Der Weg aus der Sucht in die Lebendigkeit:

Sinn war die heilende Antwort auf meine Sucht. Sinn in der Sinnlichkeit zu suchen, führte mich noch tiefer in die Sucht hinein. Anregungen für die Befreiung aus einem bitter-süßen Gefängnis.

Es fing ganz harmlos an. Mit einer Gewohnheit, die sich in meinem Alltag etabliert hatte. „Ist doch nicht so schlimm,“ dachte ich, „natürlich könnte ich sofort aufhören, aber warum sollte ich?“ Auf einmal begann es mich doch zu stören und ich versuchte es zu lassen. Das ging aber irgendwie nicht. Neben den körperlichen Folgen gab es nun eine weitaus schlimmere Belastung: Ich konnte nicht mehr ohne. Etwas so Banales wie Schokolade hatte mehr Macht über mich als ich selbst. Das war mehr als ärgerlich. Das Willensspiel begann, ein Spiel bei dem ich immer wieder verlor. Tage der Askese wechselten ab mit maßlosem Ausagieren. Scham war die Folge. Heimlichkeit. Als ich den Mut fand, mich zu offenbaren, hörte ich: „Schokoladensucht – ach wie süß! Ist doch nicht so schlimm.“ Ein Teil in mir wünschte, das würde stimmen, aber ein anderer Teil in mir wusste bereits, dass es nicht stimmte. Zehn Jahre war ich schokoladensüchtig und süchtig nach Zucker in allerlei Form. 17 Jahre habe ich andere Süchte gelebt, allesamt solche, die von vielen nicht erst genommen wurden und die gesellschaftlich etabliert sind. Das hat mich zu einer tiefen Auseinandersetzung mit dem Thema geführt „Wie schaffe ich es eigentlich, mich selber auszuhalten“, anstatt die Flucht in die Sucht anzutreten. Einiges, was mir auf meinem Genesungsweg geholfen hat, möchte ich skizzieren.

Auf das innere Kind hören

Sucht, so fand ich heraus, ist ein Weglaufen, eine Fluchtreaktion gegenüber dem, was in mir gehört, gefühlt, geliebt und gelöst werden möchte. Um zu einer Kraft zu gelangen, die Hören, Fühlen, Lieben und Lösen ermöglicht, also zu einer Kraft, die größer ist als die Sucht, ist es aus meiner Sicht erforderlich, dem eigenen System nach und nach mehr Energie zuzuführen, als ihm zuvor zur Verfügung stand. Auf der Ebene des Inneren Kindes, der psychischen Ebene also, war es enorm wichtig, zu üben, mich regelmäßig mikroskopisch genau mitzuteilen, mit allen Gedanken, Gefühlen und meinem Ist-Stand bezüglich der Sucht. In meinem Fall geschah das innerhalb einer Gruppe von Betroffenen, in einer Gemeinschaft aus Menschen, die wussten, wovon ich redete und in der ich die Erfahrung machen durfte, dass ich auch dann gemocht und respektiert werde und dabei sein darf, wenn ich mich so zeige, wie ich bin. Teil dieser Gemeinschaft zu sein, gab meinem Leben wieder einen Sinn, denn ich war Teil von etwas, das größer und stärker war als die Sucht und es war schön in dieser Gemeinschaft mitwirken zu dürfen, nach einer Zeit auch überschaubare Aufgaben darin zu übernehmen.
Und zu üben allein zu sein, war genauso wichtig: Stille, Besinnung, Meditation. Durch die Meditation des weichen Bauches lernte ich alle Gefühle zu fühlen, ohne sie in irgendeiner Weise ausagieren zu müssen, lernte die Vorgänge in meinem Geist genauer wahrzunehmen, die mich zuvor in die Fress-Attacken geführt hatten, sie zu beobachten und weiterzuatmen. Nach einer Weile war ich auch zu Wiedergutmachung und Vergebung bereit, denn ich hatte gelernt zu verstehen, warum Menschen so sind, wie sie sind. Das Enneagramm war mir eine große Hilfe dabei. Ich machte den Schaden, den das verletzte Kleinkind in mir angerichtet hatte, wieder gut, wo immer es möglich war und es wurden Mengen an Energie dadurch frei. Ich gönnte mir viel Bonding (= Gehalten werden), sozialisierte diesen Teil in mir, der als Kleinkind zu kurz gekommen war, als Erwachsene nach. Einige Fachleute sind sich einig, dass wir so anfällig für Süchte sind, weil wir in unserer Kindheit zu wenig gehalten und zu kurz oder gar nicht gestillt worden sind.

Kraftquellen erkennen

Ich mistete innerlich wie äußerlich aus, machte eine gründliche und furchtlose Inventur in mir und in meiner Wohnung. Und mit jedem veralteten Stück, das in die Tonne kam, wurde etwas Energie frei für ein neues Leben. Ich lernte zu unterscheiden zwischen dem, was mir Kraft gab und dem, was mir Kraft raubte, und entwickelte allmählich den Mut, mich abzugrenzen gegen die, die mir nicht gut taten. Als eine Ursache für die Entstehung von Sucht nennen Fachleute Erfahrungen von Grenzüberschreitungen in der Kindheit. Das Kind verlässt in der traumatischen Situation innerlich seinen Körper, um zu überleben, wodurch es ihm später an gesunder Körperwahrnehmung mangelt, an der Fähigkeit, im eigenen Körper gesunde Grenzen erspüren zu können, sie zu respektieren, den eigenen Körper als weisen Berater zu nutzen. Ich übte, auf den Teil in mir zu hören, der nicht von Schokolade sprach. Sinn ist die heilende Antwort auf Sucht. Sinn in körperlicher Sinnlichkeit zu suchen, wie es ja nicht nur in der Werbewelt so hübsch angepriesen wird, führte mich noch tiefer in die Sucht hinein. Neulich formulierte ein Yogalehrer so passend: „Sinnliche Sensationen gibt es ohne Ende. Aber das führt zu nichts.“ Das Anzapfen sexueller Energien ist selbst dann ungeeignet für die Genesung, wenn Sex nicht Bestandteil der Sucht ist.

Gier nach Süßem: oft Ersatz für wahre Sinnlichkeit und das Zulassen auch unangenehmer Gefühle

Erkenntnis: Ich habe es nicht im Griff

Auf der geistigen Ebene lernte ich, dass die Annahme, Mensch könne Sucht allein mit Willenskraft bezwingen, ein typischer Anfängerfehler ist von denen, die noch nicht zur Kapitulation bereit sind. Die Genesung von Sucht, so merkwürdig es für die meisten zunächst immer klingt, beginnt in dem Moment, in dem wir erkennen: Ich habe es nicht im Griff – ich kann Heilung nicht machen, aber eine Macht größer als ich selbst, wird meine Heilung unterstützen und dieser Macht vertraue ich mich an. „50 Prozent machen wir und 50 Prozent macht unsere Höhere Macht“, so heißt eine Weisheit in den Gruppen, in denen Menschen Hilfe finden, die genesen möchten. Es gibt keine Vorschrift, was diese Höhere Macht ist. Für manche ist es die Kraft, die in einer ehrlichen, annehmenden, mitfühlenden, verstehenden, dankbaren Gemeinschaft spürbar wird, für manche ist es Gott, wie sie Gott verstehen, für andere ist es der Große Geist in ihnen selbst, der den kleinen Geist, das alte Ego allmählich in Liebe empfängt und es dadurch heilt. Manche finden ihre Höhere Macht in der Natur. Ich treffe immer mal wieder Menschen, die der Meinung sind, das Leben in einer Großstadt, in unserer Gesellschaft, etc., sei ohne Kompensationsstrategien nicht möglich und ich treffe andere, die mir überzeugend darlegen können, dass erste konstitutionelle Schwächungen der Menschheit erst auftraten, als die Menschen in Städten zu leben begannen, die stärkende Kraft der Natur sie nicht mehr in vollem Maß erreichte.
Und noch etwas war bei all dem ganz wichtig: Nur für heute! Wenn ich mir vorstellte, ich müsste nun mein ganzes Leben abstinent bleiben oder mein ganzes Leben auf einmal in den Griff bekommen, dann war diese Vorstellung schon wieder Grund genug für einen Rückfall. Wenn ich mir aber sagte, dass es ja nur um heute geht – bereits vorm Eisfach stehend auch nur um Jetzt – dann konnte ich es leichter schaffen. Ich lernte zu erkennen, welche Situationen rückfallgefährlich waren und lernte diesen Situationen vorzubeugen, so gut es mir eben möglich war. Wenn ich einen Rückfall baute, versuchte ich mich nicht noch zusätzlich fertig zu machen, sondern fragte mich ganz ehrlich, wie es dazu gekommen war und bemühte mich dafür zu sorgen, dass es – zumindest so – nicht wieder geschah.

Zart bitter: Geschenke der Genesung

Im Falle meiner Schokoladensucht war der Entzug fließend, das heißt ich konnte wahrnehmen, dass nach und nach immer weniger Schokolade in meinem Leben vorkam, bis sie mich nicht mehr interessierte. Bei anderen Süchten war ein kalter Entzug unumgänglich. Das war nicht witzig, aber die Fähigkeiten, die ich in der Entzugsphase entwickelte, konnte ich danach für den Aufbau eines sinnvollen Lebens nutzen: Für eigene Werte eintreten, Verantwortung übernehmen, Geduld, Demut, Gelassenheit, Wahrhaftigkeit, Balance, Wissen, Mut, beherzte Tat, Selbstliebe, Dankbarkeit, nüchterne Freude, Erbarmen, Menschlichkeit, Vertraulichkeit, Wünsche aussprechen und dann loslassen, mir Unterstützung holen und Unterstützung geben. Die Geschenke der Genesung waren groß. Neben vielem anderen Wunderbarem fand ich zu meiner Berufung und zu meinem geliebten Mann. Dadurch wurde noch tiefere Heilung möglich. Durch unsere gemeinsame Ausrichtung fanden wir zu gesunder Ernährung, täglichem Yoga und einem guten Tagesrhythmus und ich machte die Erfahrung, dass dann, wenn die Energie erst mal wieder gesund im Körper fließt, von ganz allein das Interesse an allem nachlässt, was sie stoppt. Die Wiederentdeckung der Sinnlichkeit als Wert im Leben konnte erst passieren, nachdem ich sie nicht mehr missbrauchte, um meinen Schmerz zu betäuben.
Meine Genesung hat mir mein Leben ein zweites Mal geschenkt. Gemeinschaft, Wissen und Erfahrung auf sinnvolle Weise mit denen zu teilen, die genesen möchten, ist seitdem mein Herzenswunsch.

Eine Antwort

  1. Lea Ledwon

    Ein mutmachender Aufsatz! Danke dafür! Leider leben wir in einer Gesellschaft, die Süchte unterstützt – sogar bei Kindern -, weil damit Geld zu verdienen ist. Das heisst, wir müssen wirklich mal RAUStreten, damit uns unsere Süchte loslassen und wir verstehen, dass Schokoladensucht oder Alkoholismus mehr ist als unser privates Problem, das uns schämt & schwächt. Gemeinschaft finden, mit Gleichgesinnten ein alternatives Lebenskonzept aufbauen – das macht Sinn statt Sucht. Empfehlen kann ich Tamera, Glarisegg, Bread & Puppet, Ashrams jeder Art … Ahhhhhh, so erleichternd!

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