Das Leben richtet sich meist nicht nach unserem Willen und unseren Wünschen, sondern präsentiert uns oft Situationen, die unseren bisherigen Erfahrungshorizont sprengen. Mit diesen Situationen müssen wir uns dann auseinandersetzen – ob wir wollen oder nicht. Eine ganz besondere Situation sind Psychosen. Sie kann für uns ein Horrorerlebnis sein, das uns aus unserer Lebens-Bahn wirft, oder eine wichtige Stufe in unserem persönlichen Reifungsprozess.

von Birgit Waßmann

Während psychotische Erkrankungen von Ärzten und Therapeuten durchweg kritisch beurteilt werden, herrscht bei den Betroffenen eine weitaus differenziertere Sichtweise vor. Eine Psychose kann einen Reifungsprozess in Gang setzen, der sich zwar sehr mühsam gestaltet, der aber einen Schlüssel liefert zum Verständnis der jeweiligen Lebenssituation und der die Sehnsucht nach wirklichen Inhalten und Werten im Leben stillt. Menschen mit Psychose-Erfahrungen empfehlen, sich mit dem Erleben in einer Weise auseinanderzusetzen, wie man es mit allen übrigen Erfahrungen auch tut, nämlich aus der Innenperspektive.

Die Menschen haben im Wesentlichen zwei Möglichkeiten, um zu lernen: entweder durch Erkenntnis oder durch Leid. Der Leidensdruck befördert die Psyche in einen Wandlungsprozess. Aus der erzwungenen Veränderung resultiert Selbsterkenntnis, die auf anderen Wegen anscheinend nicht möglich gewesen ist. Psychotische Erfahrungen können das Verständnis für das Sein in einer umfassenden Dimension erweitern. Die umgebende Realität erscheint in einem tieferen Zusammenhang. Eine Psychose kann auf eine problematische Lebensführung aufmerksam machen, die keinen Sinn mehr macht. Sie weist den Betroffenen darauf hin, dass er sich auf einem falschen Weg befindet, der ihn in eine Sackgasse führt. Die psychische Krise macht schmerzlich auf eine Diskrepanz zwischen intuitivem Verständnis und tatsächlichen Handlungen aufmerksam. Das Leiden hört erst dann auf, wenn derjenige einen konstruktiven Entwicklungsweg gewählt und sein Potential entfaltet hat.

Psychosen – Unverarbeitete, bedrohliche Inhalte

Durch eine psychische Überlastungssituation kann ein unkontrolliertes Ausbrechen aus dem rationalen Alltagsbewusstsein ausgelöst werden. Aus dem Unterbewusstsein steigen unverarbeitete, bedrohliche Inhalte herauf, während tiefgehende spirituelle Erfahrungen aus dem Überbewusstsein das Selbst überfordern. Die verschiedenen Erfahrungsebenen vermischen sich zu einem chaotischen Wirrwarr. Die Welt verwandelt sich in eine Welt der Symbole, der Zeichen und Bedeutungen, die auf etwas tiefer Liegendes verweisen. Falls es gelingt, einen roten Faden in dem Durcheinander zu erkennen und wieder zu einer klar abgegrenzten Struktur, einem handlungsfähigen Ich zu finden, erhält das Dasein einen neuen, tieferen Sinn durch einen metaphysischen Rahmen, welcher der Persönlichkeit Halt, Struktur und eine Richtung gibt.

Eine tiefergehende seelische Unzufriedenheit lässt viele Menschen den überwältigenden Wunsch verspüren, aus einer freudlosen Lebenssituation auszubrechen und von heute auf morgen alle Brücken hinter sich abzubrechen und sich einfach auf den Weg zu machen. Leider müssen die meisten Aussteiger letztendlich erkennen, dass sie sich ohne ein wirkliches Ziel und ohne eine Idee, wohin die Reise gehen soll, nur im Kreise drehen. Während manche Psychosen in ausweglose Situationen führen und ein Leben zerstören, können andere Verläufe das Leben bereichern. Jemand, der tieftraurig ist und im Innersten verwundet, kann durch eine psychotische Episode auf einen Weg der Heilung gebracht werden, bei dem sich ihm ein neuer Lebensweg eröffnet. Die feste Verankerung in bestimmten Werten und eine klare Vorstellung vom Leben wirken sich positiv auf die Verarbeitung der tiefen Verunsicherung aus.

Einblicke in die Vollkommenheit des Seins

Der Weg in eine Psychose kann wie ein Befreiungsschlag wirken. Waren zuvor die Bedürfnisse und Wünsche in den Hintergrund gedrängt und starke Gefühle unterdrückt, bricht sich der seit langem im Innern brodelnde Vulkan einen Weg nach außen. Der psychotische Zustand bahnt den unterdrückten Emotionen einen Weg und bietet die Chance, einer vormals erdrückenden Kontrolle zu entkommen. Nun geht es darum, die immense Energie, die in einer Psychose steckt, zu begreifen und in angemessene Bahnen zu lenken. Der innere Leidensdruck zwingt den betroffenen Menschen, der Erkundung des Innenlebens mehr Raum zu geben. Im Verlauf des Geschehens kann sich die Sichtweise grundsätzlich verändern und den Weg bereiten in ein anderes Leben, das der Persönlichkeit eher entspricht. Ein Bewusstseinsprozess kommt in Gang, in dem jemand seine persönliche Hölle, aber ebenso auch paradiesische Zustände kennen lernt, die ihm Einblicke in die Vollkommenheit des Seins bescheren. Hilfreich ist es, wenn die eigene Identität nicht ständig in Frage gestellt wird und man nicht einem Idealbild hinterherjagt, dem man nicht gerecht werden kann.

Ein fester Halt in der eigenen Identität und klare Werte im alltäglichen Dasein erleichtern es, mit der inneren Zerrissenheit umzugehen und einen erneuten Absturz in wahnhafte Realitätsverzerrungen zu verhindern. Die Psychiatrie-Erfahrung kann zudem neue Interessen erwecken, die in bislang nicht beachtete Tätigkeitsfelder führen, welche dem Selbst besser entsprechen. Da Unzufriedenheit mit einer Lebenssituation Stress auslöst, kann das Gefühl, am richtigen Ort angekommen zu sein, eine weitere Krise verhindern. Die psychotische Erfahrung sorgt dafür, bewusster mit krisenhaften Situationen im Leben umzugehen und das innere Gleichgewicht nicht zu verlieren. Mit wahnhaften Erlebnissen kann auch eine große Schaffenskraft einhergehen. Ein Kaleidoskop bunter Bilder regt die Psyche an; Texte fließen wie von selbst auf das Papier, das Musizieren gelingt ohne besondere Anstrengung; kreative Veranlagungen nehmen einen ungeahnten Aufschwung. Eine erhöhte Sensibilität stärkt das Erkennen des Falschen und Hässlichen; der Sinn für das „Gute, Wahre und Schöne“ verfeinert sich.

Vieldimensional und komplex

Die Erlebnisse psychotischer Menschen basieren keineswegs ausschließlich auf frühkindlichen Traumata und Mangelerfahrungen, wie dies häufig angenommen wird. Sie gehen zeitweilig mit positiven Wahrnehmungen und großen Glücksgefühlen einher, die das Bewusstsein in nie gekannte Höhen führen. Eine Erweiterung aller bis dahin gekannten Möglichkeiten des Sehens, Fühlens und der intuitiven Wahrnehmungen begleitet häufig eine Psychose. Die Botschaften sind vieldimensional, komplex und zugleich einfach zu verstehen. Psychotische Zustände können die Fähigkeit zur Empathie, das Verständnis für mitmenschliche Emotionen und Reaktionen aufgrund der persönlichen Kenntnis des krankhaften Geschehens verbessern. Der psychotische Wahn zeigt, welche widersprüchlichen Kräfte im Individuum stecken; Kräfte der Zerstörung und der Heilung, Destruktives und Konstruktives.

Die Psychose ist ein Umweg zum Selbst, der durch starke Ängste, Verzweiflung und Entfremdung hindurchführt. Manchmal wird sie zur Einbahnstraße, manchmal zu einer Straße, die zum Gipfel führt. Das intensive Erleben in der Psychose kann eine heilende Wirkung haben und eine Art Transformation auslösen. Vieles erscheint doppeldeutig und weist neben Fragen, welche die individuelle Vergangenheit betreffen, über die eigene begrenzte Persönlichkeit hinaus. Der Raum, in dem sich das Bewusstsein bewegt, ist weiter geworden und hat etwas von seiner einengenden Begrenztheit verloren. Die Erfahrungen innerhalb der außergewöhnlichen Zustände sind vielschichtig und beinhalten existentielle Themen, die sich mit den grundlegenden Fragen der Menschheit beschäftigen.

Spiritueller Kern

Viele Psychosen enthalten einen spirituellen Kern und können daher als spirituelle Krise verstanden werden, die einer psychotherapeutischen Verarbeitung zugänglich ist. Die psychotischen Erlebnisse werden bei weitem nicht durchweg als sinnlos und chaotisch empfunden, sondern die teils atemberaubenden Bilder von Weltuntergang, Höllenerfahrungen und Himmelsreisen wirken überaus bereichernd auf die Psyche. Die Betroffenen haben in psychotischen Zuständen den Eindruck, einen universalen Sinn zu erkennen. Sie erleben ein euphorisches Einssein mit der Welt, fühlen sich zum ersten Mal geborgen und sind von einem metaphysischen Wissen durchdrungen, das sie am liebsten aller Welt mitteilen wollen. In einer psychotischen Krise kommen die Menschen mit einer anderen Wirklichkeit, einem hinter der normalen Realität liegenden Bereich in Berührung.

Das Erleben kosmischer Dimensionen ermöglicht es dem Bewusstsein, das begrenzte Diesseits zu transzendieren und andere Daseinsbereiche wahrzunehmen. Die „normale“ Realität erscheint nicht mehr so festgefügt wie bisher, sondern wird als durchlässig und brüchig erkannt. Andere Wirklichkeiten geraten ins Blickfeld, denen ebenso viel Berechtigung zugemessen wird wie der Alltagswelt. Allerdings können nicht alle Menschen, die unter psychotischen Zuständen leiden, darin auch heilsame Aspekte erkennen. Die Erfahrungen sind mitunter äußerst bedrohlich und lösen starke Ängste aus, die in die Untiefen des Seins führen, aus denen eine Befreiung kaum möglich erscheint. Viele sind gefangen in inneren Dialogen, die sie ängstigen und keinen Sinn ergeben, oder fühlen sich verfolgt von finsteren Mächten, die ihren Lebensmut untergraben. Psychotischen Symptomen können tatsächlich geistige Verwirrung und tiefgehende Realitätsverzerrungen zugrunde liegen. Oft handelt es sich aber um eine vorübergehende Krise auf dem Weg der geistigen Erneuerung.

Wohin der Weg führt, hängt von der psychischen Stabilität des Betreffenden, seinen bisherigen Erfahrungen, Ängsten und Vorbehalten ab. Intuitive Einsichten spielen bei der Einordnung des Erlebten eine bedeutsame Rolle.

Psychosen – Wendepunkte in der Entwicklung

Der psychotische Mensch bringt auf seine Weise kollektive Ängste und Fragen nach dem Sinn des Daseins zum Ausdruck. Damit steht er einer Psychiatrie gegenüber, die viel zu häufig auf dem Boden einer engstirnigen Normalität reagiert und sich vor allem auf Medikamente verlässt. Nachdenkliche Autoren sprechen vom „Wahnsinn der Normalität“. Für Menschen in persönlichen Krisen stellt die Gesellschaft generell wenig Raum zur Verfügung. Jede Form von Desintegration erscheint negativ und bedrohlich. Als „ich-schwach“ eingestufte Menschen werden stigmatisiert und ausgegrenzt, da sie den Anforderungen der Realität nicht zu entsprechen scheinen. Nur gering ist die Bereitschaft in der Allgemeinheit, die Herausforderung und den Veränderungsdruck, der von Erfahrungen mit dem Unbekannten ausgeht, anzunehmen. Psychosen können als Prüfungen aufgefasst werden, die dem Individuum zu mehr Selbsterkenntnis verhelfen. Oftmals zeigt sich in psychotischen Zuständen klarer, als dies im Alltag möglich ist, wer man im Grunde seiner Seele ist.

Diese Einsicht kann einen Wendepunkt in der Entwicklung einleiten. Durch eine veränderte Betrachtungsweise, die in Psychosen einen Sinn zu erkennen sucht, kann sich vieles im Leben zum Positiven wenden. Eine dieser Sinnfindungen mag für manche darin liegen, sich den Zugang zur Spiritualität zu wahren. Jede Psychose geht vorüber. Wenn ein Betroffener die Kraft aufbringt, sie anzuschauen und zu verarbeiten, kann daraus eine tiefere Verankerung in einem sinnvollen Leben entstehen. Der Umweg über Psychosen kann letztlich eine Chance bieten, sich selbst besser kennenzulernen und zu einem umfassenderen Menschenbild zu gelangen.

4 Responses

  1. Darius

    Noch zu meinem Kommentar . Habe auch den Teufel gespürt ,
    Die Sünde , wie die zeit stehen bleibt aber nur meine zeit
    Die Zeit von meiner Freundin lief weiter . Ich befand mich in zwei Zeiten .
    Was hat die Psychose bei mir ausgelöst ? Tiefe Depression in die mich
    Jemand gestürzt hat .

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  2. Darius

    Ich habe 14 Jahre eine voll spirituelle Psychose gehabt . 11 Jahre da von
    Habe ich das Gefühl der Gott gewesen zu sein , ein tolles Gefühl .
    Ich habe Licht gesehen , Geister gespürt . Licht zu sehen das ist der
    Höchste Punkt der Manie . Die die Licht gesehen haben wissen wovon
    ich spreche .

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  3. Lydia
    Meine Erfahrung

    Die Realität sieht oft anders aus und in der akutpsychiatrie wird meist medikamentös behandelt . Ich habe letztes Jahr 3-6 Monate mit erstmalig retrauma /Psychose zu Hause verbracht und war nicht mehr Alltagsfähig . Meine Kids bekommen seither selber Therapien , die Zeit war extremst für die ganze Familie doch ich hab es ohne Medis ausgestanden . Nun läuft em Rente u ich habe Pflegegrad 2. Definitiv kamen bei mir Traumata hoch und es war ein extremer Wechsel Tag u Nacht von angst /Panik bishin zu mehreren stimmen hören etc. Euphorie kam leider nicht sooft vor. Ich lebe nun wieder und neue Anteile sind integriert doch in Zukunft würde ich bei den ersten Anzeichen starke neuroleptikas nehmen oder in die akutpsychiatrie gehen . Meine Kinder waren oft verstört 😟 und das kann ich denen nicht erneut antun .
    Von Einer intensiven Reflexion meines Innenleben wurde mir von mehreren traumatherapeuten u Psychiaterin abgeraten , um keine trigger zu aktivieren .

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  4. Monika
    Monika Müller

    Dies ist wirklich ein toller Artikel und ich fühle mich in meinen Ansichten über Psychosen bestätigt und erweitert! Eine Freundin macht dies gerade durch, sie sagt sie befände sich gerade im Fegefeuer und es gäbe kein Ausweg, sie würde bis in alle Ewigkeit gequält und gefoltert werden. Schön wäre ein Platz wo sie diesen Prozess, in Begleitung mit solchem Wissen wie hier, finden könnte. Ich bin dankbar für jeden Hinweis 🙂

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