verankern wir uns dauerhaft im heiligen Raum – jenseits spezifischer Traditionen? Denn eines zeigte sich ebenfalls deutlich bei den Berichten, die dokumentieren, was sich seit dem ersten Treffen vor einem Jahr ereignet hat: Trotz äußerster Bemühungen der Friedenskräfte breitet sich die Gewalt an vielen Orten aus. Sami Awad, Lehrer für Gewaltfreiheit und Leiter des Holy Land Trust aus Bethlehem, Palästina, sagt: „Seit vielen Jahren wird die Situation immer schlimmer. Es ist eine Sache, täglich mit Verzweiflung und Gewalt zu tun zu haben. Aber dies ohne Hoffnung auf Besserung zu tun, das ist auf die Dauer zu viel.“

Martin Winiecki vom Gastgeberteam des Treffens sagte: „Die Welt rast auf einen Kollaps zu und die Menschheit steht vor einer Wahl: totalitärer Alptraum oder totale Revolution. Wir müssen uns als planetarische Gemeinschaft zusammenschließen, um unsere Kraft zu vergrößern – aber mehr noch, um den Begriff “Utopie” konkret werden zu lassen. Nur dann wird der Zusammenbruch der Systeme keine Katastrophe bedeuten, sondern eine Befreiung von den Mechanismen der Sklaverei und Unterdrückung.“

Von Utopien lernen

Tamera selbst ist ein Ort, der Utopien wach werden lässt und damit Aktivisten inspirieren konnte. Ladonna Brave Bull Allard: „Unser Protest gegen die Pipeline geht auf vielen Ebenen weiter, politisch und juristisch und auch in den Medien: Wer die Medien kontrolliert, kontrolliert die Welt, und es ist wichtig, unsere eigene Geschichte selbst erzählen zu können. Es reicht nicht, nur zu sagen, wogegen wir sind. Tamera hat mich auf vielen Ebenen inspiriert. Nach Europa, vor allem nach Portugal zu kommen, um das Heilige zu schützen, bedeutet mir sehr viel. Hier begann die Kolonialisierung, die weltweit Kulturen zerstört hat. Jetzt entsteht hier der Impuls für eine globale Versöhnung und Alternative. Wir haben durch das Beispiel von Tamera ebenfalls angefangen, in Lebensmittelautonomie und nachhaltige Technologien zu investieren.“

Monique Wilson von den Philippinen, globale Koordinatorin der tanzenden Frauenbewegung One Billion Rising, die in 200 Ländern gegen Gewalt gegen Frauen und Mädchen aufsteht: „In Tamera habe ich das Herz der Männer wiederentdeckt. Seitdem gehen wir viel mehr auf Männer zu und laden sie ein, sich an unseren Aktionen zu beteiligen, was sie bereitwillig annehmen – das macht einen großen Unterschied. Angeregt durch das Treffen im letzten Jahr wenden sich unsere Aktionen jetzt auch vermehrt gegen Gewalt gegen Mutter Erde. Ölbohrung, Abholzung von Regenwald oder Riesenstaudämme sind im Kern nichts anderes als eine Vergewaltigung. Die Misshandlung des Erdkörpers müssen wir ebenso beenden wie die Misshandlung von Frauenkörpern.“

„Wir schaffen es nicht allein.“ Mit diesem häufig formulierten Satz war noch mehr gemeint als ein Bündnis unter Menschen. Denn auch wir als Menschheit schaffen es nicht allein. Egal, ob wir es Gott, universelle Verbundenheit oder Kraft der Einheit nennen: Wir müssen lernen, mit etwas zu kooperieren, das noch niemand definieren kann. Deshalb waren – neben direkter Aktion, Austausch und strategischen Überlegungen – Gebete und Zeremonien verschiedener Traditionen, Meditation, tiefes Zuhören, Stille und Musik wichtige Elemente des zehntägigen Treffens. Sabine Lichtenfels, Mitgründerin von Tamera: „Wir stehen als Menschheit vor der gleichen existenziellen Bedrohung, die für unsere Freunde aus Kolumbien oder Kamerun schon heute spürbar ist. Das ist nicht die Schuld Einzelner, es ist die Folge eines Gesamtsystems der Gewalt. Wir können es nur beenden, wenn wir ein anderes System kennen: das System der Welt, aus der wir kommen, das System des Lebens. Denn das Leben ist immer auf Heilung ausgerichtet. Wir alle tragen die Erinnerung an die Verbundenheit mit dem Leben, an die indigene Quelle noch in uns. Der tiefste Systemwechsel ist von Trennung zu Verbundenheit, von Angst zu Vertrauen, Vergebung und Versöhnung.“

Wasser als Schlüssel für die Lösung des Klimawandels?

Im Laufe des Treffens wurde es immer deut – licher: Strategie und Gebet sind kein Widerspruch, sie brauchen einander. Ein Kernthema war Wasser, vor allem für die Indigenen eine heilige Substanz. Viele von ihnen wuchsen im Bewusstsein des Dankes und der Verbundenheit mit dem Wasser auf, sie lernen von ihm, beten für seinen Schutz, halten Zeremonien für den Regen ab. In einer Atmosphäre von Respekt und Achtsamkeit wiesen ExpertInnen auf die Schlüsselbedeutung des Wassers für eine mögliche Lösung des Klimawandels hin. Rajendra Singh: „Wir alle wissen, dass Wasser Leben ist. Darüber hinaus müssen wir aber auch zur Kenntnis nehmen: Wasser ist Klima und Klima ist Wasser.“ Vlado Zaujec aus der Slowakei stellte dazu einen ambitionierten Plan vor: Die Initiative „Rain for Climate“ will in den fünf bis sieben Jahren, die bis zum Klimakollaps bleiben, Landbesitzer weltweit mit moderner Technik darin unterstützen, Systeme für dezentrales Wassermanagement anzulegen. „Wenn der Regen wieder in die Erde eindringen kann, wo er fällt, kann die globale Erwärmung aufgehalten werden, denn CO2 wird gebunden und Erosion gestoppt. Extreme Wetterereignisse wie Fluten, Dürren und Hitzewellen können durch diese simple lokale Handlung rückgängig gemacht werden. Aber wir müssen jetzt handeln, und zwar gezielt und weltweit.“ Claudine Nierth, Bürgerrechtlerin aus Deutschland, Sprecherin von „Mehr Demokratie“, fand: „Von Rain for Climate erfahre ich, was ich für das Wasser tun kann, von den Indigenen, warum ich es tun muss. Eine globale Allianz braucht eine gemeinsame Planung und Strategie, aber sie braucht auch die Öffnung zur geistigen Welt und die Verbundenheit mit allen Wesen.“

Die zehn Tage waren gefüllt mit intensiven Begegnungen und tiefem Zuhören an den Schmerzpunkten der Weltsituation, mit Gemeinschaftsbildung, Vernetzungs- und Planungstreffen sowie für viele der Teilnehmer mit lebensverändernden Erkenntnissen und Erfahrungen. Es war bewegend zu erleben, wie schnell sich unter so unterschiedlichen Menschen eine Vertrauensgrundlage bilden kann, die es ihnen erlaubt, über Schmerzen und existentielle Lebensfragen zu kommunizieren, ohne dabei in Betroffenheit zu geraten. Wie Leiter verschiedenster Traditionen sich jenseits von kulturellem Ego zeigen, was sie lieben, und sich gemeinsam dem „Heiligen“ annähern, dem namenlosen Geheimnis, welches allen gemeinsam ist. Es war tatsächlich die Geburt einer Allianz für das Leben, die angesichts der globalen Bedrohung gewaltfreien Widerstand, Aufbau von Alternativen, Gebet und Gemeinschaft verbindet.

Aktion gegen die Ölbohrung in Portugal

Während der ganzen Tagung begleitete uns das aktuelle Thema der geplanten Ölbohrung vor der portugiesischen Küste. Können wir als internationale AktivistInnen dazu beitragen, sie zu verhindern? Am 4. August – an vielen Orten Portugals der heißeste Tag seit Beginn der Wetteraufzeichnungen – fuhr die Gruppe in Bussen an den Strand Cova do Vapor bei Lissabon an der Mündung des Tejo in den Atlantik. Das Team des Solaren Testfeldes aus Tamera hatte ein Demonstrationsfeld mit 12 Solarkochern aufgebaut und verteilte solar gekochtes Essen an Strandbesucher. Zusammen mit mehreren hundert TeilnehmerInnen – KünstlerInnen, AktivistInnen, Freunden aus ganz Portugal, angeleitet durch den Aerial-Art-Aktivisten John Quigley, begleitet durch Gebete aus acht traditionellen Richtungen formten die AktivistInnen von Defend the Sacred mit ihren Körpern eine große Botschaft in den Sand, die aus der Luft gefilmt und am Abend im Hauptfernsehsender SIC übertragen wurde: – zwei Delphine – Mutter und Kind -, umringt von einer strahlenden Sonne und den Schriftzügen „Stoppt die Ölbohrung“ und „Wasser ist Leben“. Es war beeindruckend. Doch kann eine solche Aktion tatsächlich politische Entscheidungen beeinflussen? Niemand kennt alle Verknüpfungen von Ursache und Wirkung. Tatsache ist, dass sieben Tage später der portugiesische Präsident Marcelo Rebelo de Sousa nach einem Treffen mit AktivistInnen verlauten ließ, er müsse seine Haltung bezüglich der Ölbohrungen überdenken.

Und neun Tage später suspendierte ein Gericht vorläufig die geplante Ölbohrung vor Aljezur (Algarve). Ein nächstes Treffen ist für Sommer 2019 geplant. Bis dahin wollen die Aktivisten und Teilnehmer von Defend the Sacred auf verschiedenen Ebenen zusammenarbeiten. Es gibt konkrete Vorhaben – von gegenseitigen Besuchen, Wissenstransfer, Ausbildungsangeboten, Teilnahme an gemeinsamen Aktionen, schnellem Informationsfluss bei akuter Bedrohung bis zur Medienarbeit für die Verbreitung von Erfahrungen, von Kerngedanken einer neuen globalen Kultur und von Kampagnen. Vor allem aber soll eine menschliche, geistige und spirituelle Plattform entstehen, auf die man sich verlassen kann, weil sich Menschen tatsächlich sehen und erkennen können – eine stabile Basis für eine Allianz und eine gemeinsame globale Strategie für den Schutz der Erde.

Mitmachen

Wie man an der Bewegung mitmachen kann: In allen Regionen gibt es „Heiliges“, das bedroht ist. Der Hambacher Forst wurde in Deutschland zu einem Symbol dafür, aber es gibt noch vieles andere, was unseren Schutz braucht. Wer sich mit anderen zusammenschließt und ein Stück Natur oder Menschenrechte oder Gedankenfreiheit verteidigt, wer das entschlossen, aber mit friedlichen Mitteln tut, und wer noch eigene Formen von Ritual oder Gebet oder schlicht Respekt vor dem Heiligen entwickelt, der ist im Grunde Teil der Bewegung. Das Symposium „Rebellen des Friedens. Sacred Activism & Politische Aktion“ in der ökologischen ‚Gemeinschaft Sulzbrunn‘ vom 13. bis 19. Mai 2019 bei Kempten im Allgäu bringt Aktivisten aus aller Welt zu einem einmaligen Netzwerktreffen und Kongress zusammen. Weltweit bekannte Pioniere der Verbindung zwischen Spiritualität und politischer Aktion, PhilosophInnen eines neuen zukunftsfähigen Weltbildes, junge Klima-, Umwelt und Sozial- Aktivisten, Aktionskünstler, interessierte NGOs und Gäste treffen sich, um neue Aktionsformen eines ‚heiligen Widerstands‘ gegen die Zerstörung des Lebens zu entwickeln, Aktivisten zu bestärken, Proteste nachhaltiger zu machen und neue Projekte zu initiieren.
Infos unter: https://www.gemeinschaftsulzbrunn. de/1832/wir/rebellen-des-friedens

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