Wir chatten und skypen, pflegen hunderte virtuelle Freundschaften, statt ein reelles Gegenüber zu haben, das man ansehen, hören oder sogar anfassen kann. Umso mehr gewinnt das haptische System an Bedeutung. Laut einer Forsa-Umfrage herrscht in unserer optisch und akustisch überreizten Gesellschaft Berührungsarmut, jeder achte Bundesbürger fühlt hier einen Mangel. Einige von ihnen kommen deshalb zu Milka Reich. In ihrem Beruf als Berührerin verfolgt sie diese Entwicklung und begleitet Menschen auf der Suche nach Berührung.

Berührung im Mutterleib

Die Fähigkeit, Berührung zu empfinden, ist Merkmal alles Lebendigen, und sie ist uns angeboren. Wir können blind, taub oder stumm auf die Welt kommen – aber niemals ohne Tastsinn. Schon Einzeller reagieren auf haptische Reize, Embryos beginnen ab der achten Schwangerschaftswoche, ihre Umgebung tastend zu erforschen. Sie berühren die Nabelschnur oder sich selbst, reagieren auf Berührung an den Lippen (dort befinden sich die meisten Tastrezeptoren), während Gehör und Augen noch gar nicht ausgebildet sind. Es ist der einzige Sinn, der unentbehrlich ist, der Verbindung stiftet zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung, innen und außen, uns und der Welt. Wir sehnen uns alle unbewusst dorthin zurück – aber die Zeit im Uterus mit seiner warmen und nahezu schwerelosen Ganzkörperberührung ist leider vorbei. Nur das noch nicht geborene Kind schwebt darin, verbunden, rundumversorgt.

In diesem frühen Stadium können wir, wiederum durch Tasten, von außen bereits Verbindung zu ihm aufnehmen. Hebammen und Ärzte nutzen Berührung zur Diagnose, tasten Höhenstand und Muskeltonus der Gebärmutter, Fruchtwassermenge sowie Lage und Größe des Kindes. Haptonomisch ausgebildete Hebammen nehmen noch weiterführenden Kontakt auf, hier kann ein Kind durch die Bauchdecke hindurch beruhigt, bewegt oder nötigenfalls gedreht werden. Nach der Lehre der Haptonomie („Lehre von der Berührung“, zurückgehend auf Frans Veldman, 1921-2010) kann „haptonomischer Kontakt der Eltern zu ihrem Kind eine fundamentale Daseinsbestätigung und –bestärkung des Kindes sowie eine Vertiefung der Beziehung der Eltern untereinander bewirken.

Postnatal zeigen Kinder, die haptonomisch affektiv begleitet wurden, eine harmonischere und schnellere Entwicklung und eine sehr frühe psychische Entfaltung. Sie können psychomotorisch besser koordinieren, sind aufmerksamer und lebhafter.“

Berührung ist existentiell

Wenn ein Kind geboren ist, kann es kaum sehen, nur hören und ein bisschen riechen – der Tastsinn hingegen ist stark ausgeprägt. Es braucht Körperkontakt für eine psychisch wie physisch gesunde Entwicklung und ist selbst hochtaktil. „Nach der Geburt sollten Mutter, Vater und das Kind die Gelegenheit zu ausgiebigem Körperkontakt bekommen. Idealerweise nimmt die Mutter, wenn sie bereit ist, selbst das Kind zu sich. Nicht gleich wegnehmen und waschen, untersuchen, anziehen. Oder gleich auf den Bauch der Mutter legen, ohne dass diese dazu bereit ist. Es geht um Berührtsein. Berührt zu werden fängt damit an.“ (Ina Mailänder, Hebamme)

Das Tragen eines Babys im Tragetuch ähnelt den Bedingungen im Bauch: Wärme, Herzschlag und jeder Schritt der Mutter (oder des Vaters) sind spürbar und geben Sicherheit. In vielen afrikanischen Kulturen ist das enge körperliche An-sich-Binden des Kindes völlig selbstverständlich.

Berührung im Lebenszyklus

Berührung bildet und stärkt die eigene Körperwahrnehmung. Da sich die meisten Tast-Rezeptoren an Lippen und Zunge befinden, stecken Babys und Kleinkinder sich zur Erkundung der Welt erstmal alles in den Mund – sie begreifen und erfassen Dinge durch buchstäbliches Be-greifen und eben Er-fassen. Später ist Berührung oft an besondere Bedingungen geknüpft: bei voller Windel, Schmerzen, Krankheit, zum Einschlafen, Trösten oder nach besonders gut erbrachter Leistung … gibt es Streichel einheiten.

In der Pubertät kommt Sexualität hinzu, verstärkte Selbstberührung durch Masturbation, erste Küsse und Umarmungen, noch später ein fester Partner, dann vielleicht eigene Kinder, eine eigene Familie mit ihrem Berührungskosmos, in dem der ganze haptische Entwicklungsbogen dann von vorne beginnt. Mit zunehmendem Alter wird Berührung immer seltener. Wir schreien abends längst nicht mehr: „Kraul mich!“, wie meine zehnjährige Tochter das noch tut. Aber irgendwann ist vielleicht kein Beziehungskontext mehr da, kein Partner, den man darum bitten könnte. Man geht zum Arzt, Physiotherapeuten, vielleicht zu einer Prostituierten oder Kosmetikerin; man gönnt sich nach der Sauna eine Massage. Man geht zur Berührerin. Man hält sich eine Katze. Würden wir uns mehr streicheln, wenn wir ein Fell hätten? Viele Menschen erfahren im Alter über Jahre hinweg keine einzige liebevolle Berührung. „Ich gehe zu meinem Frisör, schüttele ab und zu jemandem die Hand. Aber das war es dann auch schon“, sagt einer meiner betagteren Klienten.

Was macht eine Berührerin?

Zu mir kommen Männer und Frauen jeden Alters, mit und ohne Behinderung. Meine Arbeit liegt zwischen professionellem Rotlicht, Wellness, Körper- und Psychotherapie und ist weit mehr als eine Dienstleistung. Zuerst spreche ich „normal“ verbal, erfahre Lebensgeschichten, Schicksale. Ein Unfall, Verbrennungen, Beziehungsund Erektionsprobleme, schlichte Neugier, Einsamkeit, fehlende Arme eines Contergan-Geschädigten, Depressionen, Burn-Out … alles ist dabei. Danach verlege ich das Gespräch auf die Matte, stelle Fragen mit den Händen und lausche auf körperliche Antworten. Die sich daraus ergebende – leise, aber höchst differenzierte – Kommunikation ist immer authentisch und Richtschnur der Behandlung. Es gibt keinen festen Ablauf. Jedem steht frei, so viel auszuziehen, wie er möchte.

Eine junge Frau lag einmal in dickem Pullover und Jeans auf der Matte, weil sie schon zufällige Berührung in der Schlange der Supermarkt-Kasse nicht ertrug. Nur bei der Berührung mit Tieren hatte sie kein Problem, im Gegenteil, sie verbrachte ihren Urlaub immer in einer Pferde- Herde. Ich habe sie für mein Gefühl so gut wie gar nicht angefasst – aber selbst das war für sie schon fast zuviel. Ein anderer Klient brach bereits in Tränen aus, als ich ihn, ganz zu Anfang, noch gar nicht berührt, sondern nur erstmal sorgfältig mit einer weichen Decke zugedeckt hatte.

Berührung wirkt unmittelbar und nachhaltig

Weit stärker als jede Form verbaler Zuwendung kann sanfte Berührung unmittelbares Vertrauen und Wohlbefinden erzeugen. Der Körper interpretiert Berührung als ein Versprechen: „Ich werde dir helfen“ – und entspannt sich. Es werden die Entspannungshormone Oxytocin und Prolaktin sowie Endorphine ausgeschüttet, gleichzeitig senkt sich der Stresshormonspiegel (Cortisol). Berührung lindert Depressionen und chronische Schmerzen, kräftigt das Immunsystem und senkt Herzfrequenz und Blutdruck. Sie entspannt Asthmatiker. Sie ist eine wichtige vertrauensbildende Maßnahme: Patienten empfinden Arztbesuche mit Berührung als doppelt so lang wie ohne und haben mehr Vertrauen in die Behandlung. Auch Beziehungen verlaufen glücklicher, wenn sich die Partner häufig berühren. Massagen wirken stimmungsaufhellend, Händchenhalten beruhigt, die Berührung warmer Gegenstände macht großzügig.

Martin Grunwald, Leiter des Haptik-Labors an der Universität Leipzig, entwickelte ein sogenanntes Haptimeter, eine Test-Apparatur, die haptische Fähigkeiten messbar macht. Diesen Test absolvierten alle möglichen Probanden mehr oder weniger gut – diejenigen, denen dies jedoch sehr schlecht oder gar nicht gelang, waren Probanden mit Magersucht. Der mögliche Zusammenhang zwischen Magersucht und einer quasi körperlosen Erziehung brachte Grunwald auf die Idee, magersüchtige Probanden in einen eng anliegenden Ganzkörperanzug zu stecken. Sie sollten ihn mehrmals pro Tag tragen. Die Bewegung darin erzeugte ständig wechselnden Hautkontakt, machte Körpergrenzen spürbar. Mit der Zeit konnten die Probanden, die sich krankheitsbedingt ja dick fühlen, ihre eigene Magerkeit sehen und sich darüber wundern. Die Berührung der Catsuits hatte ihre Körperwahrnehmung verändert. Für eine körperliche und psychische Gesundheit braucht der Mensch Berührung anscheinend fast ebenso dringend wie Nahrung und Schlaf. Das gesamte biologische System profitiert, egal ob Kleinkind oder Erwachsener.

Der haptische Sinn lässt sich nicht abstellen

Genauso unumstößlich ist allerdings die Tatsache, dass sich der Tastsinn nicht abschalten lässt. Man kann ihn nicht zuhalten wie Ohren, Augen und Nase. Er transportiert Emotionen und wirkt so unmittelbar, dass man sich quasi nur durch räumliche Distanz entziehen kann. Ein Patient vermeidet Blickkontakt, rückt bei der Untersuchung unmerklich ab, ein Gegenüber verschränkt die Arme vor der Brust, der Partner dreht einem den Rücken zu und rutscht an die äußerste Bettkante. Werden solche Signale von dem, der berührt, missachtet, bekommt Berührung einen übergriffigen Charakter, ganz egal, wie wohlmeinend seine Worte in dem Moment sein mögen. Körper können nicht lügen. Ein körperlicher Übergriff wird sofort als solcher verstanden und löst instinktiv Fluchttendenzen aus. Wird durch massive Gewaltanwendung eine Flucht verhindert, hat dies katastrophale Folgen. Körper speichern gute wie schlechte Erfahrungen, und Missbrauch oder Folter hinterlassen ihre Spuren physisch wie psychisch ein Leben lang.

Herantasten

In meine Praxis kommen meist Menschen, die sich ausdrücklich Berührung wünschen, die von ihrer Sehnsucht berichten oder ihrem Defizit. Ein solches Vorgespräch kann sich aber deutlich vom Sachverhalt unterscheiden, der sich anschließend während der Behandlung zeigt. Beispielsweise lag ein Klient einmal wie ein Stein auf der Matte, und es stellte sich heraus, dass er eigentlich gar nicht in der Lage war, sich auf irgendeine Berührung einzulassen – seine Frau war kürzlich gestorben. Die Sitzung bestand dann mehr aus Trauerarbeit als aus körperlicher Berührung oder Massage. Ohne Herantasten, ohne mit den Händen noch einmal nachzufragen, hätte ich dies aber nicht herausgefunden.

Letzter Sinn

So wie der Tastsinn uns ins Leben hinein begleitet, so begleitet er uns auch wieder hinaus. Liegt ein Mensch im Sterben, der kaum noch sprechen, hören und sehen kann, ist das Letzte, was er dennoch spürt, Streicheln, Berührung, ein Händedruck – den er vielleicht sogar noch erwidert. Oftmals ist dies für alle Beteiligten sehr bewegend, denn womöglich spielte Berührung im Leben des Sterbenden keine große Rolle. Umso mehr kann sie es jetzt tun, etwas versöhnen, oder noch etwas sagen, was mit Worten nicht auszudrücken war.

Literatur
Tine Müller-Mettnau „Gestillte Sehnsucht – starke Kinder“, Eigenverlag
Martin Grunwald / Lothar Beyer „Der bewegte Sinn“, Birkhäuser
Cem Ekmekcioglu „Drück mich mal“ , Westend
Werner Bartens „Wie Berührung hilft“, Knaur
Marion Grillparzer / Susanne Wendel „Der Feelgood Faktor“, Südwest

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