Corona führt die ganze Menschheit seit fast einem Jahr an ihre Kernfragen: Was ist wesentlich? Wie sieht die Welt nach der Corona Krise aus? Für welche tiefgreifende Veränderung sind wir bereit, konsequente Entscheidungen zu treffen? Egal, wer oder was Corona ist und was man darüber denkt: In welche Richtung es die Welt verändern wird, hängt weitgehend davon ab, welche Kräfte sich heute zusammenfinden, um definitiv für eine neue Lebensordnung zu arbeiten. Covid-19 und die sozialen und wirtschaftlichen Ereignisse, die damit verbunden sind, verlangen von uns einen echten Systemwandel nach der Corona Krise

von Leila Dregger

Wie wird die Zukunft nach der Corona Krise aussehen, wenn wir als Menschheit die jetzige Richtung beibehalten? Konsequent weitergedacht, führt uns der jetzige Weg in den wohltemperierten Single-Haushalt mit Rundum-Bildschirm. Hier leben und arbeiten wir, pflegen digital unser Sozialnetzwerk, erleben Kultur, Meditation und Erotik virtuell. Keine Extreme, kein Hunger, kein Schmerz. Was wir brauchen, wird geliefert, produziert von Automaten, selbstverständlich mit grünem Strom. Alles, was uns stört, quält oder unangenehm ist, wird uns abgenommen. Diskussion und Austausch sind auf die Echokammern der sozialen Medien reduziert. Wir reisen keimfrei und virtuell, absolvieren Yoga und Fitness vor dem Bildschirm, ernähren uns bewusst und haben jeden Monat unser Grundeinkommen auf dem Konto. Eine Weltregierung der Vernunft regelt die großen Herausforderungen für uns und bewältigt alle globalen Krisen – Kriege, Klima, soziale Ungerechtigkeit etc. Von denen, die von dem neuen Leben ausgeschlossen sind und im Dreck leben, erfahren wir nichts mehr. Endlich das Paradies der Bequemlichkeit und der Nachhaltigkeit – ausgelöst durch ein kleines Virus, das im Jahre 2020 die Welt im Griff hatte.

Finden Sie das Szenario annehmbar? Vielleicht sogar angenehm? Für mich ist es die Hölle. Die Wohlfühl-Hölle. Mir fehlt darin so gut wie alles, was ich mir vom Leben wünsche: Berührung. Begegnung. Das Unbekannte. Gegenseitiger Austausch und Anteilnahme. Gemeinsamer Einsatz und Verantwortung für eine bessere Welt. Für mich ist das beschriebene Szenario die Wellness-Variante eines Überwachungsstaates, einer Hygienediktatur, einer Revolution von oben, einer freiwilligen Freiheitsberaubung als Opfer auf dem Altar der Sicherheit. Und das Schlimmste ist: Das oder etwas Schlimmeres wird sich verwirklichen, wenn wir nicht jetzt mit aller Kraft gegensteuern.

Ziviler Ungehorsam gegen die Angst

Dazu müssten wir als erstes herausfinden, welches andere Normal wir wollen und brauchen. Mit wir meine ich “das große Wir“: das bedrohte Leben auf der Erde, Fluss und Wasserfall, Schmetterling und Zebra, Farn und Affenbrotbaum und jedes einzelne Menschenkind jeder Hautfarbe. Stellen wir uns vor, dass Menschen an vielen Orten sich wieder von diesem großen Wir erfassen lassen. Sie kommen zusammen, legal oder illegal, konspirativ oder offen, und geben ihrem Gefühl der Dringlichkeit Ausdruck. Sie bauen die Barrieren untereinander nicht weiter auf, sondern endlich ab. Jetzt, so erkennen sie, wenn das bestehende System in seinem letzten Aufbäumen nach totaler Kontrolle greift, brauchen wir zwei Dinge: Mut zum zivilen Ungehorsam gegen die Angst und Verständigung über glaubwürdige Alternativen. Diese sind ziemlich klar zu erkennen: Sie bestehen in regionalen, autonomen und regenerativen Solidarwirtschaften, in denen wir uns gegenseitig unterstützen und von zentralistischen Großsystemen unabhängig machen. Damit wir uns weltweit mit gesundem Trinkwasser, biologischer Nahrung, erneuerbarer Energie und natürlicher Medizin versorgen können, werden wir mit der Natur kooperieren und die geschädigten Ökosysteme, Böden und Wasserkreisläufe regenerieren. Um weiteren Pandemien gelassen entgegensehen zu können, eignen wir uns ein praxistaugliches Wissen über das Wesen von Heilung und Gesundheit an – und lassen einander einfach nicht mehr alleine. Je mehr autonome Regionen und Gemeinschaften entstehen, um so weniger Macht haben totalitäre Systeme, Drohungen oder aberwitzige Konsumangebote. Je attraktiver diese andere Welt wird, desto mehr Menschen, Soldaten, Fachleute und Investoren werden dem Mainstream davonlaufen.

Das große Wir – nach der Corona Krise

Meine konstruktive Antwort auf Corona und alle Krisen ist also in jeder Hinsicht das Gegenteil des ersten Szenarios: Sie besteht äußerlich aus autonomen, regenerativen, weltweit vernetzten Regionen und Siedlungen in Kooperation mit der Natur – und innerlich in einer neuen, verbindlichen Qualität unseres Miteinanders. Die verstorbene Biologin Lynn Margulis, die sich immer gegen New Age und Esoterik verwehrte, sagte: „Wenn wir die ökologischen und sozialen Krisen, die wir herbeigeführt haben, überleben wollten, wären wir wohl gezwungen, uns auf völlig neue, dramatische Gemeinschaftsunternehmen einzulassen. Vielleicht werden wir sogar zu einer Art von Einheit gezwungen, die früher nur in religiösem Denken vorstellbar war.“ Das ist meine Corona-Hoffnung: Dass wir durch die aufgezwungene Trennung voneinander merken, wie sehr wir uns gegenseitig fehlen und wie kostbar dieses Gut ist: Begegnung und Nähe.

Meine Hoffnung ist, dass wir ihm einen größeren Wert geben, es nicht einfach verschwenden in Streit, Langeweile und Konkurrenzdenken. Sondern dass wir jede Gelegenheit des Zusammenkommens nutzen, um uns wirklich kennenzulernen: Anteil aneinander nehmen, Nähe wagen, auch die aufkommenden Ängste und Enttäuschungen nicht verdrängen, sondern sie gemeinsam fühlen. Wahrheit wagen und Vertrauen aufbauen. Uns wahrhaftig und solidarisch auseinandersetzen und herausfordern, statt uns zu verurteilen. Meine Hoffnung ist, dass wir jetzt anfangen, das große Wir aufzubauen. Für dieses Wir kenne ich auch ein anderes Wort: Liebe.

Kernverletzung in der Liebe

Diese Priorität tatsächlich anzusetzen, nicht nur privat, sondern gesellschaftlich, ist für uns moderne Menschen ein tieferer Wandel als die kopernikanische Wende. Dieter Duhm schreibt: „Das Schlimmste an der menschlichen Zivilisation ist, dass sie die Liebe verhindert hat.“ Die ganze Menschheit leidet unter Liebeskummer, unter der fortwährenden Enttäuschung, Zurückweisung und Verletzung unserer Liebessehnsucht, seit Äonen. All die Krisen, die wir hervorgerufen haben – sei es Corona, Klimakatastrophe, Welthunger – sind letztlich Folgen dieser Kernverletzung in der Liebe. All die falschen Entscheidungen, die zum jetzigen Zustand der Welt geführt haben, lassen sich darauf zurückführen. Es geht dabei nicht nur um die Partnerliebe oder sexuelle Liebe, sondern um die Haltung der Liebe allem gegenüber, was lebt. Aber es geht auch ganz stark um die sexuelle Liebe.

Doch nicht die Liebe regiert die Welt. Corona hat deutlich gemacht, wem wir statt dessen folgen: der Angst. Angst erzeugt Trennung. Nur der moderne Mensch kann sich unter Artgenossen so entsetzlich allein fühlen. Angst war schon lange vor Corona die ständige Begleitung unserer Zivilisation. Wir nehmen sie kaum noch wahr, so allgegenwärtig ist sie und beeinflusst alle Entscheidungen und Begegnungen. Es ist die Angst voreinander, vor dem Leben, vor unangenehmen Gefühlen, und sie ist – wie heute von vielen Seiten richtig analysiert wird – notwendige Bedingung des Systems. „Angst ist der Agent, den das System in unserem Inneren platziert hat“, schrieb Dieter Duhm. Ohne Angst käme niemand auf die Idee, andere zu übervorteilen, sich von anderen abzugrenzen, sie auszustechen. Und dann würde kein Kapitalismus mehr funktionieren. Nicht das Virus, sondern die Angst voreinander erzeugt soziale Distanz. Von manchen alten Freunden und Verwandten fühlen wir uns nicht nur anderthalb Meter, sondern kilometerweit entfernt. Denn fast alles, was geschieht, was gesagt und geschrieben wird, stößt heute auf eine unterschiedliche Bewertung – und auf eine gehörige Portion Aggressivität, mit der diese geäußert wird.

Aber wir können die Situation auch positiv werten: Wir haben als Gesellschaft definitiv die Komfortzone verlassen. Wir steuern auf einen Höhepunkt der Auflösung bisheriger gesellschaftlicher Strukturen zu. Auch wenn es sich alles andere als gut anfühlt: Genau das ist eine notwendige Voraussetzung für jede wirkliche, kollektive Veränderung.

Nach der Corona Krise – Führungsqualität zeigen

Vielleicht, höre ich die Skeptikerin sagen, dass es da ja schon viele Versuche gab. Sind sie nicht alle wieder zerbrochen, sobald die ersten Konflikte auftraten? Das stimmt. Und gerade deshalb müssen wir nach der Corona Krise klüger werden. Echte Kooperation ist das eigentliche Wunder, das jetzt gebraucht wird. Kooperation und Verständigung unterschiedlicher Kulturen und Wissensquellen, politischer Lager, Bewegungen und Projekte – trotz unterschiedlicher Meinungen und kultureller Hintergründe. Kooperation als flächendeckendes neues morphogenetisches Feld angesichts des drohenden Untergangs. Das wird nur gelingen, wenn unter uns die ersten Menschen aufstehen, die Verantwortung annehmen und ihre Führungsqualitäten bejahen. Natürlich spreche ich nicht von Herrschaft. Die Anführer, die wir jetzt brauchen, sind nicht mehr die Herrscher, die über alle Köpfe hinweg „ihr Ding durchziehen“. Aber es reicht auch nicht mehr, sich im Namen von Basisdemokratie ständig vor der Verantwortung zu drücken und auf den niedrigsten Nenner zu einigen. Führungsqualität besteht darin, Räume von Vertrauen und echtem Zusammenkommen zu erzeugen. Ein Zusammenkommen, in dem die kollektive Intelligenz wirken kann. In dem jede Stimme gehört wird, sich aber dann die weitreichendste Perspektive durchsetzen kann. Führungsqualität bedeutet, die Werte zu verkörpern, auf die sich eine Gruppe geeinigt hat – dann kann sich die ganze Gruppe und ihre Umgebung daran orientieren und ausrichten. Ohne diese Orientierung regiert niemals das Wir, sondern das Ego.

Und erst im gelebten, authentischen, gefühlten Wir nach der Corona Krise erkennen wir: Wir sind nicht nur Bürger eines Staates oder einer speziellen Kultur, sondern wir sind auch Bürger des lebendigen Universums. Es gibt eine Erde, die wir alle teilen, eine Zukunft. Und damit haben wir ein gemeinsames Ziel von solcher Intensität, dass es unsere alten Egostrukturen, die Traumata der persönlichen Vergangenheit und die unterschwelligen menschlichen Konflikte auflösen wird. Unter diesem Ziel können wir uns gemeinsam auf die Paradigmen der Kooperation, des Vertrauens und des Lebens ausrichten – und auf die konkrete Zusammenarbeit für den Aufbau einer humanen, nachkapitalistischen Welt.

Jetzt und nicht nur nach der Corona Krise!

Eine Antwort

  1. Raimar Ocken
    Vom "Ich" zum "Du" zum "Wir"

    Sehr guter Artikel, wie ich finde, auch mir aus dem Herzen gesprochen.
    Ein Gedanke dazu: Nicht nur Angst erzeugt Trennung, sondern auch Trennung erzeugt Angst, wenngleich nicht notwendigerweise.
    Und eine Frage: Wenn wir den positiven Wandel wollen, dann müssen wir uns fragen: „Was bin ich bereit zu opfern/loszulassen/aufzugeben?“

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