Die meisten von uns fühlen sich nicht besonders kreativ. Eingezwängt in Normen, konditionierte Verhaltensweisen und Schranken jedweder Art halten wir Lebendigkeit, Freude und authentischen Selbstausdruck auf Sparflamme. Annette von Richthofen zeigt, wie wir uns wieder mit unserer angeborenen Kreativität und Lebensfreude verbinden können.

Eine der vorrangigen Qualitäten der Seele, wenn sie die Bühne der Welt betritt, um an dem großen Spiel teilzunehmen, ist Kreativität. Die Seele als Schauspieler liebt Lebendigkeit, Spontaneität, Austausch, Kooperation, Vielfalt. Sie ist voller Liebe, Anteilnahme, Leichtigkeit und Humor. Sie ist ein Teamplayer und ein „Fair Player“. Mitzuspielen macht ihr richtig Spaß. Deshalb hat sie die Bühne betreten. Und sie spielt grandios. Aber schließlich setzt ein schleichender Prozess ein: Die Seele vergisst mehr und mehr, dass es ein Spiel ist. Dass sie begeistert das Spielfeld betreten hatte, um ihre Schönheit gemeinsam mit den anderen Mitspielenden auszudrücken. Dass es jenseits des Spielfeldes noch einen anderen Raum gibt, einen nicht-materiellen Raum, in dem sie ursprünglich zuhause war. Sie vergisst, dass es eine Rolle ist, die sie da spielt. Die materielle Wahrnehmung und Identifikation wird stärker und stärker. Irgendwann ist es dann soweit. Sie denkt: „Ich bin …. (Name, Beruf, Geschlecht, Religion, Familienstand …)“. So wie die meisten von uns das heute ganz selbstverständlich denken.

Machen wir gleich hier einen kurzen kreativen Stopp. Lehnen Sie sich zurück. Legen Sie eine Hand auf Ihren Bauch und atmen Sie dreimal tief durch. Spüren Sie in die Gedanken hinein: „Ich bin ein wunderbares, schöpferisches Wesen … ich habe vor langer Zeit das Spielfeld dieser Erde betreten … es hat mir großen Spaß gemacht mitzuspielen … und ich habe so wunderbar gespielt … so viele Talente hatte ich mitgebracht … jetzt spiele ich schon seit vielen Jahren die Rolle von … (Ihr Name, Beruf oder womit Sie sich hauptsächlich identifizieren) … Meine wahre Natur ist, dass ich ein schöpferisches Wesen bin …“ Lassen Sie diese Gedanken ausklingen … Wie haben Sie sich damit gefühlt? Es kann sein, dass Traurigkeit anklingt – Traurigkeit über einen verlorenen Schatz. Oder Freude über einen wiedergefundenen. Oder gar nichts. Nehmen Sie einfach nur wahr, was Sie fühlen, und bewerten Sie es nicht.

Jetzt haben wir, fast nebenbei, bereits einige wesentliche „Eckpfeiler“ der Kreativität gestreift: 1. Wir haben innegehalten. 2. Wir haben eine andere Perspektive eingenommen, indem wir die Welt als Spielfeld und uns als Spielende betrachtet haben. 3. Wir sind aus dem Denk- in den Spürmodus gewechselt. Und 4. haben wir etwas wahrgenommen, ohne es zu bewerten – jedenfalls haben wir das versucht. All das gehört zum Nährboden von Kreativität. Allein diese kleine Übung, wenn Sie sie öfters mal in Ihrem Alltag unterbringen, wird leise Veränderungen in Ihrem Leben bewirken.

Zeit der Neuschöpfung

Alles existiert in Zyklen und durchschreitet unterschiedliche Phasen. Die Natur geht durch die Jahreszeiten, der Mensch durch Lebensabschnitte. Gemäß dem uralten indischen Raja- Yoga geht auch die Welt durch Phasen: Sie durchschreitet das Goldene, Silberne, Kupferne und Eiserne Zeitalter. Auch unser Bewusstsein durchläuft diese Stufen. Zur Zeit befinden wir uns an der spannenden Stelle des Übergangs vom Eisernen zum Goldenen Zeitalter. Während viele Menschen sich noch mit eisenzeit – alterlichen, sehr harten Qualitäten und Umständen auseinandersetzen müssen, erforschen andere längst intensiv ein ganz neues Selbstverständnis und Bewusstsein, eine neue Pädagogik, ein neues Wirtschaftssystem, eine neue Art zu lieben und Beziehungen zu führen, einen neuen künstlerischen Ausdruck, ein neues Verständnis von Materie, umserem Körper und Gesundheit … Von vielen Menschen unbemerkt und verdeckt von zahlreichen finsteren Nachrichten und Geschehnissen der eisenzeitalterlichen Ebene befinden wir uns mitten in einer extrem kostbaren und wichtigen Zeit der Neuschöpfung. Kreativität ist hierbei gefragter denn je.

Was genau ist das eigentlich – Kreativität?

Kreativität hat viele unterschiedliche Facetten. Vom phantasievoll spielenden Kind über den Menschen, der mit unerwarteten Alltagsproblemen konstruktiv umgeht, bis zum Genie, das bahnbrechende Erfindungen macht – um nur drei Beispiele zu nennen – sind alle kreativ. Bei genauerem Hinsehen haben sie eines gemeinsam: Sie sind imstande, über festgelegte bestehende Normen und Verhaltensweisen hinaus zu denken und zu handeln. Dadurch sind sie in der Lage, schöpferisch, eigenständig und konstruktiv mit Situationen – besonders auch mit unerwarteten und schwierigen – umzugehen und Neues zu erschaffen bzw. Lösungsmöglichkeiten zu finden. Genau das ist der Kern von Kreativität. Einstein hat mal gesagt: „Die Probleme unserer Zeit sind nicht mit dem gleichen Denken zu lösen, das sie hervorgebracht hat.“ Wir sind eingeladen, unsere alten Denk- und Sichtweisen, unsere Einstellungen und Muster zu überwinden, unsere Komfortzonen und vertraut-verstaubten Schubladen zu verlassen und uns in neues Terrain zu wagen. Wir haben die großartige Chance, in diesem Schöpfungsakt mitzuwirken.

Wo ist unsere Kreativität geblieben?

Wir sind kreativ auf die Welt gekommen. Wir sind vom ersten Moment unseres Lebens an fortwährend in für uns neuen Situationen gewesen, mit denen wir umgehen mussten und die wir gemeistert haben. Voller Energie, Spontaneität, Wachheit und Einfallsreichtum sind wir unseren Weg gegangen – solange unsere Bezugspersonen uns ließen. Unsere Kreativität brauchte man nicht zu fördern. Eine liebe- und respektvolle, achtsame Begleitung, die darauf verzichtet, uns überproportionale Steine in den Weg zu legen – das hätte vollkommen gereicht, um uns zu erfüllten, glücklichen, kreativen Erwachsenen heranwachsen zu lassen. Aber hatten wir diese Begleitung? Meist nicht. Das Eiserne Zeitalter hatte seine eigenen rauen Szenen für uns parat. Bei vielen von uns wurde die kindliche Schönheit verschüttet, und mit ihr – unter vielen anderen Kostbarkeiten – unsere Kreativität. Die gute Nachricht ist: All diese zugeschütteten Schätze lassen sich wieder ausgraben und beleben.

Kreativitätsförderung

„Kreativitätspädagogin“ – diesen Zungenbrecher hat noch fast niemand gehört, dem ich gesagt habe, was ich von Beruf bin. Was ich mache? Ich unterstütze andere Menschen darin, mit ihrer mehr oder weniger verschütteten Kreativität wieder in Kontakt zu kommen und sich künstlerisch auszudrücken. Dabei ist der künstlerische Ausdruck oft in erster Linie das Medium, um innere Stärken sichtbar zu machen und letztlich wieder Zugang zu ihnen zu finden.

Besonders geeignet ist meiner Erfahrung nach hierfür das intuitive Malen, wie es Michele Cassou in ihrem Buch „Point Zero“ beschreibt. Sich intuitiv und aus der Stille heraus mit Farben und Pinsel auszudrücken ist eine eigene Sprache – eine Sprache, die nicht vom Verstand gesteuert wird, sondern aus der Tiefe der Seele kommt. Wir brauchen sie nicht zu lernen. Wir müssen nur ermutigt werden, sie zuzulassen. Beim intuitiven Malen werden Dinge sichtbar, die wir oft verbal gar nicht hätten formulieren können. Hoffnungen, Sehnsüchte, Stärken, Schmerzen, Überlebensstrategien … alles darf seinen Weg auf die Bildfläche finden und gesehen und anerkannt werden. Es ist berührend zu er – leben, dass wir öfters sogar völlig unbewusst die Antworten und Lösungen für unsere Fragen und Probleme gleich mit auf das Bild malen. Manchmal habe ich den Eindruck, da entstehen geradezu „Rezepte“ auf die Frage: „Was brauche ich, um in meiner speziellen Situation zu heilen und ein glücklicheres Leben zu führen?“ Unsere innere Weisheit wird angesprochen und antwortet. Sie macht uns zu unseren eigenen Therapeuten; sie zeigt uns, dass wir selber Spezialisten im Hinblick auf unsere Probleme sind. Wir selber sind die, von denen wir kompetente Hilfe und Unterstützung erfahren können. Und zusammen mit unserer Weisheit werden weitere Schätze in uns reaktiviert. Der innere Garten fängt an zu erblühen. In der Tiefe der Seele ist immer alles da gewesen und kommt nur zu gern wieder ans Tageslicht.

Die Bedeutung der Stille im schöpferischen Prozess

Stille hat viele Stufen der Intensität. Sie reichen vom kurzen Innehalten und Durchatmen bis zur tiefen Erfahrung einer völlig anderen Seinsebene und der Begegnung mit Gott. Auch wenn es uns manchmal unmöglich scheinen mag, das Geratter in unserem Kopf anzuhalten: Die Ebene der Stille ist nur einen Gedankensprung von uns entfernt. Sie zu erfahren erschafft einen Freiraum in uns, in dem die Seele wieder ihre Flügel ausbreiten kann. Je größer dieser Freiraum ist, desto besser können in ihm unsere göttlichen Qualitäten gedeihen. Wir können wieder spüren, dass wir reine, ewige, wunderbare Lichtwesen sind. Wir lösen die Identifikation mit der Rolle, die wir in diesem Leben spielen – und können sie dadurch bewusster und kreativer gestalten.

Beim intuitiven Malen ist Stille so etwas wie eine geistige Leinwand. Sie ist die freie Fläche, auf der das Werk entsteht. Stille ermöglicht uns, nach innen zu spüren. Sie hilft uns, die leise Stimme unserer Intuition besser wahrzunehmen. „Der Weg zu allem Großen führt durch die Stille“, wusste Nietzsche. Aber nicht nur zu Großem: Jede Handlung profitiert davon, wenn sie aus der Stille entspringt. Deshalb ist innezuhalten so wichtig und heilsam. Viele Handlungen, auch alltägliche, können so zu schöpferischen Momenten werden.

Ich glaube, das wesentliche Kennzeichen des Goldenen Zeitalters wird sein, dass die Ebene der Stille und die der Handlung so selbstverständlich ineinander übergehen wie Einatmen und Ausatmen und dass unser Leben und unsere Welt dadurch ein natürliches, vollkommenes Gesamtkunstwerk sein werden. Wir haben uns auf unserer langen Reise weit von unserem Ursprung entfernt. Es ist Zeit, dass wir uns wieder mit unserem geistigen Zuhause verbinden.

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