Antwort auf den Materialismus

Schon vor der Jahrhundertwende gab es als Antwort auf den Materialismus der westlichen Kultur wichtige Ansätze zur Gemeinschaftsgründung: u.a. das berühmte Monte Verità im Tessin, die anthroposophischen Camphill-Gemeinschaften, die Lebensreform- Siedlung Eden bei Oranienburg. Bekannte große Gemeinschaften jüngeren Datums sind u.a. Auroville in Indien, die Findhorn-Community in Schottland, Lebensgarten Steyerberg in Niedersachsen. Die Motivation für die Gründung einer Gemeinschaft liegt in dem Spektrum zwischen der Ablehnung von allgemeingesellschaftlichen Werten und dem bewußten Anstreben eigener Werte. Im Allgemeinen geht eine Neugründung mit einem gewissen „Aussteigen“ aus der Gesellschaft einher.

Das neue Modell

Eine uralte Gemeinschaftsform, die mit dem Rückzug aus der Gesellschaft verbunden ist, ist die klösterliche. Sie basiert auf meist strengen Vorschriften betreffend Askese, Gehorsam und Armut und geht einher mit der Verleugnung von Indiviualität zugunsten des Erreichens geistiger Werte. Die Gemeinschaft des Neuen Zeitalters unterscheidet sich sowohl von der monastischen Gemeinschaft als auch von der herkömmlichen Kleinfamilie, vom traditionellen dörflichen Verbund und dem Stammesverbund von Naturvölkern dadurch, daß die Individualität des einzelnen Mitglieds von grundlegendem Wert für die Entwicklung der Gruppe ist. Astrologisch ausgedrückt, besteht das bisherige Modell aus einer krebshaften, angepaßten Masse mit einer steinböckischen, bestimmenden und i.A. männlichen Autoritätsfigur. Das neue Modell sieht eine löwische Individualität mit einer wassermännischen Ausrichtung auf das Wohl des größeren Ganzen vor. Weibliche Werte wie Berührung, Miteinander und Veränderung sind notwendig, die Kraft von Ehrlichkeit, Wahrheit und Liebe muß Isolation, Habsucht, falsche Moral und Egoismus ersetzen. Nur dadurch werden Strukturen, die Krankheit in Mensch und Natur und schlimmstenfalls Kriege hervorrufen, abgelöst.
Neue Gemeinschaften reagieren oft auf den Egoismus und gehen „zu lieb“ miteinander um. Sie kranken daran, daß Zielsetzungen und eindeutige Entscheidungen vermieden und Kon-
flikte nicht ausgetragen werden. Eine Führung wird häufig ebenso abgelehnt wie ökonomisch erfolgreiches Wirtschaften. Hohe Reibungsverluste, Chaos und Armutsbewußtsein sind häufige Folgen. Werden diese Prozesse bewußt angegangen, entwickelt sich daraus große Kreativität, unkonventionelle Lösungen und Lebendigkeit.

Vielfalt und Absicht

Die existierenden Gemeinschaften sind so vielfältig wie die Menschen, die in ihnen leben. Verbindend ist jedoch, daß „eine Gruppe von Menschen sich entschieden hat, zusammen zu leben oder zu arbeiten, um nach einem gemeinsamen Ideal oder einer Vision zu streben“ – so die Definition für intentional communities in der US-amerikanischen Zeitschrift „Communi-
ties“. Die gemeinsamen Werte können sozialer, spiritueller, politischer oder ökologischer Art sein. Viele versuchen, im Alltag zu praktizierende Lebensformen aufzubauen, die der Gesamtgesellschaft als Modell dienen können.
Eine Gemeinschaft bedeutet also zunächst einmal, etwas miteinander gemein zu haben, in Gemeinschaft zu sein. Eine Gemeinschaft wird umso dauerhafter, stabiler und lebendiger sein, je umfassender und bewußter die gemeinsamen Werte angelegt sind. Ein Zusammenschluß von Menschen auf der rein praktischen Ebene (z.B. mit dem Ziel, ein Haus zu bauen) wird so lange halten, wie für das Erreichen des Ziels notwendig ist. Auch werden nur Teilaspekte der einzelnen Menschen angesprochen, nämlich ihre Fähigkeiten auf diesem eingegrenzten Gebiet. Die zwischenmenschliche Ebene oder ein darüber hinausgehendes Ideal sind dabei nicht wichtig.

Die zwischenmenschliche Ebene

Im Europäischen Projekte-Verzeichnis „eurotopia“ sind ca. 350 Gemeinschaften und Zentren verzeichnet, viele alternativ und an ökologischen Grundsätzen orientiert. Selbst, wenn primär „nur“ auf öko-
logische Belange ausgerichtet, wird spätenstens nach den ersten Konflikten deutlich, daß die zwischenmenschliche Ebene mit einbezogen werden muß, um ein harmonisches und kreatives Miteinander zu erreichen. Das beinhaltet das Einbringen von praktischen Fähigkeiten, emotionalen Bedürfnisse und eigenen Ideen, Konsens- und Konfliktfähigkeit, Abgrenzung vom und Dienst am anderen. Je umfassender der Rahmen gesetzt ist, desto mehr Potential kann in der Gemeinschaft entfaltet werden, umso größer ist der Raum für die Entwicklung der Einzelnen in ihrer Indiviualität und Kreativität und umso größer ist die Lebendigkeit in der Gruppe. Wird zusätzlich zu der konkreten und zwischenmenschlichen Ebene die spirituelle Ebene einbezogen, gibt es umso mehr Entwicklungschancen für die Gemeinschaft. Die ständige Herausforderung an die persönliche und geistige Weiterentwicklung, an das Hervorbringen des eigenen Potentials ist die beste Garantie für ein langfristiges Zusammensein.

Strukturen für Veränderung

Voraussetzung für eine entwicklungsfähige Gruppe ist, daß die Werte bewußt gesetzt werden und sich alle Mitglieder verantwortlich fühlen für ihre Umsetzung. Eine Formulierung der Gruppenvision und ein Mindestmaß an Kommunikationsregeln sind daher ebenso wichtig wie Zeiten des Rückzugs und der Reflektion.
Eine Gemeinschaft wird gegründet entweder aus einem gemeinsamen Interesse heraus, oder es gibt einen Initiator mit einer Vision, die andere Menschen anzieht. Auch hier gibt es eine reiche Bandbreite, und – typisch für lebendige Gruppen neuen Bewußtseins – die Strukturen verändern sich mit der Entfaltung der einzelnen Individuen und mit der Entfaltung des Gruppenbewußtseins. Die Findhorn Community z.B. wurde in ihrer Anfangszeit ausschließlich von Peter Caddy geleitet, später von einer Gruppe, und mit den Entscheidungs- und Leitungsstrukturen wird bis heute experimentiert.
Auch die ZEGG-Gemeinschaft in der Nähe von Belzig wurde von wenigen Menschen initiiert, heute treffen über 40 Personen alle wesentlichen Entscheidungen. Weitere interessante Ansätze gibt es bei Kindererziehung und Schule, Nutzung von Ressourcen, im Umgang mit Geld, in Beziehungsstrukturen, spiritueller Praxis, in der Krankenversicherung und in der Altenpflege.

Neue Lebensmodelle – Gemeinschaften mit Zukunft

Das AQUARIANA Praxis- und Seminarzentrum für inneres Wachstum, Heilung und kreative Gestaltung – selbst auch von einer Gruppe gestaltet – hatte in diesem Frühjahr die Reihe „Neue Lebensmodelle – Gemeinschaften mit Zukunft“ durchgeführt. Das große Interesse daran und ein ebenso großer Mangel an konkretem Wissenn zeigt die Notwendigkeit von Information und Vernetzung an. Die Reihe wird daher im Herbst mit der Vorstellung weiterer Gemeinschaften fortgeführt (u.a. Auroville, Weg der Mitte, Findhorn).

Einige Beispiele

Zwei monastische Gemeinschaften in Frankreich, die zum interreligiösen Dialog wesentlich beitragen, sind die protestantische Bruderschaft von Taizé, gegründet von Frère Roger und Plum Village, geleitet von dem buddhistischen Mönch Thich Nhat Hanh. Beide führen in den Sommermonaten Gästeprogramme durch, wobei sich Taizé insbesondere an Jugendliche wendet.
Große, spirituell ausgerichtete Gemeinschaften ohne spezifisches religöses Dogma sind Auroville, gegründet von Sri Aurobindo und der Mutter sowie die Findhorn-Gemeinschaft. Beide nehmen das ganze Jahr über Gäste auf bzw. bieten ein Gästeprogramm an.
Das Zentrum für Experimentelle Gesellschaftsgestaltung ZEGG bietet verschiedene Wochen an, in denen praktische Erfahrungen in der Gemeinschaft gemacht werden können. Ihr jährliches Sommercamp hat das Thema „Eros, Liebe, Sexualität“.

Praktische Hinweise

Adressen sind zu finden im Europäischen Projekte-Verzeichnis eurotopia (zu beziehen beim Ökodorf-Buchversand, Dorfstr. 4, 29416 Groß Chüden). Die gleichnamige Zeitschrift ist bedauerlicherweise kaum bekannt und hat z.Z. (deshalb?) leider ihr Erscheinen eingestellt. Eine Datei von Gemeinschaften und Gemeinschaftssuchenden führt Karl-Heinz Meyer von der Delphin-Gemeinschaft. Er führt auch Gemeinschaftsberatungen durch (Tel. 07622/671 322). Im Internet sind auf der website www.gaia.org verschiedene Gemeinschaften zu finden sowie das Global Ecovillage Network G.E.N. Unter www.ic.org sind 405 Gemeinschaften aufgeführt; die website wird herausgegeben von der Fellowship for Intentional Community FIC, die auch die erwähnte „Community“-Zeitschrift herausgibt. Interessante Führer sind „Diggers and Dreamers“ für Großbritannien und das „Communities Directory“ für die USA.

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