Der Essayist Götz Eisenberg suchte im Kaufhaus nach einem Klebeband und einem Verkäufer.
Doch niemand war mehr da in der Anonymität des Konsums. Daraus entstand eine kurze Geschichte des Einkaufens…

Neulich suchte ich ein Gießener Kaufhaus auf, um ein Klebeband zu kaufen, das man beim Streichen zum Abkleben benötigt. Eigentlich ist schon die Wendung „ein Gießener Kaufhaus“ irreführend, weil es unterstellt, es gebe mehrere. Als ich nach Gießen zog, gab es in der Innenstadt tatsächlich noch mehrere Kaufhäuser. Bis heute übrig geblieben ist nur noch das, in dem der amtierende thüringische Ministerpräsident Anfang der 1970er Jahre seine kaufmännische Lehre absolviert hat. Ich suchte also dieses Gießener Kaufhaus auf, weil ich keine Lust hatte, mit dem Rad zu einem Baumarkt am Rande der Stadt zu fahren.

Wo aber findet man in den unermesslichen Weiten dieses Kaufhauses ein Malerband? In der Schreibwarenabteilung suchte ich vergebens. Ich fragte einen Mitarbeiter, der mich auf den zweiten Stock verwies. Dort in der Heimwerkerabteilung müsse es so etwas geben. Ich fuhr also mit der Rolltreppe nach oben und fand am Rande dieser Etage tatsächlich die Heimwerkerabteilung. Ich brauchte nicht lang, um die Klebebänder zu entdecken. Sie hingen auf Drahtbügeln in einem Regal. Aber sie waren nicht mit Preisschildern versehen. Ich sah mich nach einem Kaufhausmitarbeiter um. Am Horizont entdeckte ich jemanden, der einer sein konnte. Aber er war in ein Gespräch mit einem Kunden vertieft, und so musste ich warten, bis es beendet war. „Wissen Sie, was dieses Klebeband kostet?“, fragte ich dann. „Dort“, sagte er und wies mit dem Kinn in südliche Richtung, „ist an der Wand ein Scanner. Wenn Sie das Produkt Ihrer Wahl da drunter halten, zeigt er Ihnen an, was es kostet. Heute ermittele ich den Preis für Sie noch mal mit meinem Handy.“

Er fuhr mit seinem Smartphone mehrmals über das Klebeband, bis ein Piepston zu hören war und der Betrag auf dem Display erschien. „Wollen Sie denn von Kunden überhaupt nicht mehr belästigt werden?“, fragte ich. Eine in der Nähe stehende Kundin, die Zeugin unseres Gesprächs geworden war, lachte hell auf. Der Mitarbeiter war schlagfertig und sagte: „Ich habe Sie auf diese Möglichkeit hingewiesen, damit Sie nicht nach einem freien Mitarbeiter suchen müssen. Das kann nämlich dauern, da es kaum noch Mitarbeiter gibt.“

Suche nach der Kasse

Jetzt begab ich mich auf die Suche nach einer Kasse. Früher gab es in jeder Abteilung sowohl Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen als auch eine Kasse, heute kann man froh sein, wenn man auf der jeweiligen Etage eine findet. Die meisten Zeitgenossen zahlen auch die kleinsten Beträge inzwischen mit Karte. Solange es noch geht, ziehe ich es vor, mit barem Geld zu bezahlen. In einer nicht mehr allzu fernen Zukunft werden die Kassierer wegrationalisiert sein. In den Niederlanden geriet ich unlängst in einen Laden, der bereits weitgehend ohne auskommt. Man nimmt am Eingang einen Scanner aus der Halterung und scannt seine Einkäufe selbst. Am Ende des Einkaufs hält man die Kreditkarte an den Scanner und der Betrag wird abgebucht. Man kann einkaufen, ohne mit irgendeinem Menschen geredet und in Kontakt gekommen zu sein. Vorbei der kleine Plausch an der Käsetheke, niemand mehr da im Nirwana des Geldes und des Konsums.

Früher war Einkaufen ein sozialer Akt, der ohne Kommunikation nicht vorstellbar war. Die Läden meiner Kindheit waren nicht nur Geschäfte, sondern Begegnungsstätten. Sie waren keine Selbstbedienungsläden, sondern von Tresen und Regalen umstellte Räume, in denen die Kunden ihre Bestellungen aufgaben, die sie zu Hause auf Einkaufszetteln notiert hatten. Man kam irgendwann an die Reihe und wurde bedient. Auch die Inhaber kannten ihre Kunden mit Namen und wussten über ihre Lebensumstände Bescheid. Bis man dran kam, redete man miteinander, und auch danach redete man weiter.

Die Milch wurde in mitgebrachte Milchkannen gepumpt, Heringe mit einer hölzernen Zange aus einem Fass geholt und in Papier eingeschlagen, meist in altes Zeitungspapier. Tee, Zucker, Mehl, Gewürze waren noch nicht abgepackt, das wurde mit Schaufeln aus gläsernen Behältern geholt, gewogen und in Papiertüten gefüllt, die von Verbrechern in Gefängnissen geklebt worden waren. Viele Kunden brachten die gebrauchten Tüten beim nächsten Einkauf wieder mit. Heute werden möglichst alle kommunikativen Aspekte aus dem Vorgang des Verkaufens herausgepresst. Reden gilt als Störfaktor. Gefürchtet werden ältere Leute, die nicht mit Karte zahlen und in ihren Geldbörsen umständlich nach Kleingeld suchen.

Eine Supermarktkette aus den Niederlanden hat verstanden, dass man im Begriff ist, den Bogen zu überspannen, und eine „Plauderkasse“ für Kunden mit Redebedarf eingeführt. Das wird vom Rest der Kundschaft wahrscheinlich wahrgenommen wie eine Kasse für „Gehandicapte“, wie man Behinderte neuerdings nennt. Doch die sozialen und kommunikativen Aspekte des Einkaufens sollten nicht abgespalten und arbeitsteilig ausgegliedert werden, sondern ins normale Einkaufen zurückgeholt werden. Wie es eben auf dem Wochenmarkt noch der Fall ist, der von Menschen aufgesucht wird, um Einkäufe zu tätigen, Freunde zu treffen und miteinander zu reden.

Leiden an Anonymität

Es gibt ein verbreitetes Leiden an der wachsenden Anonymität und Entfremdung und eine große Sehnsucht nach Orten, an denen man wahrgenommen und wiedererkannt wird, eine Sehnsucht nach der sinnlichen Dichte der Welt und leiblicher Anwesenheit, nach einer Zeit, als die Menschen noch Dinge herstellten und Werkzeuge benutzten, statt zu Anhängseln von Maschinen und Algorithmen zu werden. Eine Welt, in der, wie Bertolt Brecht sagte, alles „in die Funktionale gerutscht ist“, wird sich am Ende als nicht lebbar erweisen. Den Widerstand gegen diese Tendenzen dürfen wir nicht dem rechten Populismus überlassen, der die Sehnsüchte zur Gartenlaube „zurückbetrügen“ möchte, wo wie in Großmutters Nähkästchen alles an seinem Platz liegt und im Dämmerlicht des Kerzenscheins aus einer kalten, funktionalen Gesellschaft eine heimelige, warme Gemeinschaft wird.

Es gilt vielmehr, die regressiven Sehnsüchte der Menschen im Sinne Ernst Blochs in „Träume nach vorwärts“ zu verwandeln. Nicht in einer das Fremde und Andere ausgrenzenden „Volksgemeinschaft“ liegt die Lösung, sondern in einer solidarischen Gesellschaft, die die wild gewordene Ökonomie zurückpfeift und vernünftigen Zielen unterstellt. 

Der Artikel erschien bereits im Gießener Anzeiger vom 27.12.2019

Unser Wirtschaftssystem hat eine Epidemie der Einsamkeit erzeugt…

…sagt George Monbiot, Kolumnist beim Guardian und Buchautor („United People: Manifest für eine neue Weltordnung“, „Hitze“, „Out of the Wreckage. A New Politics for an Age of Crisis“) in einem Interview (hier ein Auszug) mit Kontext TV

„Bei einer Weltbevölkerung von sieben Milliarden ist es schon bemerkenswert, dass viele Menschen keinen echten Freund haben. Mittlerweile zeigen Zahlen aus einer Reihe von Ländern, dass diese schreckliche Krankheit der Einsamkeit nicht, wie man lange glaubte, nur alte Menschen befällt, sondern Menschen aller Generationen. Und gleichzeitig zeigt sich, dass sie furchtbare Folgen sowohl für das psychische als auch das körperliche Wohlbefinden von Menschen hat. Studien deuten darauf hin, dass chronische Einsamkeit genauso schädlich für den Körper ist wie 15 Zigaretten am Tag und doppelt so schädlich wie Übergewicht. Einsamkeit reduziert die Lebenserwartung und schadet der Gesundheit insgesamt, auch dem Herz-Kreislauf-System. Wir können nicht alleine überleben, wir zerstören uns selbst, wenn wir es versuchen. Doch unser entfremdendes Wirtschaftssystem zwingt uns in die Einsamkeit, weil es uns vorspiegelt, dass Alleinsein unser natürlicher Zustand sei.

Die dominante Denkweise unserer Zeit, die sich grob als Neoliberalismus beschreiben lässt, gründet auf der Annahme, dass Menschen grundsätzlich gierige, egoistische Wesen sind, die ständig miteinander kämpfen. Dahinter steht das Bild einer Menschheit, die sich gegenseitig bekriegt, wie der Philosoph Thomas Hobbes einst behauptete. Das aber hat sich als falsch erwiesen, dieses Menschenbild passt nicht zu den Erkenntnissen der Sozialpsychologie, der Anthropologie und der Evolutionsbiologie über das menschliche Verhalten. Wir tragen zwar alle auch Egoismus und Gier in uns, aber unsere Grundwerte sind Altruismus, Gutmütigkeit, Gemeinschaftssinn und Familiensinn.

Das sind die dominanten Eigenschaften des Menschen. Wir sind im Großen und Ganzen eine Gesellschaft der Altruisten, die von Psychopathen regiert wird. Aber unser Selbstbild ist ein anderes, und das schlägt sich auch in der Sprache nieder. Wir schieben ständig das Wort „persönlich“ ein, als müssten wir uns vom Rest der Welt abgrenzen. „Ich persönlich“, sagen wir, als gäbe es noch ein anderes ich. Wir haben „persönliche Beziehungen“, die wir den „unpersönlichen“ vorziehen. Wir sagen: „Aber das ist nur meine persönliche Meinung“ – früher auch einfach bekannt als „meine Meinung“. Wir sprechen nicht mehr von Menschen, sondern von Individuen. Wir idealisieren den einsamen Cowboy oder den Einzelunternehmer, den Selfmade-Man/Mann (entspr. zur Selfmade-Frau) oder die Selfmade-Frau. Wir treiben uns selbst in die Einsamkeit. Unser Wirtschaftssystem sorgt dafür, und wir sehen uns auch so. Aber die Grundannahmen stimmen nicht. Das ist ein Teil der extremen Entfremdung, unter der so viele Menschen leiden.“ (Quelle: www.kontext-tv.de)

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