Ein Amoklauf fällt nicht vom Himmel! Meist geht ihm ein langes Leiden mit Kränkungen und unterdrückter Wut voran. Anette Dröge über die Ursachen der mörderischen Wut.

 

Interessanterweise leitet sich das Wort Amok von dem malaysischen Begriff „meng amuk“ ab. Überliefert ist im 15. Jahrhundert die Existenz von extrem furchtlosen Kriegern, die auch „Amucos“ genannt wurden, da sie mit dem Kriegsschrei „meng amuk“ in den Kampf zogen. Sie waren berühmt und berüchtigt dafür, auch überlegene Heere anzugreifen und die Feinde zum Teil schon mit ihrer furchtlosen Entschlossenheit in die Flucht zu schlagen – und furchtbare Blutbäder anzurichten.

Zu dieser mörderischen Entschlossenheit kommen noch die totale Abgespaltenheit vom Mitgefühl für die Opfer und den Folgen der Tat und das Bedürfnis nach Ruhm und Anerkennung – eine Spur im Tode zu hinterlassen, wenn es schon nicht im Leben gelungen ist –, und damit sind man einige wesentlichen Fakten von Amokläufern skizziert.

Der erste aufgezeichnete Amoklauf und das bis dahin schlimmste Massaker wurde 1927 in den USA dokumentiert. Dort tötete ein erwachsener Mann und Mitglied eines Schulkomitees insgesamt 45 Schüler; weitere 58 Menschen wurden verletzt. Als Grund wurden damals finanzielle Schwierigkeiten vermutet. Er löschte zunächst seine Familie aus, brannte seinen Hof nieder – inklusive seiner Tiere, die er im Stall angebunden hatte! Zuvor hatte er Bomben mit Zeitzündern an der Schule angebracht.

Amok: extremes Ende einer Leidensphase

Für Außenstehende ist es meist gar nicht nachzuvollziehen, warum ein Amoklauf passiert ist. Kein Wunder: Ein Amoklauf ist das extreme Ende einer sehr langen Phase von Unterdrückung, Demütigung und Abspaltung fast aller Gefühle. Er ist fast immer von langer Hand geplant und es gibt meistens Ankündigungen und Vorzeichen. Da erzählte beispielsweise ein Schüler öfter Geschichten über einen Jungen, der angeblich eine Bombe in die Schule mitbringt oder ein Gewehr. Ein anderer gab einen Aufsatz ab, in dem er beschreibt, wie die Schule in die Luft gesprengt wird… In einem weiteren Fall verließ ein späterer Amokläufer, nachdem er zum wiederholten Male gedemütigt worden war, weinend den Sportunterricht mit den Worten: „Das werdet ihr büßen!“

Es gibt inzwischen wichtige bekannte Symptome, die auf einen bevorstehenden Amoklauf hinweisen, wie zum Beispiel:

  • Depressive Anzeichen bei Außenseitern
  • Rückzug in gewalttätige Computerspiele – zunächst, um Frust abzubauen
  • Suizidäußerungen und Äußerungen über Gewalttaten, Todeslisten und ein starkes Rachebedürfnis
  • Die Denkweise, dass man nichts mehr zu verlieren hat
  • Ein unerfüllter Wunsch nach Anerkennung
  • Es werden Personen genannt, an denen Rache genommen werden soll als Ausgleich für empfundene Demütigungen
  • Und ein besonders wichtiges Symptom, das Forscher gefunden haben: den Verlust von Humor. Wenn ein Mensch keinen Humor mehr hat, wird es ernst. Das kann ein erstes Anzeichen für eine innere Abspaltung von seiner Gefühlswelt sein.

Das Planen und innere Durchschreiten des Ablaufs verschafft dem Amokläufer erst einmal innere Erleichterung und „Ladungsabfuhr“, wie wir das in der Körperorientierten Psychotherapie nennen. Die eigentliche Durchführung ergibt sich dann spontan durch einen akuten Auslöser, meist eine weitere Kränkung. Da reicht das Verweigern einer Tasse Kakao in der Mensa oder ein weiterer schräger Blick von einem Mitschüler. Auffallend ist die totale innere Ruhe und Abgespaltenheit von jeglichen Gefühlen, mit der der Täter dann zu Werke geht. Die Kälte und Entschlossenheit sprechen für die überdimensionale Wut, die im Inneren so lange gewütet hat und sich nun radikal eine Bahn bricht.

Tödlich und emotionslos

In Amerika hat ein Jugendlicher bei einem Amoklauf mit jedem Schuss getroffen – ohne Ausnahme. Das hat die Polizei so überrascht, dass sie versucht hat herauszufinden, wie das möglich ist – wo doch die gut ausgebildeten Polizisten nicht bei jedem Schuss ins Schwarze treffen. Das Ergebnis war, dass die Polizisten auch im Einsatz immer noch ein moralisches Empfinden und Mitgefühl hatten, wohingegen der Amokläufer völlig abgespalten von allen Emotionen draufgehalten hat und sich wie in einem Videospiel verhielt – unerreichbar für das Leid und die Not, die er gerade verbreitet. Ein Hindernis zur genaueren Erforschung von Amokläufen ist allerdings immer der mit einem Amoklauf einhergehende Tod des Täters. Es gibt nur ganz wenige Fälle, in denen Täter lebend gefasst werden konnten.

Brutaler Überdruck

Wie kommt es zu diesem inneren Überdruck, der sich in einem Amoklauf entlädt? Die meisten Täter hatten zuvor Schwierigkeiten, mit bedeutsamen Verlust- oder Versagenssituationen fertig zu werden. Viele hatten Selbstmordgedanken oder haben versucht, Selbstmord zu begehen. Deshalb ist es so wichtig, auffälliges Verhalten zu bemerken. Die meisten Täter hatten auch vor dem Amoklauf schon Zugang zu und Erfahrung mit Waffen, was sie dann auf die Idee gebracht hat, dass sie mit Waffen ihr Problem lösen könnten.

Interessanterweise hat sich in vielen Fällen im Nachhinein herausgestellt, dass oft andere Schüler in den Amoklauf mit verwickelt waren, zum Beispiel, indem sie den Täter ermutigt haben, eine Waffe mit in die Schule zu bringen, um cool auszusehen, oder sogar, um auch damit zu schießen und sich dadurch Respekt zu verschaffen.

In allen Fällen, über die ich gelesen und von denen ich gehört habe, wuchsen die zumeist jugendlichen Täter in extremen familiären Situationen auf, wie zum Beispiel in großer häuslicher Kälte verbunden mit einem sehr hohen Leistungsanspruch an das Kind. Oder mit sehr strenger unterdrückender Erziehung, die die Selbstentfaltung verhinderte. Die Kinder konnten sich niemandem anvertrauen bzw. lernten es zu Hause in so einer Umgebung auch nicht. Dadurch entsteht in jedem Menschen eine sehr hohe innere „Ladung“, insbesondere wenn der Ausdruck von natürlichen Gefühlen als Reaktion nicht „erlaubt“ ist – wie Wut, Hass und der Wunsch nach Abgrenzung oder die Sehnsucht nach Nähe, Geborgenheit und Verständnis. Wissenschaftler sprechen davon, dass Amokläufer durch Persönlichkeitsstörungen, Psychosen oder auch Drogenmissbrauch am Ende eine sehr geringe Frustrationstoleranz haben, sodass sie irgendwann als einzigen Ausweg nur noch Rache oder Tod sehen.

Innere Einsamkeit

Die tiefe innere Einsamkeit, sich niemandem anvertrauen zu können, ist ein weiteres wichtiges Indiz für die große innere Not und Isolation eines potentiellen Amokläufers. Deshalb ist es um so wichtiger, mit „Außenseitern wider Willen“ oder Einzelgängern, die sehr angepasst, aber zurückgezogen in der schulischen Gemeinschaft leben, immer wieder ins Gespräch zu kommen – selbst wenn es dabei „nur“ um Videospiele geht –, um auf diese Weise in Kontakt und im Gespräch bleiben zu können. Nicht nur verstörte Außenseiter, sondern auch psychisch gesunde Menschen reagieren auf zu starken Druck von außen zunächst mit dem Aufbau eines sehr großen inneren Druckes. Je mehr wir gezwungen werden, durch äußere Einflüsse wie eine rigide Erziehung unseren gesunden Selbstausdruck zurückzuhalten, umso größer wird dieser innere Druck.

Im Erwachsenenalter finden dann sich daraus ergebende innere Prozesse wie zum Beispiel die Abwertung der eigenen Wünsche, Leistungen und Gedanken oder die völlige Negierung der eigenen Liebenswürdigkeit zumeist unbewusst statt. Durch eine Kindheit in großer seelischer Ungeborgenheit und Kälte entsteht im Inneren ein extrem strenges „Über-Ich“, das dann jede Tat, jede Leistung und jeden Wunsch bewertet und vor allem auch jeden Wunsch unterdrückt. Dieses System der inneren Repression gleicht irgendwann einem Hochdrucktopf, in dem der Druck ständig zunimmt und der dann durch die kleinste Erschütterung explodiert.

Unterstützung holen

Jeder, der schon mal an sich gearbeitet hat, weiß, wie gut und erleichternd es sich anfühlt, wenn wir mit unserer eigentlichen inneren Wahrheit wieder in Kontakt kommen können. Egal, um welches Gefühl es geht – es fühlt sich erlösend an, wenn wir wieder fühlen können und dürfen, was uns im Inneren beschäftigt. Wenn wir uns richtig tief festgefahren haben, geschieht diese Kontaktaufnahme allerdings am besten mit Unterstützung von außen. Ein ganz wichtiger Aspekt im Umgang mit großen, tiefen und dramatischen Gefühlen ist deshalb die Fähigkeit, sich Unterstützung zu holen. Es ist ein wichtiger Aspekt seelischer Gesundheit, sich jemandem anvertrauen zu können und Unterstützung zu bekommen. Oft hilft ein ehrliches Gespräch mit einem Dritten, um eine schwierige Situation in einem neuen Licht sehen zu können.

Bei Amokläufern – soweit man das überhaupt erforschen kann – liegt allerdings meistens eine sehr tiefe Störung vor, die es verhindert, „lösungsorientiert zu reflektieren“ oder sich Hilfe zu holen, um beispielsweise aus einer Mobbing-Situation herauszukommen. Dabei herrschen in der Seele so hohe Druckverhältnisse, dass als einzige sinnvolle Abfuhr die Planung und das „Voraus- Empfinden“ einer extrem dramatischen, einschneidenden finalen und mörderischen Aktion erscheint. Es handelt sich hierbei im wahrsten Sinne des Wortes um mörderische Wut.

Amok: der schräge Weg zum Ruhm

Diese mörderische Wut drückt sich auch in dem bereits erwähnten Phänomen aus, dass es sehr schwierig ist, die Verhaltensursachen von Amokläufern zu erforschen, da es so wenige überlebende Täter gibt. Der Amoklauf endet ja überwiegend mit dem Tod, meist dem Selbstmord des Täters. Schon ein Selbstmord gilt in der Psychologie als ein Akt extremer Aggression und Autoaggression, da der Selbstmörder durch seinen Tod nicht nur sein eigenes Leben beendet, sondern auch seine Angehörigen in höchstem Maße mit verletzt und sie sogar innerlich zerstören kann durch die Schuldgefühle und Trauer im Nachhinein. Um wie viel größer, dramatischer und mörderischer muss die Wut im Inneren eines Amokläufers sein, der viele Menschen in der Öffentlichkeit mit in den Tod reißt.

Manche Amokläufe werden sogar, besonders in Amerika, im TV übertragen, was dem ganzen Geschehen und dem Amokläufer zusätzliche Aufmerksamkeit und Ruhm verleiht – also für solche Menschen noch ein Grund mehr ist, es zu tun! Ruhm, Aufmerksamkeit und Anerkennung sind das zweite große Thema bei einem Amoklauf. Neben der mörderischen Wut, die er nie ausdrücken durfte, sind genau das die Qualitäten, die dem Täter in seinem Leben immer versagt geblieben sind, und genau das versucht er abschließend durch ein – wenn auch letztes, aber immerhin in seinen Augen glorreiches öffentliches Auftreten – zu bekommen. Da kann der Täter ein letztes Mal aller Welt zeigen, was eigentlich in ihm steckt.

Deshalb empfiehlt die Wissenschaft zum Beispiel keine ausgeprägt öffentliche Trauerarbeit zu leisten. Denn jeder Amoklauf, der öffentlich wird, zieht immer mehrere weitere Amokläufe nach sich. Mehr als die Hälfte der Amokläufe findet innerhalb von zehn Tagen nach der Berichterstattung über einen anderen Amoklauf statt. In der Zeit nach dem Amoklauf von Winnenden im März 2009 wurden zum Beispiel in der Jugendpsychiatrie München zwanzig weitere Jugendliche behandelt, weil sie ähnliche Taten geplant hatten.

Mir passiert das nicht!

Kaum jemand fühlt sich tagtäglich bedroht; man glaubt, „mir passiert so etwas nicht“. Doch das ist nicht hilfreich. Wir müssen lernen, uns auch mit diesem wirklich sehr unangenehmen Thema und dieser absolut erschreckenden Dynamik sinnstiftend auseinanderzusetzen und auffällige Verhaltensweisen wie die Verherrlichung von Gewalt und Androhungen von Mord oder Selbstmord viel ernster zu nehmen.

Amokläufe kann man nur verhindern, indem man auffälliges Verhalten ernst nimmt. In den meisten Fällen gab es eine bis mehrere Personen, denen das Verhalten des späteren Amokläufers merkwürdig vorkam. Das Unbehagen war allerdings leider nicht stark genug, um es jemandem mitzuteilen, denn es liegt uns in der Regel erstmal fern, das Furchtbarste für möglich zu halten.

Hier sind wir alle aufgefordert, mehr unserem Bauchgefühl zu vertrauen. Wenn uns jemand Angst macht, wenn uns jemand grausige Phantasien erzählt und vielleicht sogar, wenn uns jemand wie bei den Kriegern aus Malaysia schon mit seinem Blick Angst macht.

Was ist dann zu tun?

In den Schulen gibt es Vertrauenslehrer – und in vielen Schulen gibt es inzwischen Konzepte, die bei bestimmten „Auffälligkeiten“ eine „Bedrohungsanalyse“ in Gang setzen, bei der Schule und Polizei zusammenarbeiten. Das Problem ist dabei natürlich immer, das man nicht weiß, wie viel Zeit noch bleibt bis zu dem Ereignis.

Umso wichtiger ist deswegen die Aufmerksamkeit des Einzelnen.

Lebendige Beziehungen – gesunde Aggression

Lebendige Beziehungen, die durch Aufmerksamkeit, interessiertes Zuhören, liebevolle Zugewandtheit und bodenständige, konsequente Grenzen geprägt sind, sind die beste Vorbeugung gegen die innere Vereinsamung der Seele.

Kinder, denen ihre Bedürfnisse und ihr Verhalten gespiegelt werden, bekommen ein gesundes Verhältnis zu sich selbst. Dazu gehören, auch wenn es den Eltern manchmal schwerfällt, gesunde und konsequente Grenzen. Eine der wichtigsten Qualitäten bei der Erziehung unserer Kinder ist das Zuhören. Kinder wünschen sich manchmal einfach nur gehört und gesehen zu werden, unterstützt zu werden, wo sie Hilfe brauchen, und Grenzen austesten zu dürfen, ohne dass die Eltern gleich „emotional in Ohnmacht“ fallen.

Ich erlebe oft beim Coaching mit den Pferden, wie schwer es meinen Klienten fällt, den Tieren gegenüber klar und eindeutig aufzutreten. Sie empfinden das oft schon als aggressiv. Das ist eine Fehldeutung unserer Zeit. Gesunde Aggression ist einfach nur – im wahrsten Sinne des Wortes – ein „vorwärts gerichteter Impuls“.

Wenn wir lernen, uns klar und deutlich auszudrücken, also zum Beispiel zuzuhören, wenn wir zuhören, nein zu sagen, wenn wir nein meinen, und ja zu sagen, wenn wir ja meinen, dann wird unsere ganze Kommunikation mit unserem Umfeld EIN-deutiger und unsere Kinder können sich voll und ganz auf uns verlassen und auf gesunde Art am Leben teilnehmen.

 

Dieser Artikel ist in freundlicher Zusammenarbeit mit Andre Richter von der Firma „Protectives“ entstanden, der das Thema mit seinem Fachwissen und seinen Erfahrungen abgerundet hat.

 


Seminar „Beziehungsschule mit Pferden“ am 15.10.2016, 10-17 Uhr

Seminar „Die Weisheit des Körpers“ am 5.11.2016, 10-17 Uhr.
Die Teilnehmer erforschen ihre selbstschädigenden Glaubenssätze und inneren Überzeugungen, die sie krank machen, und erarbeiten mit leichter Körperarbeit, Atemgewahrsein und innerer Achtsamkeit ihr neues Anliegen für ein gesundes Leben.

Info und Kontakt unter Tel.: 0172-3004511 oder info@anette-droege.de

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